Die belarusische Lyrikerin Volha Hapeyeva thematisiert in ihrem Gedicht „trink, kindchen, trink“ Abtreibung und ihre Praktiken im Verlauf der Zeiten. Diese mögen sich ändern, doch die damit verbundenen Gefühle bleiben gleich – Schuld und Angst, verursacht durch patriarchalische Erziehung. Noch immer kämpfen Frauen in aller Welt für die Selbstbestimmung über ihren Körper. Das verbindet sie mit #FrauenDerBoheme.
Wir präsentieren das Gedicht im Original, in der Übersetzung von Matthias Göritz sowie einen Kommentar der Autorin für das Online-Magazin mon_boheme.
Вольга Гапеева / Volha Hapeyeva пі дзетанька пі піжма шалфей канюшына лаўровае лісце багун пі дзетанька пі малако з ёдам касторку з апельсінавым сокам не чуеш? аглухла ад хіны? не ты першая не ты апошняя дзякуй мая харошая за адказ на незададзенае пытанне выпрабаванне горшае за раненне магло скалечыць жыццё заняла грошай рэчаў узяла больш-менш каштоўных і паехала шукаць добрага дзядзю ці цёцю пі дзетанька пі не падумайце што вар’ятка проста выбару ў мяне няма доктар у горадзе ехаць туды няма грошай і малога няма з кім пакінуць муж на працы заўсёды і яшчэ крэдыты пі дзетанька пі асудзіць можа кожны калі ж сама на мяжы стаіш разумееш іншых я не хацела але ўсе былі супраць думала што палюблю але не – кожны дзень слёзы пі дзетанька пі можаш як і сто год таму скочыць са стала бінтавацца як найтужэй з’есці пораху ці тоўчанага бурштыну або фосфару каб потым доктар напісаў што з вядомых яму 13 выпадкаў усе 13 памерлі засаджвай сябе цыбуляй вырошчвай унутры фікусы і філадэндраны торкай у сябе конскі волас галіны жалезныя стрыжні памятаеш як у газавай камеры – раз і ўсё выйшла так і ў ванне дзе нясцерпна сядзець ад кіпеню але яна сядзіць бо сорам і вусціш заўсёды побач угаворваюць патрываць прапаноўваюць тысячы варыянтаў з якіх 999 несумяшчальны з жыццём але сумяшчальныя з годнасцю выдуманай тымі самымі сорамам і вусцішу
trink, kindchen, trink rainfarn salbei klee lorbeer wilder rosmarin trink, kindchen, trink milch mit jod rizinusöl mit orangensaft hörst du mich nicht? bist vom chinin schon taub geworden? bist nicht die erste nicht die letzte danke, meine gute, für antwort auf die nicht gestellte frage diese bewährungsprobe ist schlimmer als verletzt zu werden könnte mein leben lähmen ich hab mir geld geliehen und wertsachen dabei und ging auf die suche nach einem guten onkel oder einer guten tante trink, kindchen, trink glaub nicht, dass ich verrückt bin, ich hatte einfach keine wahl der arzt ist in der stadt kein geld da, um dorthin zu fahren, niemand, der bei der kleinen bleibt der mann immer auf arbeit und die kredite trink, kindchen, trink verurteilen kann jeder doch wenn du selbst an diesem abgrund stehst verstehst du andere ich wollt es nicht, doch alle waren dagegen ich hatte gehofft, ich könnte es irgendwann lieben doch nein – ich weine jeden tag trink, kindchen, trink oder wie vor hundert jahren: spring vom tisch, schnür dich so fest du kannst iss etwas schießpulver oder zerstoßenen bernstein oder phosphor damit der arzt dann später schreibt dass von den 13 ihm bekannten fällen alle 13 starben pflanz in dich zwiebeln ein lass ficusse und philodendren in deinem innren wachsen stoß dich mit einem rosshaar, ästen, eisenstangen erinnerst du dich, wie es in der gaskammer war – schwupps kam alles raus wie in der badewanne, wenn es unerträglich wird im kochend heißen wasser zu sitzen doch sie sitzt trotzdem drin denn scham und angst sind immer da reden auf sie ein, sie soll geduldig sein bieten ihr tausend möglichkeiten 999 davon sind mit dem leben unvereinbar doch mit der würde sind sie vereinbar erfunden von der gleichen angst und scham übersetzt von Matthias Göritz
Volha Hapeyeva – über Abtreibung und ihre poetische Verarbeitung
Das Gedicht schrieb ich 2018 als Stipendiatin im Literarischen Colloquium Berlin. Es gehört (im weiteren Sinne) zu den sogenannten politischen Gedichten. Diese befragen und aktualisieren bestimmte philosophische und soziale Problematiken wie Krieg, Heldenkonzepte, Körper, Sprache etc. durch reale Geschichten von Menschen. Ich recherchiere viel für solche Gedichte. Mithilfe einer poetischen Sprache verarbeite ich darin auch die Erfahrungen anderer Menschen.
Frauen, Körper und patriarchalischer Diskurs
„trink, kindchen, trink“ problematisiert die Beziehung zwischen Frauen und ihren Körpern im patriarchalischen Diskurs. Wenn man die Erfahrungen vieler Frauen aus verschiedenen Generationen und Kulturen untersucht und vergleicht, dann stellt man fest: Sogar der Wunsch einer Frau, ein Kind zu bekommen – oder eben nicht –, wird ihr von der patriarchalischen Gesellschaft aus der Hand genommen.
Frauen können es sich oft nicht leisten, ein Kind zu bekommen. Sie müssen befürchten, von der Gesellschaft und selbst der eigenen Familie (wenn sie nicht verheiratet sind) verurteilt und geächtetzu werden. Das veranlasst sie dazu, heimlich abzutreiben. Denn der Gang in die Klinik würde bedeuten, dass sie die Tatsache der Schwangerschaft sichtbar machen. Und selbst in ärztlichen Einrichtungen ist die Einstellung der Ärzte gegenüber Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, äußerst negativ (ich beziehe mich dabei vor allem auf die Erfahrungen sowjetischer und postsowjetischer Frauen).
Wenn man liest, zu welchen Maßnahmen Frauen greifen, um eine Schwangerschaft abzubrechen, ist das grauen- und schmerzvoll. Man erkennt auch, wie groß der Einfluss der patriarchalischen Erziehung auf das persönliche Verhältnis der Frauen zu ihrem eigenen Körper ist. Es ist so groß, dass sie bereit sind, sich extrem schmerzhaften Operationen zu unterziehen. Diese kommen einer brutalen Folter gleich, nur um in den Augen der Gesellschaft nicht als „schlecht“ oder „gefallen“ zu wirken. Die Gründe für eine Abtreibung mögen bei den Frauen unterschiedlich sein. Das Ergebnis ist in den meisten Fällen aber dasselbe – verstümmelte Körper und verletzte Seelen, wenn nicht gar der Tod.
In dem Gedicht führe ich Beispiele für solche Verfahren an, zu denen Frauen gegriffen haben – und in vielen Ländern leider immer noch greifen müssen –, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Nach der Lektüre einer Reihe von Büchern, Memoiren und Beiträgen in Internetforen kann man feststellen, dass sowohl die geografischen als auch die zeitlichen Umstände sehr unterschiedlich sind. Die Gefühle, die eine in die Enge getriebene, verzweifelte Frau empfindet, sind jedoch stets dieselben: Angst und Schuld.
Das Wichtigste für Frauen (wie auch für Männer und andere Geschlechter) ist, dass sie das Recht haben, selbst zu entscheiden. Und dass sie Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung erhalten. Wie so viele Menschen wünsche ich mir, dass ein Gedicht wie „trink, kindchen, trink“ dann gar nicht mehr nötig wäre.
Volha Hapeyeva, geboren in Minsk (Belarus), ist Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin und promovierte Linguistin. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Ihre Gedichte wurden in mehr als 15 Sprachen übertragen. Sie ist Autorin von 14 Büchern auf Belarusisch. Auf Deutsch erschienen der Lyrikband „Mutantengarten“ (Edition Thanhäuser, 2020) und der Roman „Camel Travel“ (Droschl Verlag, 2021), der Essay „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“ (Verbrecher Verlag, 2022). 2021/2022 ist sie Stipendiatin des PEN-Zentrums Deutschland, 2022 – DAAD Artists-in-Berlin Fellow. Sie wurde 2022 mit dem Wortmeldungen-Literaturpreis ausgezeichnet.
Siehe Website der Autorin: https://hapeyeva.org
Das Projekt wird gefördert im Programm
* Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.