Gün Tank: „Frauen.Bewegen.Wege.“ – Kaffeesatzlesen und postmigrantische Literatur I #FrauenDerBoheme

Gün Tank schreibt in „Die Optimistinnen“ über die erste Generation der Gastarbeiterinnen – und für die Monacensia als eine der heutigen Stimmen der #FrauenDerBoheme. Foto: Heike Steinweg

Gün Tank liest mit einer Freundin und einem Freund in İstanbul und Berlin den Kaffeesatz – und erkennt, wie wichtig es ist, aus welcher Perspektive, von welchem Ort, zu welcher Zeit die erzählende Stimme spricht. In ihrem Debütroman „Die Optimistinnen“ erzählt sie die Geschichte der Gastarbeiterinnen in der Bundesrepublik aus neuer Perspektive. Wie es zu dazu kam und welche Rolle dabei James Baldwin spielte, erfahrt ihr in ihrem Beitrag zu mon_boheme, dem Online-Magazin zu #FrauenDerBoheme*.

„Frauen.Bewegen.Wege.“ von Gün Tank

Nicht alles, dem man ins Auge blickt, lässt sich verändern. Aber nichts kann verändert werden, solange man ihm nicht ins Auge blickt.

James Baldwin in dem Dokumentarfilm „I Am Not Your Negro“

Literatur von und über Frauen mit Einwanderungsgeschichte ist bisher verhältnismäßig wenig publiziert worden. Welche Grenzgänge braucht Literatur, um eine postmigrantische Realität zu begreifen, in der Frauen eine entscheidende Rolle spielen? Mit dieser Frage begann meine Reise in die Welt der Literatur. Zum ersten Mal betrat ich nicht als Lesende, sondern als Schreibende eine mir bisher fremde Welt. So dachte ich zumindest.

Wer liest den Kaffeesatz?

Wir sitzen auf Hockern an einem kleinen viereckigen Holztisch. Unsere Rücken lehnen an einer alten Mauerwand. Über unseren Köpfen schwebt ein Schirm in der Luft. Tausend Arme der Sonne streicheln unsere Füße. Auf dem Tisch vor uns stehen drei zierliche Mokkatassen, daneben ein Stück Zeitungspapier, darauf ein kleiner Berg Sonnenblumenkernschalen, unterm Tisch ebenfalls einige Schalen. In unseren Händen Papiertüten, gefüllt mit den Kernen der Sonnenblume. Fast synchron gehen unsere Hände von der Tüte in den Mund, die vorderen Zähne knacken die Schale auf und die Zungen befreien den Kern. Noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. In regelmäßigen Abständen pausieren die Hände an den zarten Henkeln der Tassen vor uns. Wir schlürfen vorsichtig den Mokka.

Ich sitze mit Nil und Nils in einem Teegarten. Zum Studium saßen wir fast jeden Nachmittag zusammen, in İstanbul oder in Berlin. Heute seltener. Wir leben nicht mehr in derselben Stadt. Umso mehr genießen wir unseren Nachmittag und gehen unserer Lieblingsbeschäftigung nach: Sonnenblumenkerne, Mokka und Kaffeesatzlesen. Dieses Mal: irgendwo in Berlin.

Nach nur wenigen Minuten ist der Berg vor uns aufs Doppelte gewachsen und der Mokka getrunken. Die Tüten mit den Sonnenblumenkernen sind nur noch halb gefüllt und stehen auf dem kleinen Tisch.

Ich decke meine Tasse mit der umgedrehten Untertasse zu und drehe sie mehrmals im Kreis. Im Anschluss drehe ich die Tasse samt Übertasse vorsichtig um. Nil und Nils machen es mir nach. Damit die Tasse schneller abkühlt, ziehen wir unsere Ringe von den Fingern und schmücken damit den jeweiligen Tassenboden. Wir warten, bis die Tasse kalt ist und der Kaffeesud angetrocknet am inneren Tassenrand klebt.

Im Türkischen gibt es das Sprichwort:

Fala inanma, falsız kalma.

Ins Deutsche übersetzt bedeutet es so viel wie:

Glaube nicht ans Kaffeesatzlesen, verzichte aber auch nicht darauf.

Wir lieben dieses Sprichwort. Sehr gern formen wir die Bilder in den Tassen zu Geschichten. Die Kaffeesatzbilder, die wir in ein und derselben Tasse entdecken, und die Interpretationen könnten unterschiedlicher nicht sein. Natürlich kennen wir die Person gegenüber so gut, dass es auch passt. Und trotzdem – oder gerade deshalb – träumen wir uns dreimal in zwei Wahrsagungen statt nur in eine. Kein Wunder, drei Menschen mit unterschiedlichsten Geschichten und Erlebtem fließen in den Kaffeesatz ein. Wer, aus welcher Perspektive, von welchem Ort aus, zu welcher Zeit erzählt, ist für die Geschichte als auch für die Geschichten von Bedeutung. Nils ist ein weißer heterosexueller Mann aus einer Diplomatenfamilie. Die Eltern von Nil sind migriert, sie haben bis zur Eröffnung ihres eigenen kleinen Bakkal (Kiosks) in der Fabrik Schicht gearbeitet und waren politisch sehr aktiv. Und ich bin mit einer migrierten, sehr aktiven und hart arbeitenden Mutter und einer Schwester beglückt worden.

Kennengelernt haben wir drei uns in İstanbul, während eines Auslandssemesters.

Als das letzte Kaffeesatzbild die Abendsonne küsst, überlegt Nil:

Das Kaffeesatzlesen blühte im Osmanischen Reich doch wohl insbesondere unter Frauen auf, vielleicht filterten sie damals Kritik durch den Kaffeesatz?

Gün Tank schreibt in „Die Optimistinnen“ über die erste Generation der Gastarbeiterinnen – und für die Monacensia als eine der heutigen Stimmen der #FrauenDerBoheme. Foto: Heike Steinweg
Gün Tank schreibt in „Die Optimistinnen“ über die erste Generation der Gastarbeiterinnen – und für die Monacensia als eine der heutigen Stimmen der #FrauenDerBoheme. Foto: Heike Steinweg

Das Gestern im Heute

Mit Nil und Nils habe ich 2017 den Dokumentarfilm „I Am Not Your Negro“ gesehen. Mich beeindruckt der Blick des Filmemachers Raoul Peck bis heute. Er nahm für den Film das Manuskript „Remember This House“ von 1979 zur Grundlage. 1987 war sein Autor, der Denker James Baldwin, verstorben. Der Film thematisiert die Geschichte der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA und die Ermordung der Schwarzen Bürgerrechtler Malcolm X, Martin Luther King Jr. und Medgar Evers. Ich erinnere mich sehr gut an das Gefühl, das sich einschlich, als ich James Baldwin zum Ende des Films sagen hörte:

Die Geschichte ist nicht die Vergangenheit. Sie ist die Gegenwart. Wir tragen sie in uns. Wir sind unsere Geschichte.

Das Gestern wirkt also im Heute – in uns – fort, denke ich. Und ich bin in Gedanken bei den vielen Frauen der ersten Generation, die großzügig ihre Geschichten mit mir teilten. Frauen, die ich in der Gewerkschaft kennenlernen. Frauen, die ich durch meine Arbeit erleben durfte; starke und selbstbewusste Frauen. Und ich bin bei meiner Mutter: erste Generation, 1972 in die Bundesrepublik migriert, zum Arbeiten.

Das gängige Bild der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre ist geprägt durch die sogenannten Gastarbeiter. In der Öffentlichkeit und auch in der deutschsprachigen Literatur wird kaum wahrgenommen, dass nicht nur Männer, sondern viele Frauen der bundesrepublikanischen Anwerbung folgten. Ende der 1970er-Jahre waren von den fast zwei Millionen nichtdeutschen Beschäftigten rund ein Drittel Frauen. Eingewanderte Frauen weisen bereits in den 1970er-Jahren eine erheblich höhere Erwerbsbeteiligung auf als deutsche Frauen: über zwei Drittel bei den einen, unter 50 Prozent bei den anderen. Unter den Verheirateten arbeiteten immer noch zwei Drittel der weiblichen „Gäste“, unter den „Gastgeberinnen“ waren es nur 40 Prozent.[1]

Heute prägen Beschreibungen wie unterdrückt, schwach, unselbstständig, abhängig das öffentliche Bild der eingewanderten Frauen. Ähnliches gilt für Frauen of Color und Schwarze Frauen, die nicht eingewandert sind. Während weiße Frauen als autonom, frei, modern, selbstbewusst und emanzipiert dargestellt werden. Hier die Hausfrauen und Mütter – dort Erfolg und Karriere.

Dass nicht anerkannte Diplome, rechtliche Rahmenbedingungen und Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt zu Arbeitslosigkeit und damit auch Abhängigkeit führen, wird kaum gesehen.

Geschichte(n) erzählen

Ich beginne, die Stimmen der vielen Frauen der ersten Generation, der Frauen of Color und der Schwarzen Frauen, die mein Leben prägen, aufzuzeichnen. Ich spüre, wie ich mit jeder Geschichte, die ich in mein Handy diktiere, wachse. Und ich möchte mehr davon. Mehr von den Stimmen, die mich seit meiner Geburt in diesem Land begleiten. Ich führe noch mehr Gespräche, treffe mich, schreibe mit ihnen, recherchiere und lese nach.

Irgendwann fange ich an, Bilder zu schreiben. Meine Finger springen über die Tastatur, als wäre da etwas, das schon sehr lange rauswollte. Wut, Trauer und Freude schreien aus den Buchstaben auf dem Bildschirm. Nil und Nils begleiten meine Schreibausbrüche, die mich zwischen Arbeit und Alltag, mal spätnachts, mal auf Reisen, überfallen. Statt Kaffeesatz lese ich ihnen nun vom Bildschirm meines Mobiltelefons Selbstgeschriebenes vor. Ich hatte eigentlich nie vor, einen Roman zu schreiben. Es sind die Frauen, die mir die Kraft geben zu sagen:

Ich schreibe einen Roman. Ich, Gün Tank, die unter ihren Deutsch-Aufsätzen je nach Lehrkraft mal eine Zwei, eine Vier oder eine Fünf stehen hatte.

Drei Tage vor der Geburt meiner beiden Kinder hielt ich das fertige Manuskript meines Romans in der Hand. Nil und Nils hielten mir nicht nur nach der Geburt der Kinder die Hand. Sie motivierten mich auch, dieses Manuskript in die Öffentlichkeit zu tragen. Pandemie und Elternzeit ließen es jedoch vorerst in der Schublade verschwinden. Bis zu dem Tag, als eine Freundin – deren Augen ich heute küsse – mich mit meiner heutigen Agentin bekannt machte. Sie war begeistert vom Manuskript und ich von ihr.

Ich trinke wieder einmal Kaffee, diesmal to go, mit viel Milch und Zucker. Es ist warm, und ich spaziere die Promenade in Moda, einem Stadtteil von İstanbul, entlang. Im Doppel-Buggy sitzen die Kleinen. Das Telefon klingelt, meine Agentin ist dran. Eine Lektorin vom S. Fischer Verlag hat Interesse an meinem Manuskript. Ein Windhauch, meine Ohren hören, meine Lippen lächeln, mein Kopf fragt sich: „Bin ich jetzt Autorin?“

Meine nackten Füße berühren den heißen Asphalt. Ich versuche, mir vorzustellen, wie viele Frauenfüße vor mir diesen Boden berührten. Wie viele Frauenfüße der Sandboden unter der dicken Asphaltschicht wohl getragen hat? Diese unsichtbaren Abdrücke erzählen Geschichte(n). Sie scheinen dem Auge entzogen und dem Ohr unmerklich. Sie scheinen vergessen. Sie scheinen nie da gewesen. Lasst sie uns schrei(b)en. Lasst uns die verborgenen Geschichten dieser Heldinnen gewaltig und laut auf die Straße tragen.

Gün Tank auf Instagram


* Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.


[1] Quelle: Statistisches Bundesamt 1980–1994, www.destatis.de

Autor*innen-Info

Profilbild Gün Tank

Dies ist ein Gastbeitrag von Gün Tank

Gün Tank ist Autorin, Moderatorin und Beauftragte für Menschen mit Behinderung im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg. 2011 kuratierte sie die Ausstellung „22:14 …und es kamen Frauen“ zu den ersten Arbeitsmigrantinnen der Bundesrepublik und die Veranstaltungsreihe CrossKultur, eine jährliche Kulturreihe mit Lesungen, Ausstellungen, Konzerten, Theater, Film und Konferenzen. In ihrem im September 2022 bei S. Fischer erscheinenden Debütroman „Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter“ erzählt Gün Tank die Geschichte der Gastarbeiterinnen aus einer neuen Perspektive. Foto: © Heike Steinweg.

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