Jovana Reisinger – Das Patriarchat muss brennen. Auch im Literaturbetrieb I #FrauenDerBoheme

Jovana Reisinger schreibt über Frauen und über schreibende Frauen. #FrauenDerBoheme. Foto: Tanja Kernweiß

Jovana Reisinger umkreist als Autorin, Filmemacherin und bildende Künstlerin Themen wie Körperlichkeit, Rollenbilder und Stereotype. Für mon_boheme, das Online-Magazin zu #FrauenDerBoheme*, analysiert die Münchnerin, welchen Zuschreibungen schreibende Frauen ausgesetzt sind. Sie entlarvt die strukturellen Wurzeln der Misogynie hinter dem Begriff Frauenliteratur und plädiert für eine freie Themenwahl für alle Schriftstellerinnen. Ganz langsam werden Autorinnen sichtbarer, räumt Jovana Reisinger ein.

„Das Patriarchat muss brennen“ von Jovana Reisinger

Wenn Frauen schreiben, werden sie einer anderen Bewertung unterzogen als ihre männlichen Kollegen. Oft werden ihnen die Themenwahl, das Handwerk oder gleich jedes Talent aberkannt: zu kitschig, zu banal, nicht literaturfähig oder schlichtweg nicht wertvoll genug, um erzählt zu werden. Frauenliteratur eben.

Unter dem Abwertungsbegriff Frauenliteratur vereint sich in dieser Rezeptionslogik seit Jahrzehnten also alles, was zu sentimental, zu rührselig, zu alltäglich und vor allem: nicht männlich genug ist. Ein Sammelbecken der Trivialität. Nicht bedeutsam genug, besprochen zu werden. Oder: nicht bedeutsam genug, um viel und ausführlich besprochen zu werden. Ablehnung, Verachtung, Verweigerung des weiblichen Schreibens als Methode.

Pardon. Ablehnung, Verachtung und Verweigerung des Weiblichen in der Gesellschaft.

Die viel beachtete Studie #frauenzählen der Uni Rostock hat 2018 über 2000 Rezensionen aus 69 deutschen Medien ausgewertet.[1] Sie zeigt auf, dass Bücher von Männern doppelt so häufig besprochen werden wie Bücher von Frauen. Literaturkritiker besprechen entschieden lieber Bücher von Männern, und (oh, Hilfe!) es gibt auch wesentlich mehr Literaturkritiker als -kritikerinnen. Da haben wir den Salat!

Die strukturellen Wurzeln der Misogynie

Aber noch nicht ganz. Die Misogynie, die sich hier offenbart, hat auch strukturelle Wurzeln. Denn, so muss uns klar sein, wir werden in einer patriarchalen Gesellschaft misogyn sozialisiert – und das gewissenhaft auch literarisch. Einfache Beispiele dafür sind:

  • die Texte, die im Unterricht gelesen werden und uns an die Literatur heranführen sollen. Goethe, Frisch, Hesse, Mann – wer wars bei Ihnen?
  • die Bücher, die der allgemein propagierte Kanon einschließt: Goethe, Schiller, Frisch, Hesse, Mann usw.
  • wie bis heute über die Texte, die Bücher von Schriftstellerinnen gesprochen wird und wie diese präsentiert werden

Gestern betrachtete ich in einer Buchhandlung die Büchertische. Es gab viel Rosa, viel Schwungschrift und viel Verträumt-Mädchenhaftes. Es gab Autorinnenfotos, auf denen mir freundliche Gesichter heiter entgegenlächelten, ganz harmlos, ganz lieb. Und es gab Klappentexte, die mich in andere Sphären versetzen wollten. Die Ästhetik dieser Bücher passt zum frauenfeindlichen Klischee über unsere Texte: verkitscht, romantisch und nicht böse gemeint. Eine Reproduktion der Reproduktion der Reproduktion. Natürlich sehen nicht alle Bücher von Frauen so aus. Und ja, es gibt starke Verlagsidentitäten, die ihren Look nicht den Geschlechtsteilen oder Gender der Verfasser*innen anpassen. Aber – und das ist nun mal wichtig in der Betrachtung der Gesamtlage – es gibt auch klare Hinweise die verdeutlichen: Hier wird’s nett. Hier geht es um sie. Die Frau. Das sanfte Wesen, das schwache Geschlecht.

Doch jetzt ist Distinktionsschärfe gefragt: Schreibt ein Schriftsteller seitenweise über das Innenleben einer Frau, gilt dies selbstverständlich nicht als unbedeutend, oberflächlich oder platt. Es gilt vielmehr als eine Glanzleistung. Schreibt ein Schriftsteller über Frauen, was sie machen (z. B. ihn oral befriedigen), wie sie aussehen (z. B. geil) und was sie so denken (ja, was denken die denn?), ist es selbst bei den hohlsten Darstellungen geistreich, mitunter radikal, definitiv aber angemessen und gehaltvoll essenziell.

Echte Literatur, das ist Männerliteratur.

So wie im Patriarchat eben alles besser, geiler, schlauer und wertvoller ist, was von Männern geschaffen wurde. Pardon, hier war ich zu ungenau: So wie im Patriarchat eben alles besser, geiler, schlauer und wertvoller ist, was von cisgeschlechtlichen, heterosexuellen, Weißen Männern erschaffen wurde.

Diese Autorenschaft kann sich anmaßen, eine schier grenzenlose Themenauswahl zur Verfügung zu haben. Und damit fabriziert und fabuliert sie die richtige, die echte Literatur. Sinnstiftend, qualitativ hochwertig und potent. Alles andere wird, oder sagen wir, alle anderen werden in Subkategorien einsortiert.

Nicht männlich in diesem Sinne ist es zum Beispiel zu schreiben über:

  • Mutterschaft
  • Menstruation
  • Menopause
  • sexuelle Übergriffe (aus der Perspektive jener, die es betrifft, ich meine: durch die, die es betrifft)
  • weibliche Lust
  • weibliche Körper
  • weibliche Erfahrungen
  • das Überleben in sexistischen Strukturen oder (ganz allgemein) im Patriarchat

Die Themen, die durch diese einseitige Sicht auf das Leben als (zumindest literarisch) minderwertig kategorisiert werden, sind umfangreich. Eine schier unendliche Aufzählung könnte jetzt hier stehen.

Aber wie bereits erwähnt geht es dabei darum, wer den Text verfasste, welchem Geschlecht sich diese Person zuordnet.

Auch ich komme nicht drum herum, sie noch einmal zu erwähnen.

Die viel zitierte Einschätzung von Marcel Reich-Ranicki:

Wen interessiert, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert? Das ist keine Literatur – das ist ein Verbrechen.

Als Schriftstellerin (die in ihren literarischen Texten gerne über Menstruation schreibt und das mitunter ausführlich) und als Menstruationskolumnistin für die Zeitschrift „Vogue“ finde ich das phänomenal. Denn selbst im Jahr 2022 wurde mir noch gesagt, über die Menstruation zu schreiben sei ein hilfloser Versuch, Aufmerksamkeit zu generieren – mit einem Thema, das banaler nicht sein könnte. Auch an dieser Stelle weise ich gerne darauf hin: Diese Banalität betrifft 50 Prozent der Weltbevölkerung. Liebe männlich-dominierte Gesellschaft: get over yourself.

Jovana Reisinger schreibt über Frauen und über schreibende Frauen. #FrauenDerBoheme. Foto: Tanja Kernweiß
Jovana Reisinger schreibt über Frauen und über schreibende Frauen. #FrauenDerBoheme. Foto: Tanja Kernweiß

Weiter gehts mit der Perfidität.

Frauenliteratur ist nicht nur ein dahingesagter, in manchen Kreisen längst abgelegter Sammelbegriff, der sonst keinerlei Auswirkungen hat. Die systematische Herabsetzung und damit einhergehende Demütigung kann freilich auch reale, existenzielle Folgen für die Verfasserinnen zur Folge haben. Denn wenn die Bücher ihrer männlichen Kollegen häufiger und ausführlicher besprochen werden, erscheinen sie auch präsenter im Handel. Die Autoren werden demnach für größere Bühnen gebucht und eher bei den Preisen bedacht. All dies bedeutet einen finanziellen Nachteil. Dabei geht es auch um Vorschüsse und Honorare (und das gilt auch für Veranstaltungen). Schriftstellerinnen haben es nachweislich nach ihrem Debüt oft schwer, bekannt zu bleiben. Auch hier hängt alles mit allem zusammen. Es gibt ein System.

Na, wirke ich schon wie die gekränkte, beleidigte, leider mit dem aktuellen Buch mit keinem Preis ausgezeichnete Schriftstellerin? Leberwurst statt Sonnenschein? Denn das Sich-benachteiligt-Fühlen und Über-den-Betrieb-Jammern gehört auch zum Klischee der Schriftstellerin: Ihr eigenes Versagen und mangelndes Vermögen (in jedem Sinne!) ordnet sie lieber einer strukturellen Ungerechtigkeit als einem ehrlichen, persönlichen Eingeständnis zu.

Ich gebe es gerne zu: Es ändert sich was.

Das Trendthema Feminismus hat auch der Buchbranche einen Boom beschert. Frauenliteratur knallt, und es sind wesentlich mehr Schriftstellerinnen sichtbar als noch vor wenigen Jahren. Und sogar wütende! Wir kommen zu Wort (manchmal); wir vernetzen uns (wir dürfen damit nicht aufhören); wir sind nicht grantig und verbittert; wir sind unnachgiebig, genau und herausfordernd. Strukturen müssen offenbart, Machtpositionen hinterfragt und Unterdrückungsmechanismen aufgelöst werden.

Mit großem Genuss lese ich (bereits seit Jahrzehnten) ausschließlich Werke von Frauen, von queeren, nicht-binären, von BIPoC-Autor*innen. Weil mich diese Welten und Realitäten interessieren und ich keine Lust mehr habe, die antrainierte Identifikation mit einem Mann, einer männlichen Hauptfigur, dem male gaze, durchzuführen. Mit noch größerer Freude erfahre ich, dass auch andere keine Lust mehr auf Männerliteratur haben. Warum sie nicht systematisch ablehnen? Geht dabei etwas verloren? Ich bezweifle es in diesem Moment.

Wut als Motor

Wenn mich jemand als Schriftstellerin, die Frauenbücher schreibt, vorstellt, lächle ich. Aber nicht harmlos und lieb, sondern amüsiert über die Selbstentlarvung. Wenn mir Männer nach Lesungen erklären, ich hätte meinen Roman falsch geschrieben, dann unterbreche ich sie, und unterhalte mich lieber mit jemand anderem. Wenn mir Juroren sagen, mein Buch sei zwar gut, das Thema aber eben doch nicht massentauglich genug, um für diesen großen Preis nominiert zu werden, denke ich über den nächsten Roman nach, der noch mehr ihrer klischeehaften Vorstellung entsprechen wird.

Was jetzt hier nach feel-good-self-empowerment klingt, ist nichts anderes als Wut. Wut als Motor und die Sorge, daran irgendwann zugrunde zu gehen. Denn selbst dieser Text reiht sich in einer schier endlosen Reihenfolge ein. Seit Jahrzehnten schreiben Schriftstellerinnen über diesen Betrieb. Jelinek hat es getan, Elsner, zig andere. Warum braucht es meinen Beitrag im Jahr 2022? Das Patriarchat zieht seine Söhne heran. Vielleicht deshalb.

Aber gleichzeitig die Hoffnung, dass die Sichtbarkeit, die wir erlangt haben, uns nicht mehr genommen, die Netzwerke, die wir erschufen, uns nicht mehr entrissen und die kollektive Angriffslustigkeit nicht mehr gelöscht werden kann.

Das Patriarchat muss brennen. Auch im Literaturbetrieb.

Jovana Reisinger: Website | Instagram


* Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.

Thematisch verwandt:


[1] Vgl. Zur Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb, eine Studie von #frauenzählen, das verbandsübergreifende Forschungsprojekt im Literaturbetrieb und der AG Diversität, sowie des Instituts für Medienforschung der Universität Rostock. 1.10.2018, www.frauenzählen.de/studie_downloads.html

Autor*innen-Info

Profilbild Jovana Reisinger

Dies ist ein Gastbeitrag von Jovana Reisinger

Jovana Reisinger, geboren 1989 in München, aufgewachsen in Deutschland und Österreich, ist Autorin, Filmemacherin und bildende Künstlerin. Ihre Arbeitsgrundlage ist Text, ihre Motive kreisen ums Überleben in patriarchalen Strukturen, um Körperlichkeit, Rollenbilder, Stereotype. Ihr 2017 im Verbrecher Verlag erschienener Debütroman „Still halten“ wurde 2018 mit dem Bayern 2-Wortspiele-Preis, einem Aufenthaltsstipendium im Literarischen Colloquium Berlin sowie 2019 mit einem Aufenthaltsstipendium des Goethe Institut China ausgezeichnet. Ihr 2021 ebenfalls im Verbrecher Verlag publizierter zweite Roman „Spitzenreiterinnen“ wurde für den Bayerischen Buchpreis 2021 nominiert. Er handelt von neun Frauen, Sexismus und der Möglichkeit eines Happy Ends. Foto: © Tanja Kernweiß

Beitrag teilen

Facebook
WhatsApp
X
Pinterest
LinkedIn
Reddit
Email
Print
Facebook

Empfohlene Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Weitere Beiträge

Newsletter

Mit unserem monatlichen Newsletter seid ihr stets über die aktuellen Veranstaltungen, Themen und Artikel aus dem MON_Mag der Monacensia auf dem Laufenden.

Wir freuen uns auf euch!



Anmelden