Leben und schreiben im Café: Münchner Kaffeehauskultur von der Bohème bis heute | #LiterarischesMünchen

Kaffeegedeck, Tablett mit Kaffeekanne und Milchkännchen und einer Porzellantasse aus Ausstellung #LiterarischeMünchen, Münchner Kaffeehauskultur

Zwischen Bohème und Gegenwart entfalten Münchens Kaffeehäuser eine besondere Magie – als Orte des Lebens und Schreibens, der Freiheit und Inspiration. Die Ausstellung «Von der Bohème zum Exil» zeigt, wie Cafés einst Künstler*innen anzogen, ihnen aber auch klare Grenzen setzten. Eine Spurensuche nach weiblichen Stimmen, kreativer Lebensenergie und der Bedeutung der Kaffeehauskultur bis heute.

Das Leben ist eine Begleiterscheinung zum Caféhaus.1

Erich Mühsam

Zwischen Bohème und Gegenwart: Leben und Schreiben in Münchens Cafés

Café Tambosi, Café Stefanie, Café Luitpold, Alter Simpl, Schelling-Salon: Zur Geschichte des literarischen Münchens um 1900 gehören diese Kaffeehäuser und Kneipen unbedingt dazu.2 So findet sich in der Ausstellung «Von der Bohème zum Exil»ein original Kaffeegedeck aus dem Schelling-Salon in der Maxvorstadt. Das bis heute existierende Lokal ist seit 1872 in Familienbesitz. 1911 im Stil eines Wiener Café-Restaurants mit Billard neu eingerichtet, bildete es einen zentralen Treffpunkt für Intellektuelle und Kreative. Bemerkenswert ist das Who‘s who der Gäste auf der Website des Schelling-Salons: Von Bertolt Brecht über Rainer Maria Rilke, Alfred Pongratz, Joachim Ringelnatz bis hin zu Theodor Heuss und Franz Josef Strauß sind hier Männer gelistet.

Galt Erich Mühsams oben zitiertes Bonmot nur für Literaten (und Politiker), frage ich mich, nicht aber für Literatinnen?

Das gleichberechtigte Café für alle?

Gunna Wendt lässt mich in ihrem literarischen Spaziergang zu Münchens berühmtesten Kaffee- und Wirtshäuser ebenfalls aufmerken:

Die Boheme bevorzugt Treffpunkte außerhalb der eigenen vier Wände, in denen man sich ‹gleichberechtigt› und unverabredet begegnen kann – Flüchtigkeit und Intensität bilden im Kaffeehaus kein Gegensatzpaar. Alle sind dort Gäste, keiner nimmt die Rolle des Gastgebers ein.3

Sind bei «gleichberechtigt» und «alle» Frauen mitgedacht?

Direkt neben dem Geschirr ist in der Ausstellungsvitrine ein Foto des Café Luitpold zu sehen. Das 1888 in der Brienner Straße eröffnete Palastcafè war ein Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens in München, steht im Begleittext. Neben Ludwig Thoma, Heinrich Mann, Frank Wedekind und weiteren Stammgästen wird Franziska zu Reventlow genannt – immerhin.

Illustration vom Café Luitpold von 1888 in Ausstellung #LiterarischeMünchen.
Café-Restaurant Luitpold 1888. Sammlung Café Luitpold. Foto aus der Ausstellung: Tina Rausch. #LiterarischesMuenchen

Die «Schwabinger Gräfin» war eine beflissene Kaffeehausbesucherin, betont auch Gunna Wendt. Speziell das Café Luitpold sei eine «wichtige Station ihrer erotischen Streifzüge» gewesen.4 Ihre Zeitgenossin Lena Christ sei hingegen keine Kaffeehausgängerin gewesen, wohl aber Emmy Hennings.

Franziska zu Reventlow an ihrem Schreibtisch in Ascona. Münchner Kaffeehauskultur, #LiterarischesMünchen
Mal nicht im Café: Franziska zu Reventlow an einem Schreibtisch in Ascona, 1913. Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, FR F 34 #LiterarischesMünchen

Das Leben im Café aus weiblicher Perspektive

Eine Erinnerungslücke hinsichtlich der Besucherinnen Anfang des 20. Jahrhunderts nahmen auch die heutigen Betreiber*innen des Café Luitpold und der angeschlossenen Sammlung wahr:

Liest man vom historischen Luitpoldblock und dem Café Luitpold sind es die Schriftsteller, Künstler und Unternehmer, um die es geht.5

So setzte Charlotte Meinardus-Stelzer 2022 mit der Ausstellung «Zeit für Frauen – Bedeutende Protagonistinnen im Luitpoldblock»ein besonderes Denkmal den

‹Wassermadln› und Kaffeeköchinnen des historischen Cafés, als auch Künstlerinnen und Schriftstellerinnen, die von der Atmosphäre und den Menschen im Café inspiriert wurden.6

Im Rahmenprogramm lud Laura Mokrohs zum Spaziergang durch die Maxvorstadt. Konzipiert hatte sie diesen für die mit Sylvia Schütz kuratierte Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme in der Monacensia. Hier hätten sie auch nach damaligen Netzwerken und Treffpunkten der Frauen gefragt, so Mokrohs, «und da führt kein Weg an den Cafés vorbei». Statt sich dabei auf Beschreibungen von Männern über Begegnungen mit Künstlerinnen zu stützen, suchten sie konkret nach Texten über das Leben im Café aus weiblicher Perspektive. Eine zentrale Rolle spiele das Kaffeehaus in Emmy Hennings Roman «Das Brandmal»: als Zufluchtsort für die Protagonistin Dagny, deren Freiheit mit dem Preis von Hunger, Obdachlosigkeit und Prostitution bezahlt wird.

Im Café kann jeder er selbst sein. Denn dieses Café stellt eine Art Rettungs- oder Übergangsstation dar. Man erholt sich hier.

Emmy Hennings

Hennings beziehe sich in ihrem mit autobiografischen Elementen versehenen Text auf kein konkretes Café, so Mokrohs, doch das Café Stefanie war für viele so ein Zufluchtsort.

Es gibt noch eine andere schöne Anekdote zu Emmy Hennings: Als sie zur Zeit des Beginns des Ersten Weltkriegs in eine Schlägerei zwischen Patrioten und Kriegsgegnern geriet, versorgte Else Lasker-Schüler im Café Stefanie ihr blaues Auge und spendierte einen Apfelkuchen.

Laura Mokrohs

Auch in den Texten weiterer Schriftstellerinnen der Bohème tauche das Café Stefanie als Ort des künstlerischen Austausches auf. So beschreibt Margarete Beutler in der Erzählung «Die Schachpartie. Eine Schwabinger Legende», wie sie dort beim Schachspielen sitzt und beobachtet.

Der Cafébesuch als Selbstermächtigung

Dennoch: Reventlow, Hennings und Beutler bildeten mit ihrer selbstbewussten Präsenz in Cafés eher Ausnahmen. Und setzten sich über damalige Gepflogenheiten für und Erwartungen an Frauen hinweg. Den Zusammenhang von Caféhauskultur und Selbstermächtigung der Frauen beschreibt Annabelle Hirsch in ihrem Gastbeitrag für das Online-Magazin mon_boheme:

Immerhin war es Frauen noch wenige Jahrzehnte zuvor strikt untersagt gewesen, Cafés, Kneipen und ähnlich unzüchtige Orte zu besuchen. Jene, die doch hineinkamen, wurden als Fremdkörper im ‹männlichen Raum› wahrgenommen und dementsprechend behandelt. Man ging davon aus, dass sie zum Vergnügen der Herren, nicht um ihrer selbst willen da waren, und interpretierte ihre Anwesenheit als Zeichen ihrer Verdorbenheit. Die Logik dahinter war unschlagbar: Eine anständige Frau geht nicht ins Café, sondern sitzt zu Hause mit den Kindern.

Kaffeegedeck, Tablett mit Kaffeekanne und Milchkännchen und einer Porzellantasse aus Ausstellung #LiterarischeMünchen, Münchner Kaffeehauskultur
Historisches Kaffeegedeck aus dem Schelling-Salon. Münchner Stadtbibliothek/Monacensia. Foto aus der Ausstellung: Tina Rausch. #LiterarischesMünchen

Das Café als Ort der zentrierten Lebensenergie

Wo schreiben Münchner Autor*innen heute, im digitalen Zeitalter? Auf diese Frage in antworteten Fabienne Imlinger und Anna Job im Beitrag Schreibheimaten und Geheimfächer zur Blogreihe #LiterarischesMünchen mit Fotos ihrer Schreibtische. Lara Wüster bevorzugt das Schreiben außer Haus:

Ich schreibe in Cafés, weil ich das Äußere brauche, um innen ruhig zu werden. Weil ich es mag, unter Menschen zu sein, während ich in meinen Geschichten versinke. Ich mag es, mittendrin zu sein, und ziehe als Schreibende unendlich viel aus diesem Leben um mich herum. Ich brauche das Vibrieren einer Stadt, um Geschichten richtig greifen zu können. Für mich ist ein Café genau das: zentrierte Lebensenergie.

Lara Wüster schreibend im Café bei Kaffee und Kuchen. Münchner Kaffeehauskultur, #LiterarischesMuenchen
Zentrierte Lebensenergie: Lara Wüster in ihrem Lieblingscafé Nummer zwei. © Privat. Münchner Kaffeehauskultur, #LiterarischesMünchen

Cafés brächten ihr manchmal mehr Privatsphäre, als sie zu Hause habe, sagt die Redaktionsleiterin des Turtle Magazin(e). Ihr bevorzugter Place to be ist das Café Kosmos nahe des Hauptbahnhofs. Eines der wenigen noch bezahlbaren Cafés in München, so Wüster.

Mittags ist dort wenig los und das große Schaufenster meist frei. Über die anfängliche Nervosität, ob der Kellner etwas sagen wird, wenn ich dort drei Stunden in Socken mit einem Kaffee herumfläze, sind wir hinweg. Ich liebe diese Ecke, weil ich die belebte Straße beobachten kann – und die eintretenden Menschen. Ich mag, wie zum Abend hin mehr Barbesucher*innen kommen. Einmal saßen drei Typen mit mir auf meiner Fensterbank und tranken ein Bier nach dem anderen. Ich habe trotzdem geschrieben. Vielleicht gerade deswegen.

Lara Wüster

Auch Thomas Willmann schätzt das Café Kosmos als «inspirierenden, angenehmen Ort». Für seinen mit dem Tukan-Preis 2023 ausgezeichneten Roman «Der eiserne Marquis» war es «so was wie mein Home office away from home». Das Schreiben im Café gebe ihm eine Struktur des Tagesablaufs, «Bürozeiten» sozusagen, und garantiere, dass er sich auch regelmäßig ans Schreiben setze.

Zudem ist der Weg ins Café und dort die Begegnung mit (seien es auch nur) den Barleuten die Garantie von einem Minimum an menschlichem Kontakt pro Arbeitstag. Das Personal und das teils aus kreativen Metiers kommende Stammpublikum sind sympathisch. Und es ist eine Seltenheit, wenn nicht gar ein Unikum in München: ein Café im Geist der Wiener Caféhaus-Kultur, wo man mit einem (sehr wohlfeilen) Kaffee so lange hocken kann, wie man mag, und nie gedrängt wird, mehr zu konsumieren.

Thomas Willmann
Porträt von Thomas Willmann vor der Wand des Café Kosmos. Münchner Kaffeehauskultur, #LiterarischesMuenchen
Thomas Willmann ohne Kaffee und Stift vor der Wand des Café Kosmos. © Frese München. Münchner Kaffeehauskultur, #LiterarischesMuenchen

Ein Café für die Kreativen der 1990er-Jahre

Was Wüster und Willmann übers Café Kosmos sagen, erinnert mich an ein anderes Café kurz vor der Jahrtausendwende: Das Baader Café wirkte in den 1990er-Jahren wie ein Magnet auf die kreative Szene. Rainald Goetz, Christian Kracht, Georg M. Oswald, Alexa Hennig von Lange und Elke Naters tranken hier Kaffee. Thomas Meinecke und Michaela Mélian trafen sich mit ihrer Band FSK, der Maler Florian Süssmayr und der heutige Münchner-Volkstheater-Intendant Christian Stückl zählten zum Stammpublikum.

Als ich Anfang der 1990er-Jahre dort vor und hinter der Bar arbeitete, war mir diese geballte kreative Energie anfangs nicht bewusst. Zum Glück: Als zarter Gastro-Rookie hätte ich mich dann eher nicht beworben – und eine wichtige Weiche für mein Mitwirken in der Münchner Literaturszene verpasst. Doch das ist eine andere Café-Geschichte.

Das Baader Café ist eine Münchner Institution! Ein bisserl eine Zeitkapsel, so wunderbar unverändert seit Jahrzehnten und trotzdem lebendig. Das bleibt nicht aus Nostalgie oder Sturheit so, wie es ist, sondern weil es einfach funktioniert, und es keinen Grund gibt, es zu ändern. Es soll bitte noch lange so bleiben.

Thomas Willmann
Tina Rausch an Theke des Baader Cafés. Münchner Kaffeehauskultur #LiterarischeMuenchen
Tina Rausch im Herbst 1992 hinter der (Kaffee-)Bar des Baader Cafés. © Privat. Münchner Kaffeehauskultur, #LiterarischesMünchen

Lesetipp zur Kaffeehauskultur im MON_Mag:

Veranstaltungstipp «Faszination Thomas Mann» – 6. Juni in der Monacensia

  1. Zit. nach Thomas Anlauf: Auferstanden aus dem Kaffeekränzchen, 19.12.2011, www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-altstadt-cafe-luitpold-kaffeehaus-1.997074 ↩︎
  2. Vgl. z. B. Gunna Wendt, «Münchner Boheme im Kaffeehaus», www.literaturportal-bayern.de/images/lpbplaces/2015/Spaziergang_Kaffeehaus_Printversion.pdf; Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek: «Münchner Kaffeehaustradition», www.literaturportal-bayern.de/themen?task=lpbtheme.default&id=172&highlight=WyJrYWZmZWVoYXVzIl0= ↩︎
  3. www.literaturportal-bayern.de/images/lpbplaces/2015/Spaziergang_Kaffeehaus_Printversion.pdf ↩︎
  4. Vgl. Gunna Wendt in FN 2. ↩︎
  5. Flyer zur Ausstellung «Zeit für Frauen – Bedeutende Protagonistinnen im Luitpoldblock», 15.10.2022–28.
    2.2023, www.luitpoldblock.de/wp-content/uploads/2022/08/Zeit-für-Frauen_Rahmenprogramm.pdf ↩︎
  6. Ebd. ↩︎

Autor*innen-Info

Profilbild Tina Rausch

Dies ist ein Gastbeitrag von Tina Rausch

Tina Rausch, 1970 in München geboren, studierte Neuere Deutsche Literatur und Erziehungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität. Ihre interdisziplinäre Magisterarbeit schrieb sie über die pädagogische Rezeption der bildungskritischen Schülerromane um die Jahrhundertwende am besonderen Beispiel von Thomas Manns „Buddenbrooks“ und Robert Musils „Törleß“. Seit ihrem Abschluss ist sie als freie Redakteurin, Lektorin und Literaturvermittlerin tätig. Sie schreibt für verschiedene Medien, organisiert und moderiert Veranstaltungen, erstellt Unterrichtsmaterialien und publizierte mit Ulrich Kirstein die „Allgemeinbildung deutsche Literatur für Dummies“ (Wiley-VCH). Die von ihr konzipierten und geleiteten literarischen Workshops und Fortbildungen für Jugendliche und Erwachsene fokussieren unter anderem Schnittstellen zur Kunst sowie verschiedene Präsentationsformen. www.tina-rausch.de

Foto: © privat

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