Fabienne Imlinger über ihr Romanprojekt „Alles über meine Eltern“ und die Frage, warum sie mit dem Begriff der Autofiktion am liebsten subversiv umgeht, über ihren Literaturpodcast „Ich lese was, was du auch liest“ und warum Lesen empowern kann – siebte Folge der #AtelierMonaco-Szene*.
Fabienne Imlinger ist Autorin, Podcasterin, Literaturwissenschaftlerin und seit neuestem auch Mitstreiterin im Kollektiv des Glitch Bookstores. 1980 in Salzburg geboren, studierte sie Komparatistik und Gender Studies in Innsbruck, promovierte über „Hermaphroditische Anatomien“ und forschte an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit den Schwerpunkten Gender Studies und Postkoloniale Studien. Mit Martina Kübler betreibt sie den Buch-Podcast „Ich lese was, was du auch liest“. Für ihr Romanprojekt „Alles über meine Eltern“ erhielt Fabienne Imlinger 2021 das Literaturstipendium der Landeshauptstadt München.
Zusammen mit Georg Oswald kuratiert Fabienne Imlinger das atelier monaco – Das Sommerfest am 20. Juli 2024 von 15 – 21 Uhr.
Fabienne Imlinger: Über Literatur-Podcasting, Autofiktion und die Münchner Literaturszene
Du hast mich für unser Gespräch in den Glitch Bookstore in der Barer Straße 70 eingeladen – einen queerfeministischen Buchladen, der im November 2023 eröffnet hat. Was ist das für ein Ort?
Der Glitch Bookstore ist der Nachfolger von Lillemor’s Frauenbuchladen, Deutschlands erstem Frauenbuchladen überhaupt. Kurz vor dessen Schließung haben sich Ann Kristin Kristiansen, Nadine Osbild, Sebastian Pfotenhauer und Johanna Hopp zusammengetan und führen den Laden jetzt mit rund 30 weiteren Personen im Kollektiv. Ich finde es total wichtig, dass dieser Ort in München weiterexistiert und dass es ein Ort ist, an dem man einfach zusammenkommen kann, um sich zu treffen, miteinander zu reden und sich zu engagieren.
Neben deinem Engagement im Kollektiv des Glitch Bookstores beschäftigst du dich noch mit vielen anderen spannenden Dingen. Kennengelernt habe ich dich bei einer Lesung im Rahmen des Münchner Literaturstipendiums, das du 2021 für deinen Roman „Alles über meine Eltern“ erhalten hast. Worum geht es in deinem Roman?
Es ist ein Familienroman, der von einer jungen Frau handelt, die mit ihrem Sohn und ihrem Partner in München lebt. Und plötzlich stirbt der Vater. Aus der Trauer oder auch Nicht-Trauer entspinnt sich dann die Frage, was eigentlich verloren gegangen ist. Im Laufe der Handlung wird klar, dass die Mutter auch schon gestorben ist.
Der Roman setzt sich mit den Fragen auseinander: Wer sind wir, wenn die eigenen Eltern sterben? Was bleibt übrig von den Eltern? Wie sehr gehört deren Geschichte noch zu uns? Auf der Trauerreise der Protagonistin begleiten sie zwei Tanten, die ein bisschen chaotisch und skurril sind. Humor funktioniert für mich bei diesen ernsten Themen als eine Art Bewältigungsstrategie.
Ich musste bei deiner Lesung auch mehrmals lachen. Aber ich nehme an, die Funktion der Bewältigung ist nur ein Aspekt des Humors im Roman?
Ja, es hat auch etwas damit zu tun, dass ich ein bisschen einen Horror vor Sentimentalität und Pathos habe und das Bedürfnis, diese mit Humor zu brechen. Ich glaube, es gibt eine generelle Abwertung von Sentimentalität in der anspruchsvollen Literatur, und es ist natürlich viel cooler, einen ironisch distanzierten Roman zu schreiben.
Eigentlich finde ich das sehr schade. Aber man schreibt eben nicht in einem luftleeren Raum, sondern bekommt mit, was gerade im Trend liegt und veröffentlicht wird. Ein solcher Trend ist zum Beispiel die Autofiktion. Und natürlich reagiere ich dann bewusst oder auch unbewusst darauf, wenn ich an meinem Text sitze.
Autofiktion wird immer häufiger als Bezeichnung für Romane verwendet, die früher vielleicht unter dem Label autobiografisch liefen. Man neigt dazu, bei dieser Literatur die Autor*innen mit ihren Figuren gleichzusetzen, was natürlich falsch ist. Gleichzeitig hat diese Nähe einen totalen Reiz, mit dem auch gespielt wird.
Das Thema Autofiktion beschäftigt mich sehr – sowohl aus persönlichen als auch aus literaturwissenschaftlichen Gründen. Denn es ist genauso wie du sagst. Wer käme auf die Idee, Philip Roths Romane als Autofiktion zu bezeichnen? Kein Mensch. Aber es hat sich herausgestellt, dass ihm viele seiner Figuren extrem nahe kommen.
Lange Zeit wurde behauptet, dass Autobiografisches keine richtige Literatur sei, was ich ganz anders sehe. Ich bin ein Fan von subversiven Prozessen, bei denen es darum geht, sich genau das anzueignen, was eigentlich abgewertet wird – so wie bei „queer“. Deswegen verschleiere ich das auch bei meinem Text nicht, sondern sage, dass er autobiografisch ist.
Aber es gibt natürlich einen problematischen Aspekt, der nicht direkt literarisch ist, sondern ethisch. Wenn man über andere Leute schreibt, können die sich zumindest irgendwie dazu verhalten. Aber bei mir geht es um die Toten, die nichts mehr dazu sagen können. Und das ist genau die Frage, die mich umtreibt: Wie gehe ich damit um, dass es trotzdem nicht nur deren Geschichte, sondern auch meine ist?
Spätestens bei der Veröffentlichung deines Romans wirst du dich wahrscheinlich endgültig entscheiden müssen, wie du diese Frage zumindest für dich selbst beantwortest.
Tatsächlich habe ich gerade einen Essay über meine Mutter unter Pseudonym in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht. Ihn zu schreiben hat mich fertig gemacht, und als ich die Zusage für die Veröffentlichung bekommen habe, habe ich sogar überlegt, ihn zurückziehen. Ich habe mich gefragt, warum ich das eigentlich mache. Ich kann es tatsächlich ganz klar sagen: Ich mache es für meine Mutter und gleichzeitig gegen sie. Das ist eine große Ambivalenz, mit der ich umgehen muss und für die es auch keine Lösung gibt.
Anknüpfend an deinem eigenen Schreiben und schon zum nächsten Thema übergehend, möchte ich gerne wissen, welche Bedeutung das Lesen für dich hat. Beeinflusst es auch dein Schreiben?
Ein Grund, warum ich ganz lang überhaupt nicht auf die Idee kam, selber zu schreiben, war das Lesen. Oft sagen ja Autor*innen, dass sie ohne das Schreiben nicht leben könnten. Ich könnte ohne das Lesen nicht leben. Phasenweise gibt es Texte, die eine Inspiration für mein Schreiben sind. Ich lese in ihnen, wenn ich nicht gleich reinkomme ins Schreiben.
Aber es gibt auch Bücher, die ich nicht lesen will, weil ich denke, dass es genau das Buch ist, das ich selbst schreiben will: zum Beispiel „Otto“ von Dana von Suffrin. Als ich es dann doch gelesen habe, habe ich mich aber voll empowered gefühlt, weil das Buch so eigen ist und genau das macht, was es will. Es war gut für mich zu sehen, dass man so schreiben kann.
Ich frage natürlich auch wegen des Lesens, denn du machst seit gut vier Jahren zusammen mit Martina Kübler den Podcast „Ich lese was, was du auch liest“, der 2020 mit dem Buchblog-Award als Bester Newcomer ausgezeichnet wurde. Welches Konzept steckt dahinter?
Martinas Bild davon ist das eines Buchclubs: Man überlegt sich zusammen, welches Buch man liest und trifft sich dann einmal monatlich, um über das Buch zu reden. Und so funktioniert auch unser Podcast. Das Besondere daran ist, dass wir einerseits versuchen, anspruchsvoll über Literatur zu sprechen. Andererseits wollen wir das aber nicht so verstaubt wie im Feuilleton machen, sondern mit Witz und ein bisschen lockerer. In erster Linie besprechen wir Gegenwartsliteratur und versuchen dabei vor allen Dingen, ein diverses Autor*innen- und Themenspektrum abzubilden.
Mir hat besonders gefallen, dass ihr euren persönlichen Zugang zu den Büchern thematisiert und euch ihnen nicht nur literaturwissenschaftlich nähert. Obwohl ihr beide von der Uni kommt, schafft ihr es, euch davon abzugrenzen. Wie macht ihr das?
Es war voll schön, sich aus der Uni rauszubewegen und darin eine neue Freiheit zu entdecken. Wenn man in Unikontexten unterwegs ist, gibt es gewisse Dinge oder Interpretationen, die man auf keinen Fall sagen oder machen sollte. Natürlich versuchen wir immer Begründungen für unsere Argumentation zu finden. Aber in einem Podcast kann ich auch einfach mal sagen: „Oh Mann, diese Figur ist so cool. Ich wünschte, das wäre meine Schwester.“
Ich liebe an Literatur genau diese Möglichkeit, sich einfach in etwas reingleiten zu lassen und in ihrer Welt zu leben. Das wird in der Wissenschaft auf eine Art ausgeklammert, weil es da natürlich um andere Fragen geht. Aber es ist schön, dem auch einen Raum geben zu können.
2023 hast du dann einen weiteren Podcast, den Female Peace Palast Podcast, für die Kammerspiele und die Monacensia gemacht, in dem es um Frauen im Krieg und im Widerstand ging. Jetzt steht ein neues Projekt mit der Monacensia an: Zusammen mit Georg Oswald kuratierst du das atelier monaco – Das Sommerfest, mit dem ihr die Freie Szene Münchens feiert. Was bedeutet dir diese Szene?
Die Uni ist eine eigene Welt, in der man gar nicht mitbekommt, was eigentlich in Münchens Literaturszene passiert. Es gibt ein paar Figuren, die quasi Gestaltenwandler*innen zwischen diesen Paralleluniversen sind, wie zum Beispiel Tristan Marquardt oder Nora Zapf.
Ich lerne die Literaturszene erst jetzt kennen und habe das Gefühl, die Literaturszene in München ist wie ein Freundeskreis: Wenn du Person X kennst, dann kennst du über fünf Ecken auch Person Y. Es gibt einen schönen Umgang miteinander, man kommt schnell ins Gespräch und kann sich austauschen. Herausfordernd sind ja die Fragen: Wie kann Literatur weiterleben? Und vor allem: Wie schafft man Inklusion, also wie macht man, dass Literatur nicht eine so krass bildungsbürgerliche, weiße Institution ist? Diese Fragen stellen wir uns hier im Glitch Bookstore auch.
Ich glaube, wenn Literatur weiterleben will, dann ist es total wichtig, andere Orte, andere Texte, andere Autor*innen usw. zu finden und damit auch den Begriff von Literatur zu verändern und durchlässiger zu machen für andere Perspektiven. Deshalb finde ich eine freie Szene, die vielleicht barriereärmer ist und in der man andere Formate ausprobieren kann, wichtig.
Textauszüge aus Fabienne Imlingers Roman „Alles über meine Eltern“
Jona weckt mich, indem er „Will aufstehen!“ ruft, einmal, zweimal, zwanzigmal in rasch anschwellendem Crescendo. „Ich komme, mein Herz“, antworte ich und stehe auf. Verschlafen oder genervt oder guter Dinge gehe ich zu ihm und er erwartet mich mit seinen Geschichten, seilt sich mit allerlei Firlefanz von der Nacht ab und landet schließlich in meinem Schoß.
Nur dass ich nicht „Ich komme, mein Herz“, sage, sondern „J’arrive, mon cœur“. Die Sprache einer Toten, die ich weitergebe an mein Kind. Auch für ihn wird meine Mutter nicht mehr sein als ein Haufen Geschichten, die lose sich verbinden mit dem kleinen Porträtfoto einer Frau, das auf dem Regal im Wohnzimmer verstaubt. Runder Silberrahmen, roter Pullover, verhaltenes Lächeln. Eine Oma, die für immer vierzig ist und 2,5 x 3 cm groß.
(…)
Kein Wunder also, wenn ich mir neben Micha manchmal vorkomme wie ein Waisenkind aus einem Dickensroman. Niemand kann bezeugen, dass ich mir das alles nicht einfach ausgedacht habe. Meine einzigen Kronzeuginnen sind zwei alte Tanten in Marseille und die Sprache, die wir miteinander sprechen.
Selbst mir kommen sie unglaubwürdig vor, wie sie mit ihrem verronnenen Make-up im Türrahmen erscheinen. Zwei kleine Gestalten, die uns nach langer Fahrt überschwänglich zu sich herabziehen, uns hineinziehen, ab in die Küche mit euch und das Kind bekommt erstmal einen Lutscher. Das Kind, also Jona, sitzt zufrieden auf dem Schoß seines Vaters und betrachtet mit Interesse die verkrumpelten Zehen in den Tantensandalen.
„Er ähnelt deiner Mutter!“
„Mein Gott, was erzählst du da, Simone! Françoise hatte die Augen grün. Sie war ein echter grüner Pfeffer! Nein, Younès ist das spuckende Bild seines Vaters. Er ist blond mit blauen Augen, wie Michel. Ein echter Deutscher eben.“
„Du hast recht, Arlette. Younès ist ein richtiger kleiner Arier. Ein schönes arisches Baby habt ihr uns da gemacht.“
Schon gackern sie los, Vater und Sohn fallen wie auf Kommando mit ein, und auf Michas fragenden Blick hin übersetze ich mit umständlichen Erklärungen, wobei ich mich länger als nötig bei der eigentlichen und uneigentlichen Bedeutung des Wortes piment vert aufhalte. Die Tanten schauen erst mich an, dann den Deutschen, dann wieder das Kind, dann klatschen sie unvermittelt in die Hände und rufen: „Also was machen wir jetzt, essen wir oder töten wir die Katze?“
(…)
Ich holte Pizza beim Pizza-Treff und wir aßen zu dritt auf dem Boden im leergeräumten Wohnzimmer. Kurz sehnte ich mich nach dem Fernseher. An seiner Stelle blickten jetzt vier Dübellöcher auf uns herab. Die Wand wirkte geschunden mit ihren Abriebstreifen und den vereinzelten Nägeln, die wir ihr noch würden ziehen müssen.
Für Jona reihte sich der Abend auch ohne Fernseher ein in eine glorreiche Abfolge von Ausnahmen, zu der die Wochenenden seit Karls Tod geworden waren. Zoobesuche, Capri-Sonne, Schwimmnudeln und jetzt eben Picknick im Drinnen, einen Karton mit der Aufschrift ALLES als Tisch.
Er hatte aufgehört, nach Karl zu fragen. Hatte seine Abwesenheit akzeptiert und auch meine, wenn ich hierher kam, um zusammen mit Cora Sachen aus Regalen zu räumen. Zögerlich zuerst und dann immer schneller hatte sich Chaos aus ausgebreitet: Karl in Einzelheiten verstreut auf dem Boden, in Kartons, in Müllsäcken, und so weiter. Die Möbel standen herum wie abgenagte Gerippe, ließen schon an die Umrisse denken, die sie an der Wand und auf dem Fußboden hinterlassen würden.
Dann sahen sie wieder aus wie Möbel. Ich erstellte Anzeigen auf Ebay-Kleinanzeigen, brachte Säcke zum KleiderMarkt und versuchte herauszufinden, was man mit der Unterwäsche eines Toten macht.
Man wirft sie weg.
(…)
Von Weitem schon sah ich Simone hinter der Schranke am Ende des Bahnsteigs auf uns warten. Kurz bevor wir sie erreicht hatten, sah ich auch Julie, die neben ihr auf dem Boden saß. Ich küsste Simone, der Hund kläffte. Jona hielt müde und verschüchtert Michas Hand, in der andern eine abgehalfterte Plüschkatze namens Hallo.
„Was ist der, Papa?“
„Das ist ein Hund,“ antwortete ich. „Er heißt Julie.“
„Was hat er gesagt dieser kleine Mann?“
„Er hat gefragt, ob Julie eine Fledermaus ist oder ein Hund.“
Simone lachte, nickte Jona begeistert zu und erzählte ihm die Geschichte vom hässlichsten Hund der Welt. Jona sah erst Simone an, dann den Hund, dann Micha, dann wieder Simone. Als sie fertig war, sagte er: „Heute ist es halb zehn, aber der Abend!“ Und sie antwortete: „Sehr gut, mein Schatz!“, als wüsste sie, wovon er sprach.
Wir gingen durch die verwaiste Bahnhofshalle, vorbei an Soldaten mit Maschinengewehren, überquellenden Mülleimern und geschlossenen Bahnhofsläden. Eine Klaviermelodie tönte von irgendwoher, brach ab, setzt wieder ein.
*AtelierMonaco-Szene
Die Reihe „Atelier Monaco-Szene“ erscheint alle zwei Monate im Blog der Münchner Stadtbibliothek. In der ersten Staffel sprechen Katrin Diehl (1-6), in der zweiten Christina Madenach (ab Folge 7) mit Autor*innen über ihre literarischen Tätigkeiten, Netzwerke, eigene Verlage und literarische Lesereihen in München – es entsteht eine Kartografie der Atelier Monaco Szene in der Stadt.
- Daniel Graziadei: Über Lyrik und Performance, Schreibwerkstätten und die Münchner Literaturszene (8.10.2024) – 8
- Fabienne Imlinger: Über subversive Prozesse, Empowerment und eine freie Literaturszene in München (26.6.2024) – 7
- Theresa Seraphin: Experimentelles Schreiben und das richtige Maß an Ablenkung (25.4.2024) – 6
- Lisa Jeschke über Lyrik, Performance und politisches Schreiben (7.2.2024) – 5
- Jan Geiger über erste Schreibversuche, Schreiben als Beruf und Theatertexte (1.12.2023) – 4
- Annegret Liepold über die „Bayerische Akademie des Schreibens“, Schreibprozesse und „Franka“ (26.10.2023) – 3
- Christina Madenach über Schreibroutinen, Romanwerkstatt und die freie Literaturszene Münchens (9.8.2023) – 2
- Tristan Marquardt über Lyrik, literarische Netzwerke und Lesereihen in München (14.6.2023) – 1