Lea Singer: Andrea Manga Bell und „Die Heilige des Trinkers“ – Herzrasen im Archiv | #FemaleHeritage

Lea Singer und ihr neuer Roman: Die Heilige des Trinkers. Joseph Roths vergessene Liebe. Recherche im Literaturarchiv zu Andrea Manga Bell, Nachlass Hermann Kesten. #FemaleHeritage, Foto: Irene Zander / Buchcover Kampa Verlag

Lea Singer schreibt über ihre Recherchen zu Andrea Manga Bell, der Protagonistin ihres neuen Romans „Die Heilige des Trinkers“. Attentate, Antisemitismus damals und heute, Drama in Maschinenschrift mit Herzklopfen im Archiv – das sind die Stichworte. Entdeckt Andrea Manga Bell, die viel mehr war als „nur“ die Frau des Schriftstellers Joseph Roth.

Lea Singer und ihr neuer Roman: Die Heilige des Trinkers. Joseph Roths vergessene Liebe. Recherche im Literaturarchiv zu Andrea Manga Bell, Nachlass Hermann Kesten. #FemaleHeritage, Foto: Irene Zander / Buchcover Kampa Verlag
Lea Singer und ihr neuer Roman: Die Heilige des Trinkers. Joseph Roths vergessene Liebe. Recherche im Literaturarchiv zu Andrea Manga Bell, Nachlass Hermann Kesten. #FemaleHeritage, Foto: Irene Zandel / Buchcover Kampa Verlag

Lea Singer „Die Heilige des Trinkers“ – Spurensuche nach Andrea Manga Bell

Es geschah unerwartet. Mit Überraschungen hatte ich nicht mehr gerechnet. So lange war ich schon mit ihr unterwegs. Jahre, Jahrzehnte lang, anfangs mit Unterbrechungen, am Ende pausenlos. Jede ihrer Wohnungen in Hamburg kannte ich, jede Kneipe in Berlin, in der sie bis in den frühen Morgen gezecht hatte. Ich kannte auch jedes Hotel, jedes Café, jede Bar in Paris, in denen sie mit ihm unterwegs gewesen war. Mit dem Mann, durch den ich ihr mit neunzehn zum ersten Mal begegnet war.

Seit ich seinen „Radetzkymarsch“ gelesen hatte, war ich Joseph Roth verfallen wie nur wenigen Schriftstellern. Die einzige fundierte Biographie, die es damals über ihn gab, hatte der jüdische US-Amerikaner David Bronsen verfasst. Schon 1974 war sie erschienen und hatte für Aufsehen gesorgt, weltweit. Manche hatten gemosert, Bronsen, Professor für Germanistik an der Universität von St. Louis, habe keinerlei schriftstellerisches Talent.

Für die Forschung war wichtiger, dass Bronsen besessen war von Roth, dem größten Lügner unter den Großen der Literatur. Wahr, so wahr, dass es wehtat, war alles, was Roth schrieb. Erfunden war das meiste, was er über sein eigenes Dasein verbreitete. Auch über sie, Andrea Manga Bell, die Frau, hinter der ich her war. Mit keiner hatte er länger zusammengelebt.

Um sich durch das Dickicht von Unwahrheiten und Halbwahrheiten zu schlagen, hatte Bronsen sich in den 1960er Jahren auf den Weg nach Europa gemacht. Zu Zeitzeugen Roths. Er hatte erstaunlich viele aufgespürt, katholische Geistliche, Ärzte und Schriftstellerkollegen und -kolleginnen, eine französische Wirtin, einen Judaisten aus Litauen, einen Schulfreund aus Galizien, einen Karikaturisten aus Wien, die Übersetzerin in Paris, Mäzeninnen, Verlagsleute, Journalisten, Monarchisten, Kommunisten.

Bronsen benutzte kein Tonband, er schrieb alles Erfragte von Hand auf, teils in Kurzschrift, und tippte das dann ab, zweifarbig, rot und schwarz, deutsch, französisch, englisch. Handschriftlich kommentierte er das noch. Das gesamte Typoskript ruht im Joseph Roth Archiv Wien, nicht alles war in seine Biographie eingegangen. Mit Andrea Manga Bell hatte Bronsen ausführlich gesprochen. Überfallartig hatte sie sich 1929 in Roth und Roth sich in sie verliebt. 1936 trennten sie sich, ohne voneinander loszukommen. Noch kurz vor seinem Tod saß sie an seinem Stammtisch und wurde dort porträtiert.

Andrea Manga Bell – Von Angsttrieben, Antisemiten und Erich Maria Remarque

Andrea Manga Bell. Der Name hatte sich festgesetzt in meinem Hirn. Er hatte dort Wurzeln geschlagen und war unregelmäßig gedüngt worden. 2016 wieder. Da erschien bei Berenberg ein Buch von Christian Bommarius: Der gute Deutsche: Die Ermordung Manga Bells in Kamerun 1914. Ein Bericht über das Schicksal von Rudolf Manga Bell, Andreas Schwiegervater, der 1914 erhängt wurde. Erhängt von den deutschen Kolonialherren, in dem Land, dessen Fürst er war und nicht sein durfte. Fünf Jahre, bevor sie mit 17 Jahren den 22-jährigen Sohn des Mordopfers heiratete.

Je näher ich Andrea Manga Bell kam, desto weniger war sie nur die Frau des Lebens und Sterbens von Joseph Roth. Schöne N* wurde sie in Berlin genannt und sie war derartig schön, dass die Menschen auf der Straße stehenblieben. Aber sie war viel mehr. Witzig, belesen, frech, kämpferisch und risikobereit. Das bewies sie, als sie

  • mit Alexander Manga Bell nach Paris zog, wo er zwei Kinder zeugte und seine Frau dann sitzen ließ.
  • sich als Alleinerziehende ohne Alimente in Berlin einen Job suchte, die Kinder bei der verwitweten Mutter in Hamburg parkte, und sich durchschlug.
  • sich mit Joseph Roth einließ, einem schweren Alkoholiker.
  • am 30. Januar 1933 mit ihm und den beiden Kindern in den Nachtzug nach Paris stieg.

Andrea Manga Bell wurzelte weiter in meinem Kopf. Vor drei Jahren schossen aus diesem Gewächs Angsttriebe, wie das bei Bäumen heißt. Auch wenn die keine Angst empfinden. Da war das Anschwellen der AfD, das alle Lügen strafte, die sagten: Die werden nicht gefährlich. Genauso war 1929, 1930 im Berlin meines Liebespaares über die NSDAP geredet worden. Da waren die Sprüche der neuen Antisemiten, sie hörten sich genauso an wie diejenigen, die sich Joseph Roth hatte anhören müssen. Da waren die Sprüche der neuen Rassisten, die sich genauso anhörten wie das, was Andrea Manga Bell, Tochter einer Hamburgerin und eines Afrokubaners, sich hatte anhören müssen.

Ich hatte bereits ein Rundfunkinterview mit meiner Heldin und einen Filmausschnitt mit ihr entdeckt, die selbst der Joseph Roth-Gesellschaft unbekannt waren, sowie unveröffentlichte Briefe.  Ich hatte herausgefunden, dass mein Liebespaar bei Erich Maria Remarque in Ascona gewesen war. Bei ihm, durch „Im Westen nichts Neues“ zum Bestsellerstar, Millionär und Hassobjekt der Deutschen geworden, was selbst dem famosen Remarque-Archiv in Osnabrück neu war.

Buchcover: Lea Singer, Die Heilige des Trinkers, erschienen im Kampa Verlag, ISBN 978 3 311 10050 8
Buchcover: Lea Singer, Die Heilige des Trinkers, erschienen im Kampa Verlag, ISBN 978 3 311 10050 8

Herzrasen im Archiv der Monacensia: Nachlass Hermann Kesten und Andrea Manga Bell

Der Nachlass von Hermann Kesten in der Monacensia versprach nichts Prickelndes. Kesten, ebenfalls Jude, war Roths Lektor gewesen, hatte sich selbst als Freund Roths bezeichnet. Er hatte in der Nähe meines Liebespaars in Berlin, in Paris und in Nizza gelebt, aber war Andrea Manga Bell nie nah gewesen. Sie hatte ihn als Anpasser empfunden. Nach dem Krieg hatte Kesten dennoch die Verbindung gesucht, er sah die Chance, durch Roth zu Ruhm zu gelangen. Zwei Jahre nach Kriegsende, am 25. September 1947 schrieb Hermann Kesten aus den USA an Andrea Manga Bell in Paris:

Ester Rikwin hat uns schon von Ihnen erzählt, und dass es Ihnen gut geht, nach all den Greueln [sic] des entsetzlichen Krieges, und dass sie schön wie immer aussehn [sic], und so witzig und lustig wie einst sind – …

Monacensia, Nachlass Kesten, Brief, in dem er sich für die Hochzeitsanzeige von Andrea Manga Bells Tochter bedankt; Signatur HK B 2007

Dann auf einmal dieser Fund.

Das Drama braucht keine großen Worte und keinen hohen Ton. Es trifft oft am schlimmsten, wenn es sich so nüchtern liest wie eine Gebrauchsanweisung. Ein Drama in Maschinenschrift, fehlerlos.

Eidesstattliche Versicherung. Ich die Unterzeichnete,
Andrea MANGA-BELL, geb. Berroa, geboren am 27. Januar 1902 in Hamburg, wohnhaft 86, rue Olivier de Serres, Paris 150[…] Ich bin farbig. Mein Vater war Cubaner […] brauner Hautfarbe […]. Meine Mutter war Arierin, in Hamburg gebürtig. Ich habe einen ausgesprochenen Negertyp, d.h. gewelltes Haar, dunkle Hautfarbe, dicke Lippen. So war ich in Deutschland schon äußerlich als zu einer niederen Rasse gehörend gekennzeichnet. Ich wurde von Nazilümmeln nur wegen meiner äußeren Escheinung in den Jahren vor der Machtübernahme Hitlers häufig in unflätigster Weise beschimpft. Meine Kinder, die im Januar [1933] elf und zwölf Jahre alt waren, waren wegen ihrer Hautfarbe so gefährdet, dass ich sie nicht allein auf die Strasse gehen ließ, weil ich befürchtete, dass sie von größeren Kindern oder von jungen Naziburschen misshandelt würden. […] Joseph Roth erhielt in den letzten Monaten vor der Machtergreifung Hitlers wiederholt Drohbriefe, in denen man nicht nur ihn beschimpfte, sondern auch ich mit der Bezeichnung ´Negerhure` bedroht wurde.

Dann schildert sie zwei Attentatsversuche in Berlin, detailgenau. Der eine Mordanschlag galt ihr und Roth und fand in ihrer Lieblingskneipe Mampe statt, der andere dem Liebespaar mit den Kindern im Taxi Mitte Januar 1933. Drei Seiten engzeiliger Report des Schreckens, nüchtern formuliert. Noch nie hatte irgendwer das zitiert oder auch nur erwähnt.
Warum sie es aufschrieb? Auch das las ich mit weißen Baumwollhandschuhen an einem Tag von begnadeter Harmlosigkeit in der Monacensia.

In einem Begleitbrief, datiert auf den 5. Januar 1964, erklärte Andrea Manga Bell, warum sie dringend Kestens Hilfe bedurfte.

Leider sehr! eilig! hatte sie an den oberen Rand gekritzelt.
Seit zehn Jahren arbeite ich bei der URO* (also seit 1954); nun hat man mir seit 5 Jahren eingeredet, ich möchte einen Berufsschaden anmelden, der abgelehnt wurde, unter der Begründung, ich sei Roth ‚aus freien Stücken gefolgt`, ohne selbst einer Verfolgung ausgesetzt gewesen zu sein.
Darf ich mir erlauben, Sie zu bitten, im Sinne der seltsam abgefassten eidesstattlichen Versicherung, die ich beifüge, zu erklären, dass ich selbst rassisch und politisch verfolgt war. (…) Ich habe lange gezögert, weil ich nicht gern belästige.
*URO= United Restitution Organisation

Monacensia, Nachlass Hermann Kesten, Signatur: HK B 749.

Drei Wochen später 1964 verfasste Kesten das, was sie brauchte.

Eidesstattliche Erklärung. New York 27. Januar 1964
Joseph Roth hat bereits als prominenter Korrespondent der Frankfurter Zeitung, der Vorläufer der F.A.Z., und in seinen anderen Schriften aufs Schärfste Stellung gegen Hitler und den Nationalsozialismus genommen und wurde aufs Schärfste von der nationalsozialistischen Presse angegriffen. Frau Andrea Manga Bell war schon allein durch ihre Abstammung im Dritten Reich und zuvor an Leib und Leben gefährdet und lief Todesgefahr mit dem Schriftsteller Joseph Roth, und sie und ihre Kinder hätten, wie Joseph Roth selber, das Dritte Reich nicht überlebt, wenn sie nicht ins Exil gegangen wären.

Andrea Manga Bell war krank, hatte Herzprobleme und eine Hernie in der Speiseröhre. Sie brauchte dringend Geld.  Was sie verdiente, hatte sie für ihre Kinder gebraucht, dann für den Prozess gegen ihren Mann, der seinen Sohn erschossen hatte, aber als französischer Deputierter freigesprochen worden war. Notwehr, hieß es. Bei einem Schuss in den Rücken. Sie hatte gebraucht, was sie verdiente, für Menschen, die in Paris ihre Hilfe suchten, manchmal Schwarze bei einer Schwarzen, wie James Baldwin. Für ihn verkaufte sie eine Versicherung.

Das Verhältnis zwischen Andrea Manga Bell und Kesten zerbrach. Als er jenen Dokumentationsfilm für den WDR über Roth drehte, von dem Andrea Manga Bell zehn von fünfzig Minuten füllte, hatte er ihr 250 Mark Honorar versprochen. Darauf wartete sie vergeblich. Er selbst, schrieb Kesten, sei dafür leider nicht zuständig.

Herzrasen im Archiv von Gestern. Das beschleunigt den Puls. Das trieb und treibt mich im Heute auf die Barrikaden. Gegen alle, die morgen wieder Joseph Roth und Andrea Manga Bell zusammenschlagen würden.

Lesetipp zu Herman Kesten:

Autor*innen-Info

Profilbild Lea Singer

Dies ist ein Gastbeitrag von Lea Singer

Lea Singer ist promovierte Kunsthistorikerin, hat außerdem Deutsche Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft studiert. Sie schreibt Romane, die oft auf neu entdeckten Archivfunden beruhen, fast immer auf historischen Grundlagen. Sie greift das Thema aber nur seiner Aktualität wegen auf. Die FAZ-Rezensentin Christiane Pöhlmann schrieb zu Lea Singer letztem Roman, in dem es um Mobbing, Gewalt gegen Frauen und weibliche Resilienz im Venedig der Renaissance geht: „Man muss nicht die Gegenwart beschreiben, um von ihr zu erzählen.“ Foto: © Irene Zandel

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