Lisa Jeschke im Interview: Intensive Arbeit mit Sprache, politische Stellungnahme durch Lyrik, Klaustrophobisches, Performance im Schreibprozess mitdenken, obsessives Wiederholen und Wissenschaftsbetrieb – taucht mit uns ein in die Gedanken- und Gedichtewelt von Lisa Jeschke – fünfte Folge der #AtelierMonaco-Szene*.
Lisa Jeschke: Lyrik, die Liebe zur Theorie und das sehr genaue Hinsehen, wenn es um Sprache geht
2016 von Großbritannien nach München zurückgekehrt, gehört Lisa Jeschke zur Lyrik-Szene der Stadt. Für Lisa Jeschke liegen Lyrik machen und Lyrik performen eng beieinander, sind Tätigkeiten, die ineinander übergehen. Als wissenschaftliche Assistenz im Lyrik Kabinett ist Lisa Jeschke umgeben von Lyrik, Lyrik-Bänden, Lyrik-Theorien … und immer wieder vielen Lyrik-Schaffenden. Das macht was. Darüber und über einiges mehr spricht Lisa Jeschke mit Katrin Diehl.
Lisa, du bist in einigen, auch recht unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern unterwegs. Was sie verbindet, ist Literatur, ist Lyrik. Wie würdest du dich selbst, deinen Beruf betreffend, bezeichnen, einordnen? Wer oder was bist du?
Ja. Das stimmt. Bei mir läuft immer einiges parallel. Und deshalb würde ich erst einmal antworten: Ich bin vieles. Ich bin Lyriker*in, Performer*in, Übersetzer*in aus dem Englischen, ins Englische, ich bin Lektor*in, und ich arbeite im Lyrik Kabinett als wissenschaftliche Assistenz. Und klar: Es ist schon etwas ziemlich anderes, für eine Institution tätig zu sein, im Vergleich zu der Arbeit einer Literatur schaffenden Person. Und doch empfinde ich die unterschiedlichen Tätigkeitsfelder auch als ein Kontinuum, bei dem sich Dinge überschneiden können, Dinge hier und da ineinander greifen, sich beeinflussen.
Wie kann die Arbeit in einer Institution, in deinem Fall im Lyrik Kabinett, oder auch deine Übersetzer*innen-Tätigkeit das literarische Schaffen beeinflussen?
Seit ich fürs Lyrik Kabinett arbeite, bekomme ich viel mehr von Lyriker*innen und deren Arbeit mit, die sie ja bei Lesungen meistens auch genauer vorstellen. Da ich auch Buchpublikationen betreue, vor allem im Lyrik-Bereich, weitet und intensiviert sich mein Netzwerk noch mal. Das meine ich gar nicht im karrieristischen Sinne, sondern in dem Sinne, dass der Austausch zwischen Lyriker*innen zwar keinen direkten Einfluss aufs eigene lyrische Schaffen hat, aber zu wissen, was andere gerade machen, macht deutlich, was alles geht. Sich mit den Gedankengängen anderer auseinanderzusetzen bereichert ebenfalls.
Bei meiner Tätigkeit als Übersetzer*in geht es darum, sehr, sehr genau mit Sprache umzugehen, was mir entsprechend viel Konzentration abverlangt. Abschweifen geht da nicht, etwas auslassen geht nicht. Übersetzen ist intensivstes Arbeiten mit Sprache, und das finde ich schön. Schreibe ich meine eigenen Texte, meine eigene Lyrik, dann ist das eben auch intensivstes Arbeiten mit Sprache.
Lisa, kannst du beschreiben, was unter wissenschaftlicher Assistenz zu verstehen ist, was genau machst du im Lyrik Kabinett?
Das ist nichts Einheitliches. Das umfasst ganz unterschiedliche Dinge. Gerade habe ich zum Beispiel die „Münchner Rede zur Poesie“ von Yevgeniy Breyger lektoriert. Der Lyriker hat sie im Dezember 2023 im Lyrik Kabinett gehalten. Diese Reden bereiten wir als Publikationen im Voraus vor.
Ein anderes Beispiel: Vor einiger Zeit habe ich die Lesung von Simone Lappert und Sirka Elspaß moderiert. Auch das gehört dazu, die Gestaltung so eines Veranstaltungstermins. Bin ich als Moderator*in gefragt, dann bedeutet das auch, dass ich mich im Vorfeld ganz genau mit dem Werk meines Gegenübers auseinandersetze, mir gute Fragen überlege, eine mögliche Gesprächsführung.
Und übersetzt du auch gerade?
Ja. Das mache ich sozusagen in meiner „freien Zeit“. Im Moment sitze ich an einer Übersetzung eines Romans der schottischen Autorin Shola von Reinhold. Der Roman heißt LOTE, ein LGBTQ-Text. Ist ziemlich intensiv.
Und die eigene Lyrik …?
… kommt gerade etwas zu kurz, ist aber auch immer wieder dran. Für die nächste „freie Zeit“, die sich auftut …
Sentence Poem
Kein zurück!
Aus: Die Anthologie der Gedichte betrunkener Frauen, hochroth Verlag, München 2019, Seite 33
Gibt es bei der Lyrik, die heute entsteht, etwas Verbindendes, ein Erkennungsmerkmal, eine Tendenz?
Sie ist in den letzten Jahren tendenziell politischer geworden. Das hat auch damit zu tun, dass die gesellschaftlichen Spannungen insgesamt zugenommen haben. Man kann überhaupt nicht mehr unpolitisch sein. Konnte man im Übrigen noch nie, weil man sich ja mit allem, was man sagt, was man tut, was man schreibt, in einem gesellschaftlichen Kontext bewegt. Jetzt ist das noch stärker so, jetzt sind das noch einmal andere Dimensionen.
Es ist nicht mehr möglich, keine politische Positionierung einzunehmen. Das erklärt auch, warum wir gerade so viele Gedichte haben, die sich zum Beispiel mit dem Klimawandel befassen, die sich thematisch in die Apokalypse begeben oder ein Postapokalypse-Szenarium heraufbeschwören. Da findet eine explizite Auseinandersetzung mit der Gegenwart statt. Wobei es auch ein Teil unserer Gegenwartslyrik durchaus schafft, damit auf eine sehr subtile Art umzugehen.
Spannungen lassen sich auf ganz unterschiedliche Weise in Sprache bringen. Manchmal hat dieser „Zwang“, Stellung zu beziehen, für mich auch etwas Klaustrophobisches. Man kommt aus dieser Welt nicht mehr raus. Die Spannungen geben das Thema vor. Alle nehmen Stellung, weil es gar nicht mehr anders geht, und eigentlich hat man sich das ja auch irgendwie so gewünscht – „bezieh Stellung!“ –, aber eben nicht so. Nicht unter diesem Druck.
Mir ist das zum Beispiel auch sehr aufgefallen, als ich noch in Großbritannien gelebt habe, so um 2015, 2016: Man kam im banalsten Alltagsgespräch nicht darum herum, sich zu positionieren. Man war entweder für oder gegen den Brexit, und diese Information musste raus.
Dann kam ich nach Deutschland zurück, und hier war das erst einmal anders, entspannter. Aber jetzt, jetzt hat sich auch hier die Lage ziemlich zugespitzt, was mit einer Weltlage zusammenhängt, die etwas Bedrohliches hat. Das Verlangen, die Dringlichkeit, Stellung zu beziehen, bringt also auch immer eine Begrenzung mit sich. Das muss, das sollte man wissen.
Lisa, du hast auch von einer Art „Beeinflussung“ in die andere Richtung gesprochen, also von deinem kreativen Schaffen zu den „Institutionen“. Wie läuft die ab? Welche Rolle spielt es für die „Institutionen“, dass du auch Literatur schaffende Person, dass du auch Lyriker*in bist?
Na ja, der Institution ist schon bewusst, dass ich beide Seiten kenne, dass ich mich also ein bisschen in die Menschen, die Künstler*innen, mit denen wir es da zu tun haben, hineinversetzen kann. Andererseits bin ich auch darum bemüht, meine Tätigkeitsfelder voneinander zu trennen. Allein weil ich sonst das Gefühl hätte, in meinem Schreiben nicht mehr richtig frei zu sein. Wobei „frei“ ein sehr, sehr überhöhter Begriff ist.
Es ist mir wichtig, das Ganze zumindest getrennt zu denken. Ich möchte ein Beispiel nennen: 2021 wurde ich eingeladen, bei der Eröffnung der „Lyrik und Wissenschaft“-Konferenz in München ein Gedicht zu lesen, vielleicht dafür ein neues zu schreiben. Aber das konnte ich nicht, ich habe das einfach nicht geschafft, speziell für diesen Anlass etwas Neues zu schreiben. Mir war da die Vermischung meiner Angestellten-Position auf der einen und meiner künstlerischen Position auf der anderen Seite zu stark. Die Positionen standen sich im Weg, standen im Widerspruch zueinander. Ich habe dann ein Gedicht vorgetragen, das ich schon hatte. So hat das dann funktioniert.
Vorhin haben wir von dem Druck gesprochen, der auf uns allen lastet: die Kriege, der Terror, die Klimakatastrophe, das Erstarken rechter, menschenfeindlicher, nationalistischer Positionen etc. Wie viel Druck verträgt literarisches Arbeiten? Was, wenn uns die Ereignisse den Atem nehmen und damit auch die Fähigkeit, künstlerisch mit Sprache umzugehen?
Das ist eine interessante Frage, weil ich generell und eigentlich schon immer das Gefühl habe und hatte, dass ich auf eine sehr atemlose Art schreibe und dann auch performe. Ich trage sehr schnell vor und denke, dass das zu mir, zu meinen Texten passt, dass das eben so zu sein hat. Aber: Ereignisse werden von mir nicht sofort be- oder verarbeitet. Ich warte in der Regel, bis sich etwas gesetzt hat, bis Übertragungen möglich sind.
Eine Ausnahme habe ich damals beim Brexit gemacht, auch weil ich gesehen habe, dass auf Social Media sehr schnell sehr viele mit Gedichten reagiert haben. Woraufhin ich mit dem Lyriker David Grundy sofort bei der von uns gemeinsam gegründeten Chapbook-Reihe „Materials“ eine kleine Ausgabe mit Gedichten zum Brexit gemacht habe. 26 Leute haben uns zum Thema ein Gedicht geschickt, daraus entstand ein kleines Heft.
Ansonsten bist du ein*e abwartende Lyriker*in?
Ja. In der Regel schon. Wenn sich etwas ereignet, warte ich erst einmal ab, bis – sozusagen – mein Atem wieder regelmäßig geht. Deshalb beziehe ich auf Social Media, das ja für Schnelligkeit steht, auch nur sehr selten Stellung. Ich gelte als eine politisch schreibende Person, aber irgendwie ist es nicht meine Art, schnell, spontan, sofort zu reagieren.
Ich brauche meine Zeit zum Nachdenken. Zeit, in der sich in mir eine besondere Art von Druck aufbaut. Ist er groß genug, transponiere ich in eine andere Form, nämlich in Lyrik. Durch Lyrik kann ich in einer ganz eigenen Art Stellung beziehen, einer anderen Art, als man das beispielsweise durch journalistische Schreibformen kann.
Welches sind deine Themen? Um was kreist deine Lyrik?
Es geht viel um Gender, um Queerness. Ich habe so ein bestimmtes Vokabular, das für diese Thematik steht, zum Beispiel „Robotermädchen“ und solche Dinge. Dieses Vokabular kam in meinem Lyrik-Band der „Betrunkenen Frauen“ immer wieder vor. In meinen neuen Gedichten, die voraussichtlich 2025 als Buch erscheinen werden, tauchen manche dieser Motive dann auch immer mal wieder auf.
Es gibt Momente, da mache ich mir ein wenig Sorgen, ob ich vielleicht zu viel mit Wiederholungen arbeite. Andererseits: Ich mag es auch, dieses obsessive Wiederholen. Dadurch kann sich nach und nach eine ganz eigene Gedichtewelt, eine eigene Gedichtelandschaft aufbauen, was an ein Computerspiel mit eigenen Regeln, eigenen Motiven, einer eigenen Örtlichkeit erinnert.
Und wir?
Wir sind die Robotermädchen.
Roboter schaffen sich gerne ab
Wie sie sind wie sie waren.
Robotern macht das nichts aus.
Roboter sind NEUGIERIG.
Roboter FREUEN SICH.
ROBOTER HABEN GEFÜHLE.
Aus: Die Anthologie der Gedichte betrunkener Frauen, hochroth Verlag, München 2019, Seite 51
Was mich auch immer wieder beschäftigt, ist die Thematik Arbeit und Freizeit, Kritik am Neoliberalismus. Als Arbeitstitel des neuen Bandes habe ich „Beschreibung der FDP“ gewählt, was im direkten Parteienlandschaftsbezug ein bisschen anknüpft an den Titel einer Performance, die ich 2016 zusammen mit Lucy Beynon erarbeitet und gemacht habe: „The Tragedy of Theresa May“.
Könntest du dir auch vorstellen, deine Texte andere vortragen zu lassen?
Ich habe noch nie einer anderen Person sozusagen den Auftrag gegeben, etwas von mir vorzutragen. Aber manchmal würde ich es mir schon wünschen, dass meine Texte nicht immer nur von mir performt werden, weil ich manchmal die Sorge habe, dass alles zu sehr an meiner Stimme, an meinem Vortrag hängt. Deshalb freut es mich besonders, wenn mir Leute schreiben, dass sie meine Gedichte gelesen haben und sie gut fanden. Leute, von denen ich weiß, dass sie mich nicht bei einer Lesung gehört haben. Das beruhigt mich. Dann weiß ich, dass meine Texte auch ohne mich funktionieren.
Wir berührten uns an den Händen oder anderen Köperteilen, je nach
Vorhandenen Körperteilen, auch je nachdem, wo und wie wir jeweils
Berührt werden wollten. Soft. Soft.
Regenbogen! Regenbögen! Ansteckung kichert Bächlein multi-
Sperrholz Glitzer Auen Lack, gib her den süßen Schmerz plus
Sanfte Wolkenfreude mixen
Floß und Strick die Hoffnung funkelt, nicht: Nebel, Wurzeln,
Kompatibilitätspflicht! Aliens. Alle. Sogar die Schafe haben sich auto-
Entschaft auf Strahlen Wiesen angenehm. Soft.
Plastik, Plastikhände, Plastiksynthetik, plastisch
No borders.
Kitsch, das? Und?
Und weiter singe der harmlose Schlund!
Die Sterne regnen als Goldstückchen
All die Girls, die auf der Straße liegen, werden reich, protzen
Muskeln
Egal, woher sie kommen, egal, ob Girls oder Boys. Soft.
Toiletten für alle! Kosmisch! Um die Ecke! Toiletten für alle!!
NO BORDERS!!!
Aus: Die Anthologie der Gedichte betrunkener Frauen, hochroth Verlag, München 2019, Seite 29
Die eigenen Texte zu performen hat für dich aber auch eine gewisse Wichtigkeit? Eine Gewichtigkeit, die über die Performance selbst hinausgeht …
Ja, was damit zu tun hat, dass die Performance, der Vortrag immer noch als sekundär gegenüber dem Buch, dem Text gesehen wird, und ich diese Tradition gerne ein wenig aufbrechen würde. Es ist ein Verlangen von mir, die Einheit zwischen Text und performender Person deutlich zeigen zu können. Ich denke beim Schreiben meiner Gedichte mich ja auch mit, was die Ich-Position, ohne dass das etwas Autobiografisches hätte, schon extrem stark macht.
Wie bereitest du deine Auftritte vor? Lässt du Raum für Spontanität?
Ich übe richtig, aber gerade deshalb kann ich mir beim Auftritt dann auch Spontanes erlauben, weil ich mich eben sicher fühle. Ich übe, Wörter so rüberzubringen, wie ich sie rüberbringen möchte.
Du denkst beim Schreiben die Performance mit. Schlägt sich das Performative dann auch zum Beispiel aufs Layout nieder?
Bei der „Anthologie der betrunkenen Frauen“ war das auf jeden Fall so. Ich habe mir beim Schreiben fast jedes Gedicht als kleine Performance mit eigenen Kostümen vorgestellt, was sich nun im Layout wiederfindet.
Was ist es am Ende, was dich zum Schreiben „bringt“? Wann musst du loslegen? Was passiert in den Schreibpausen?
Es kommt vor, dass ich aus diesem oder jenem Grund über Monate hinweg nichts schreibe, nicht zum Schreiben komme. Und natürlich kenne ich die Angst, dass mir vielleicht nie mehr etwas, mit dem ich mich als Lyriker*in beschäftigen möchte, einfallen könnte. Diese Angst gibt es. Wobei ich sagen muss, dass es mittlerweile ohnehin schon in den allermeisten Fällen so ist, dass ich in Folge von Schreibaufträgen oder in Folge von bestimmten Einladungen schreibe. Dann klappt das auch: Ich setze mich an den Computer, schreibe über eine Zeit lang relativ intensiv an einem Gedicht.
Einfach nur so für mich zu schreiben, meinen persönlichen Gedanken folgend, das gibt es gar nicht mehr so oft. Das war früher so. Aber ich finde das gar nicht schlimm, weil ich mir denke, dadurch bekomme ich auch eine Art soziale Funktion, und ich kann in Richtung einer definierten Lesung denken oder in Richtung eines Magazins, kann meine Gedanken von vornherein in einen bestimmten Kontext verorten.
Wie siehst du – durchaus mit literatur- wie sprach- wie politikwissenschaftlichen Methoden vertraut – das Verhältnis zwischen Wissenschaft und künstlerischer Tätigkeit?
Das hat sich ein bisschen verändert. Während meiner Promotion habe ich natürlich wissenschaftlich geschrieben. Gleichzeitig sah ich mich – außerhalb dieses Bereichs – als Lyriker*in, habe mich so definiert. Da hatte ich oft das Gefühl, dass mich das wissenschaftliche Schreiben für die Lyrik beengen würde. Auch weil ich mich als Lyriker*in damals sehr ambitioniert fühlte, jedes Mal noch ein Stück poetischer zu schreiben.
Jetzt ist das anders. Ich befinde mich nicht mehr innerhalb dieses institutionalisierten Wissenschaftsbereichs, auch nicht mehr in diesem Konkurrenzgefüge Wissenschaft. Und da habe ich plötzlich das Gefühl, dass ich das wissenschaftliche Schreiben ganz interessant finde. Weil das eben auch eine stark begrenzte Form mit ganz rigiden Vorschriften ist. Weil ich auf diese begrenzte Form nicht mehr angewiesen bin, interessiert sie mich.
Ich würde mich durchaus als Theroriefan bezeichnen, und denke auch, dass meine Gedichte etwas ziemlich Theoretisches, auf Theorie Basierendes haben. Meine Gedichte stellen für mich manchmal fast so eine Art wissenschaftlicher Argumentation dar, in einer eigenen Sprache. Meine Lyrik als eine Art Abweichung von der Wissenschaft – vielleicht könnte man das so sagen.
Ich, der Prinz, habe schon Genitalien
Und Gefühle
Zum Beispiel eine mollig-fellige stinkende Zunge
Das Kronjuwel des Königreichs:
Schneidet sie ab.
Aus: Die Anthologie der Gedichte betrunkener Frauen, hochroth Verlag, München 2019, Seite 46
Wie groß ist das Verlangen, dass das, was du an Denkgerüsten, an Theorie mit deiner Lyrik mitlieferst, auch ankommt, auch verstanden, auch gehört wird?
Das Verlangen ist schon da. Aber ich denke auch, dass man das auf irgendeine Weise schon alles mitkriegt. Jede*r anders. Mir ist natürlich auch klar, dass dieser „Transport“ bei einer einzelnen Lesung viel zu schnell vonstatten geht. So schnell kann kein Mensch aufnehmen, wahrnehmen.
Aber Gedichte leben ja länger, können eine Nachwirkung entfalten, können wieder und wieder gelesen werden, können nächste Texte, auch wissenschaftliche, nach sich ziehen. Und vielleicht entdeckt da jemand Zugänge, auf die ich gar nicht gekommen wäre. In diesem Sinne sehe ich das Gedicht auch als frei von mir. Es kann abseits von mir sein eigenes Leben entfalten.
Möchtest du noch ein paar Worte zum Angebot, Literatur, Lyrik zu präsentieren, sagen? Wie sieht es damit in München aus?
Es gibt immer mehr Möglichkeiten, immer mehr Lesungen, sodass ich längst nicht alles wahrnehmen kann. Angefangen bei den kleinsten Lesungen in privaten Räumen bis hin zu Lesereihen wie zum Beispiel LIX, das ich sehr mag.
Was ich nie vergessen werde: Als ich 2016 von Großbritannien nach München zurückgekommen bin, bin ich gleich total offen von der hiesigen Lyrik-Szene empfangen worden. Tristan Marquardt hat mich zum „Großen Tag der jungen Münchner Literatur“ eingeladen, was mich unendlich gefreut hat, weil ich ja neu war und noch niemanden kannte. Und bis heute gehe ich total gerne zu „meine drei lyrischen ichs“, weil man da gut Kontakte knüpfen kann, weil da so eine schöne Atmosphäre herrscht.
Was sich allerdings in dieser Stadt unbedingt ändern muss, ist der Wohnungsmarkt, sind die Mieten, auch die für Veranstaltungsorte. Da muss sich etwas für uns Schreibende, für uns Performende, für uns Künstler*innen, für uns Veranstalter*innen tun. Das wäre auch für die ganz jungen Leute wichtig, die noch am Anfang stehen, offen experimentieren wollen.
Lisa Jeschke hier im Blog:
- Last uns über Gender reden! – Über Erika Manns anti-patriarchales Auftreten und Therese Giehses idealisierte Weiblichkeit | #FemaleHeritage (18.11.2020)
- GAY AGAIN – Theresa Seraphin und Lisa Jeschke im Interview | #ErikaMann (11.06.2020)
*AtelierMonaco-Szene
Die Reihe „Atelier Monaco-Szene“ erscheint alle zwei Monate im Blog der Münchner Stadtbibliothek. In der ersten Staffel sprechen Katrin Diehl (1-6), in der zweiten Christina Madenach (ab Folge 7) mit Autor*innen über ihre literarischen Tätigkeiten, Netzwerke, eigene Verlage und literarische Lesereihen in München – es entsteht eine Kartografie der Atelier Monaco Szene in der Stadt.
- Daniel Graziadei: Über Lyrik und Performance, Schreibwerkstätten und die Münchner Literaturszene (8.10.2024) – 8
- Fabienne Imlinger: Über subversive Prozesse, Empowerment und eine freie Literaturszene in München (26.6.2024) – 7
- Theresa Seraphin: Experimentelles Schreiben und das richtige Maß an Ablenkung (25.4.2024) – 6
- Lisa Jeschke über Lyrik, Performance und politisches Schreiben (7.2.2024) – 5
- Jan Geiger über erste Schreibversuche, Schreiben als Beruf und Theatertexte (1.12.2023) – 4
- Annegret Liepold über die „Bayerische Akademie des Schreibens“, Schreibprozesse und „Franka“ (26.10.2023) – 3
- Christina Madenach über Schreibroutinen, Romanwerkstatt und die freie Literaturszene Münchens (9.8.2023) – 2
- Tristan Marquardt über Lyrik, literarische Netzwerke und Lesereihen in München (14.6.2023) – 1
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