Caféhauskultur – was bedeutet diese; und was bedeutet das Café als öffentlicher Raum für Frauen im Verlauf der Zeit? Welche Verbindung gibt es zur Selbstermächtigung der Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts? Sind Cafés anständige oder doch unanständige Orte? Und wenn ja, für wen und warum? Darauf blickt Annabelle Hirsch in ihrem Gastbeitrag für das Online-Magazin mon_boheme*.
Die Autorin wählte ein Objekt aus unserer Ausstellung #FrauenDerBoheme aus und schreibt darüber im Sinne ihres aktuellen Buches „Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten“. All diese Gegenstände seien mit Themen verbunden, „die Frauen tangieren“, erklärt sie in ihrem Vorwort: „Körper, Sex, Liebe, Arbeit, Kunst, Politik“. Warum also ist das Serviertablett aus dem Café Stefanie stiller Zeuge einer kleinen Revolution?
Caféhauskultur und Selbstermächtigung der Frauen: Annabelle Hirsch über das Tablett aus dem Café Stefanie
Vor einigen Wochen sprang mich in einer Ausstellung ein Bild an – oder besser gesagt ein Moment in einem Film. Es handelte sich um eine Dokumentation. Alice Schwarzer hatte Simone de Beauvoir Mitte der 1970er Jahre dazu überredet, sie eine Zeit lang mit ihrer Kamera verfolgen zu dürfen, um den Leuten nahezubringen, wer diese Frau war, die ihnen in ihrem Buch „Das andere Geschlecht“ vom Frau-Sein hatte erzählen wollen. In besagter Szenen sieht man die französische Schriftstellerin und Feministin in Rom. Sie kauft an einem Kiosk eine Zeitung, setzt sich an der Piazza Navona auf eine Terrasse, bestellt einen Espresso und vertieft sich in ihre Lektüre.
Eine Schriftstellerin sitzt in einem Café und informiert sich über die Welt. An sich, zumindest von unserer Perspektive aus gesehen, also der des Jahres 2023, von Deutschland, Europa, insgesamt der westlichen Welt, nichts Besonderes. Zum einen sitzen Frauen andauernd in Cafés, zum anderen ist Simone de Beauvoir für ihr „im Café Sitzen und Schreiben“ bekannt. Ihr ist es zu verschulden (oder zu verdanken, je nachdem), dass junge Frauen, die vom Schreiben träumen, mindestens einmal in ihrem Leben einen Nachmittag lang überteuerten Kaffee im „Café de Flore“ in Paris schlürfen und hoffen, der Akt des hier Sitzens und irgendwas in ein Heft Kritzelns möge vielleicht genügen, um mit Genialität gesegnet zu werden.
Die römische Szene müsste so gesehen unbemerkt bleiben, ein banales Stück Alltag, in einem wenig banalen Leben. Nur ist sie in Wahrheit markanter und vielsagender, als es auf den ersten Blick scheint. Weil Beauvoir es sich rausnimmt, als erwachsene Frau hier zu sitzen, ohne Kinder, ohne Mann, einfach so, alleine, weil es geht. Vor allem aber, weil sie nicht die Einzige ist, die das tut. Um sie herum sind fast nur Frauen zu sehen. Junge und alte, allein oder zu zweit. Sie unterhalten sich, beobachten das Treiben auf der Piazza, lesen, tun nichts. Damit stehen sie für einen Wandel in der Art und Weise, wie Frauen den öffentlichen Raum – und darin ganz besonders das Café – als kleine Version der Agora bewohnen und für sich einnehmen.
Die Bedeutung des Cafés im Kampf um Selbstbestimmung
Dieser Umbruch, der uns das Bild heute so selbstverständlich erscheinen lässt, wurde um die Jahrhundertwende in verschiedenen Ecken Europas in Gang gesetzt. Unter anderem durch Vorfahrinnen von Beauvoir. Also denkende, schreibende, sich ihre Freiheit erkämpfende Frauen, darunter die der Münchner Boheme: Emmy Hennings, Margarete Beutler, Franziska zu Reventlow und andere.
In der Ausstellung „Frei leben! Die Frauen der Boheme. 1890–1920“ der Monacensia liegt ein Gegenstand, der diskret auf die Bedeutung des Cafés im Kampf um ein selbstbestimmtes, künstlerisch aktives Leben hinweist: ein Serviertablett aus dem berühmten Künstlertreff „Café Stefanie“. Auf den ersten Blick wirkt dieses mattsilberne Metallstück ähnlich bedeutungslos wie die Szene aus dem Beauvoir-Film: alltäglich, irrelevant, banal. Nur kann man es bei genauerem Hinsehen und Hinhören auch als etwas anderes sehen als nur ein Stück Metall, auf dem Getränke durch die Gegend transportiert werden.
Nämlich als stillen Zeugen einer kleinen Revolution. Als konstitutives Element eines Raumes, in dem künstlerisch ambitionierte Frauen einen ihrer ersten Zufluchtsorte in der Öffentlichkeit fanden. Einen Raum, der ihnen Schutz bot, ohne ihren Abenteuergeist zu ersticken und sie aus dem huis clos der Kleinfamilie, diesem im 19. Jahrhundert so verbreiteten und Frauen erdrückenden bourgeoisen Ideal, herausriss. Einen Platz, an dem sie frei leben oder zumindest den Versuch dazu starten konnten, sich unter Männer, Künstler, Dichter, Sonderlinge mischten und in der Freundschaft nicht selten eine Alternativfamilie fanden. Oder um 1896, als die Künstlerkneipe „Stefanie“ an der Ecke Amalien-/Theresienstraße eröffnete, langsam anfingen zu finden.
Frauen als Fremdkörper im männlichen Raum
Immerhin war es Frauen noch wenige Jahrzehnte zuvor strikt untersagt gewesen, Cafés, Kneipen und ähnlich unzüchtige Orte zu besuchen. Jene, die doch hineinkamen, wurden als Fremdkörper im „männlichen Raum“ wahrgenommen und dementsprechend behandelt. Man ging davon aus, dass sie zum Vergnügen der Herren, nicht um ihrer selbst willen da waren, und interpretierte ihre Anwesenheit als Zeichen ihrer Verdorbenheit. Die Logik dahinter war unschlagbar: Eine anständige Frau geht nicht ins Café, sondern sitzt zu Hause mit den Kindern.
Wenn eine Frau im Café sitzt, ist sie zweifellos unanständig – oder auf dem besten Weg, es zu werden. Gemälde aus dem Frankreich ab 1850 bilden das gut ab: Die Frauen, die dort in den Bistros und Cafés stehen oder sitzen, sind entweder Kellnerinnen, Prostituierte oder schlicht gebrochene, vom sogenannten geraden Weg abgekommene Damen. Ewa die im Bild „L’Absinthe“ von Edgar Degas aus dem Jahr 1876: Eine junge Frau sitzt dort mit langem Rock und bauschigen Hut auf der Bank eines Cafés und starrt traurig vor sich hin. Vor ihr ein grün leuchtendes Glas Absinth, sie versucht eindeutig, ihren Kummer im Alkohol zu ertränken. In dieser Darstellung ist das Café nicht der Ort ihrer Selbstfindung oder ihrer Emanzipation, nicht der an dem etwas für sie beginnt, sondern vielmehr die Endstation eines gescheiterten Lebensentwurfs. Es ist, als wolle der Maler den Frauen sagen: Schaut hin, der Ausbruchsversuch in „unsere Sphäre“ lohnt sich nicht, bleibt lieber zu Hause, sonst endet es böse.
Frauen erobern sich ihren Platz im Café
Und auch wenn sich der Blick auf Frauen im Café um die Jahrhundertwende zunehmend wandelte, roch der Gang dorthin drei Jahrzehnte später immer noch nach Ausbruch. Ins Café gehen war eine Ansage. Im Stefanie sitzen hieß: Ich will mehr, als nur Hausfrau und Mutter sein. Ich will sehen und gesehen werden, schreiben, denken, leben, lieben. Ich will sein, ich will leben. Das Café war, wenn man so will, der Rahmen für eine Existenz, die, wie Franziska zu Reventlow schrieb, „frei, ganz frei“ sein sollte. Nicht umsonst taucht das „Café Stefanie“ in den Texten der Schriftstellerinnen immer wieder auf.
Bei Magarete Beutler ist das Café ein Ort, an dem eine Frau in aller Öffentlichkeit Schach spielen kann, rauchend natürlich. Bei Emmy Hennings ist es einer, an dem sie Menschen trifft, die sie inspirieren, eine Wahlfamilie, die ihr neue Welten öffnet. Es ist aber auch einer, an dem die Realität sich abzeichnet, etwa die ökonomischen Lebensbedingungen einer künstlerisch tätigen Frau der Zeit, die sie in „Das Brandmal“ eindrücklich beschreibt. Rosig war es nicht:
Heut früh war ich so ergriffen, dass ich ins Cafe gegangen bin, als könne ich der Zeit entfliehen. Aber sie ist mir gefolgt. (…) Ich habe ein Butterbrot bekommen und eine Tasse Kaffee, und dafür lege ich mein irrsinniges Zehnmarkstück auf den Marmortisch. Für dieses Zehnmarkstück wurde ich selbst auf den Tisch gelegt, es wurde mit mir bezahlt. (…) Der Kellner ahnt nichts. Weiß nicht, woher das Geld stammt, ahnt nicht, dass ich selbst das Zehnmarkstück bedeuten soll …
Ob er wohl dieses Tablett in der Hand hielt, während er sie bediente?
In einem anderen Text von Hennings taucht das Café mehr als Ort der weiblichen Solidarität auf:
Die Dichterin Else Lasker-Schüler kam des Weges daher, sah mich weinen, fragte, warum, aber das war zuviel gefragt. Die Dichterin war sehr lieb zu mir, nahm mich mit ins Café Stephanie und ließ mir sofort einen Apfelkuchen mit Schlagsahne bringen. Da wurde mir etwas besser zumute, aber das linke Auge war sehr geschwollen und tat mir weh; Else Lasker-Schüler bestellte sofort eine Serviette und eine Schüssel mit frischem Wasser. Ja, und essigsaure Tonerde wünschte sie auch noch.
Apropos Else Laske-Schüler: Sie beschreibt vielleicht am besten, wie bedeutend das Café beziehungsweise der Akt des Ins-Cafe-Gehens für Frauen war und was er repräsentierte. Nämlich die Möglichkeit, sich selbst und die eigene Rolle im Leben zu vergessen, abzuschalten, offen für andere zu sein. Dass dies in den Augen einiger Männer damals, in manchen Fällen sicher noch heute, eine Gefahr darstellte, leuchtet ein. In ihrem Roman „Mein Herz“ schreibt sie dazu:
Er bat mich, er drängte mich, nicht mehr ins Café zu gehen. Es war mir so zärtlich zu gehorchen, ich ging am selben Abend nicht mehr ins Café. Am anderen Abend war ich wieder dort; er war sehr traurig, als er da sagte, er hätte eine Schlacht verloren. (…) Aber, es gibt ja nichts Objektiveres wie das Café, nachdem man in seiner Literatur am Schreibtisch zu Haus die Hauptrolle gespielt hat. Entzückend, sich abzuschütteln, seine intensivste Last. Sagt, ihr beide, kann mir das Café schaden oder nicht? (…) Soll ich mich nun von – „ihm“ – trennen und ins Café zurückkehren oder soll ich bei ihm bleiben?
Eine neue Wahrnehmung der Frau im Café
Die meisten dieser Frauen, die nach einem neuen Lebensentwurf suchten, wählten im Zweifel sicher lieber – und zu Recht – das Café als den Mann. Und sie beteiligten sich durch das, was sie dort erlebten, beobachteten und anschließend in diverser Form aufschrieben, maßgeblich daran, den Platz der Frauen in diesem Raum zu festigen. Ein weiterer kurzer Exkurs in die Malerei zeigt, wie gut das schon wenige Jahrzehnte später funktioniert zu haben scheint. So zeigt schon Otto Dix 1926 in „Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden“ eine neue Wahrnehmung der „Frau im Café“: Anders als fünfzig Jahre zuvor die Absinth-Dame von Degas wirkt diese hier nicht, als sei sie am falschen Ort, in der falschen Sphäre gelandet. Im Gegenteil: Sie nimmt den Raum ganz ein, beherrscht ihn, ist stark und selbstbewusst, dieser Platz gehört ihr. Von Traurigkeit und Hilflosigkeit ist hier keine Spur zu sehen – was uns zurück zu Beauvoir und den so selbstverständlich im Café sitzenden Ladys der Piazza in Rom bringt. Das Bild hat sich peu à peu durchgesetzt und normalisiert.
Wobei! Ganz so einfach wird das Verhältnis von Frauen und dem Café als Ort des geistigen Flanierens auch heute nicht sein. Oder, um es mit den Worten der französischen Schriftstellerin Leila Slimani zu sagen:
Wenn ein Mann nachmittags allein im Cafe sitzt und liest oder schreibt, findet man das romantisch. Wenn eine Frau das tut, sagen die Leute: Die nimmt sich aber was raus! Warum ist sie nicht bei ihren Kindern?
Mehr Infos zu „Die Dinge“ gibt es bei Kein & Aber.
* Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.