Margarete Böhme und das „Tagebuch einer Verlorenen“ – Mehr als ein Prostitutionsroman | #FrauenDerBoheme

Margarete Böhme: Ausstellung „Schauplatz Husum", Nordfriesland Museum. Foto: Museumsverbund Nordfriesland. #FrauenDerBoheme

Margarete Böhme schreibt über das Schicksal der Frauen um 1900 am Rand der Gesellschaft. In ihrem Erfolgsroman „Tagebuch einer Verlorenen“ seziert sie mit scharfer Beobachtungsgabe den Wandel der Gesellschaft und deren Kehrseite – ein Gastbeitrag für das Online-Magazin mon_boheme zur Ausstellung #FrauenDerBoheme.

Margarete Böhme: Ausstellung „Schauplatz Husum", Nordfriesland Museum. Foto: Museumsverbund Nordfriesland. #FrauenDerBoheme
Margarete Böhme: Ausstellung „Schauplatz Husum“, Nordfriesland Museum. Foto: Museumsverbund Nordfriesland. #FrauenDerBoheme

Wenn die Lektüre zum Nachdenken anregt und der Leser sich dabei vergegenwärtigt, dass kein Mensch, und stünde er noch so fest und hoch, mächtiger als sein Fatum ist, dass weder Wohlhabenheit noch Bildung, noch geachtete bürgerliche Stellung Tod und Unglück Schach bieten, … – wenn er daraus die Schlussfolgerung zieht, dass man nicht konsequent in gedankenloser Gleichgültigkeit oder mit liebloser Verachtung an jenen Unglücklichen vorübergehen, sondern die Augen offen halten soll, um zu schauen, und Laster und Unglück zu trennen – dann ist der Zweck dieser Veröffentlichung erreicht. Dann hatte Thymian nicht umsonst ihres verfehlten Lebens Daten fixiert … Vielleicht war dann ihr Leben nicht einmal ein „verlorenes“.

So schreibt Margarete Böhme im Vorwort ihres Romans „Tagebuch einer Verlorenen“. Der Roman entstand im Jahr 1905 und sollte sich zu dem erfolgreichsten der nordfriesischen Autorin entwickeln: Er wurde in 14 Sprachen übersetzt und dreimal verfilmt. Zahlreichen Bühnenstücken diente der Text als Vorlage. Trotz ihres kommerziellen Erfolges kennt heute kaum noch jemand Margarete Böhme. Dies vor allem auch deshalb, weil nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ihre Schriften nicht mehr verlegt wurden. Waren Böhmes Werke doch zu sozial- und gesellschaftskritisch. Umso wichtiger erscheint es, sich an die Autorin und ihr literarisches Werk zu erinnern. 

Margarete Böhme – Lebensweg und schriftstellerische Laufbahn

Margarete Böhme wurde als Wilhelmine Margarete Susanna Feddersen am 8. Mai 1867 in Husum geboren. Sie wächst in behüteten und fürsorglichen Verhältnissen auf, gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer Großtante. Letztere ist Lena Wies, die Theodor Storm liebevoll „Märchentante“ nannte. Denn sie schaffte es, ihre Geschichten so lebendig zu erzählen, dass sie ihn – und sicherlich auch Margarete Böhme – in ihrem Schaffen inspirierte. Als die Tante im Alter von 71 Jahren verstirbt, prägten nicht nur die von ihr erzählten alten Erzählungen, Märchen und Spukgeschichten die Kinder- und Jugendzeit von Margarete Böhme, sondern auch das von gegenseitigem Respekt, Fleiß und Liebe getragene Elternhaus. 

Schon früh beginnt sie, sich selbst Geschichten von Prinzessinnen und Nebelfrauen auszudenken. Sie absolviert die Höhere Töchterschule. In dieser Zeit entstehen die ersten schriftstellerischen Versuche: Der Hamburger Roman „Das Geheimnis der Rosenpassage“ wird sogar in der Hamburger Novellenzeitung abgedruckt. Weitere Erzählungen und Romane erscheinen in verschiedenen Wochenblättern, entweder unter ihrem Mädchennamen Margarete Feddersen oder unter ihrem Pseudonym Ormános Sandor.

Margarete Böhme im Kreis ihrer Familie. Foto: Angelika Zöllmer-Daniel. #FrauenDerBoheme
Margarete Böhme im Kreis ihrer Familie. Foto: Angelika Zöllmer-Daniel. #FrauenDerBoheme

Nach ihrer Schulzeit hält sie sich längere Zeit in Hamburg und Wien als Journalistin auf und arbeitet als Berichterstatterin für norddeutsche und österreichische Zeitungen. 1894 heiratet Margarete im Alter von 27 Jahren den um zwanzig Jahre älteren Zeitungsverleger Friedrich Böhme aus Boppard am Rhein. Am 13. Februar 1895 kommt ihre Tochter Katharina Margaretha zur Welt. Die Ehe verläuft unglücklich; nach nur sechs Jahren wird Margarete Böhme schuldlos von ihrem Mann geschieden. Sie verzichtet auf alle Unterhaltsansprüche, kann so das Sorgerecht für ihre Tochter behalten und zieht zusammen mit ihr und ihrer Haushälterin von Boppard nach Berlin. 

In der Großstadt baut sie sich mit unermüdlichem Fleiß eine Existenz als Schriftstellerin auf. Zunächst gestaltet sich dies schwierig. Margarete Böhme ist zu ständiger Produktion genötigt, um ihre Existenz und die ihrer Tochter zu sichern. Als sie das Angebot erhält, Fortsetzungsserien für große ostdeutsche Zeitungen zu schreiben, bessert sich die finanzielle Lage. 1905 gelingt ihr mit „Tagebuch einer Verlorenen“ endlich der Durchbruch auf dem Buchmarkt. 

Dank dieses Bucherfolges kann Margarete Böhme sich fortan ohne Geldsorgen in Ruhe um die Ausgestaltung ihrer Romane kümmern. So entsteht im Laufe der folgenden Jahre ein umfangreiches Werk von über vierzig Romanen, Erzählungen, Novellen und Skizzen.

1911 heiratet Margarete Böhme ein zweites Mal; diesmal den Brotfabrikanten Theodor Schlüter aus Berlin. Sie besteht auf einem Ehevertrag, der unter anderem festlegt, dass allein sie über die Tantiemen aus ihrer schriftstellerischen Arbeit zu verfügen hat. Margarete Böhme hält den Kontakt nach Husum. Oft besucht sie zusammen mit ihrer Tochter die Eltern in der Heimatstadt.

Nach dem Tod ihres zweiten Mannes 1927 siedelt Margarete Böhme 1930 von Berlin nach Hamburg-Othmarschen in die Nähe ihrer Tochter über, die dort inzwischen mit ihrer eigenen Familie lebt. Am 23. Mai 1939 stirbt sie im Alter von 72 Jahren in Hamburg. 

Margarete Böhme und ihre Tochter. Foto:Angelika Zöllmer-Daniel. #FrauenDerBoheme
Margarete Böhme und ihre Enkelin. Foto:Angelika Zöllmer-Daniel. #FrauenDerBoheme

Margarete Böhme und ihre Werke – Schicksal von Frauen am Rand der Gesellschaft

Margarete Böhmes Werk zeichnet sich durch eine hervorragende Beobachtungsgabe und durch ihr hohes Einfühlungsvermögen aus: Sie

  • nimmt mit wachem Auge die Geschehnisse in ihrer Umwelt wahr, 
  • beschreibt den Wechsel von der Agrar- zur Industriegesellschaft und 
  • erzählt vom unaufhaltsamen Wandel in Wissenschaft und Technik und seinen Auswirkungen auf die damaligen beruflichen und gesellschaftlichen Strukturen. 

Insbesondere hat sie dabei das Schicksal der Frauen ihrer Zeit im Blick. So beschreibt sie 

  • das Leben der lohnabhängigen Verkäuferinnen in den Warenhäusern (W.A.G.M.U.S., 1911),
  • die unmenschlichen Arbeitsverhältnisse der Telefonistinnen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (Christine Immersen, 1913),
  • das Thema Kindsmord und das damit einhergehende Stigma (Johann, 1906), 
  • das Thema Prostitution (Tagebuch einer Verlorenen, 1905). 

Es sind vor allem diese Frauengestalten, an denen Margarete Böhme den Wandel der Gesellschaft und deren Kehrseite aufzeigt. Sie liefert damit aufschlussreiche Beiträge zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte, die aufs Engste mit den sozioökonomischen Veränderungen jener Zeit zusammenhängt. Stets geht es um einen menschlichen Blick auf mitunter unmenschliche Verhältnisse, um Anteilnahme am Schicksal gerade derjenigen, die abgeschoben und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. 

Porträt von Margarete Böhme. Foto: Angelika Zöllner-Daniel. #FrauenDerBoheme
Porträt von Margarete Böhme. Foto: Angelika Zöllner-Daniel. #FrauenDerBoheme

„Tagebuch einer Verlorenen“ – eine Gesellschaftsanalyse: mehr als ein Prostitutionsroman

Besonders deutlich wird ihre analytische Wahrnehmung der Gesellschaft in ihrem Erfolgsroman Tagebuch einer Verlorenen. Behandelt er doch das Thema Prostitution und das Verhältnis der Gesellschaft um die Jahrhundertwende zu den damaligen Sexarbeiterinnen. Beschrieben wird in diesem Roman die Geschichte der noch minderjährigen Thymian. Sie wird durch die Vergewaltigung eines Kollegen ihres Vaters schwanger, daraufhin verstoßen und rutscht aus der Not heraus in die Prostitution. 

Man kann sich vielleicht nur vorstellen, welchen Skandal dieser Roman im Jahr 1905 für die Gesellschaft bedeutete. Denn fest verhaftet war der Gedanke, dass Prostituierte gefallene, lasterhafte Frauen waren. Nun zwang Margarete Böhme ihre Leserschaft explizit dazu – konfrontiert mit der minderjährigen, aus bürgerlichen Verhältnissen stammenden Protagonistin Thymian – sich mit diesen „unangenehmen“ Themen auseinanderzusetzen. Denn schließlich geht es in Tagebuch einer Verlorenen um 

  • Prostitution, 
  • Pädophilie, 
  • Vergewaltigung, 
  • uneheliche Schwangerschaft, 
  • sexuellen Missbrauch, 
  • Machtmissbrauch und 
  • das damalige Erziehungssystem. 

Margarete Böhme legte mit diesem Roman den Finger tief in die Wunden der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Sie stellte damit offen die Frage, was jeder Einzelne dazu beitragen konnte, Schicksale wie das von Thymian zu verhindern. Dies gelang der Autorin auch mit einem besonderen Stilmittel: Sie wählte die Form eines Tagebuches, das es bis zum Schluss offenhielt, ob sich diese Geschichte genauso abgespielt hatte. Sie ermöglichte damit einen direkten Zugang zu Thymians Erleben und erreichte ihre Leserschaft emotional. 

Umgehend nach Erscheinen des Romans erhielt Margarete Böhme Post von der „Sittenpolizei“, die eine Zensur des Romans forderte. Margarete Böhme kämpfte juristisch erfolgreich dagegen an. Darüber hinaus offenbarten zahlreiche an sie adressierte Leserbriefe ähnliche Schicksale wie das von Thymian. Frauen erzählten von Missbrauch und Vergewaltigungen. Sie erzählten von Bekannten, die in Ehen gezwungen wurden, aufgrund von unehelichen Schwangerschaften und gewalttätigen Ehemännern. 

Der Roman berührte die Menschen auf vielseitige Art und Weise. 1929 nahm sich der große Filmregisseur der Weimarer Republik Georg Wilhelm Pabst den ungewöhnlichen Romaninhalt vor. Er verfilmte ihn mit Louise Brooks, der Hollywood-Ikone der 1920er Jahre, und verhalf dem Buch so endgültig zu Beliebtheit – und damit auch Margarete Böhme. Dieser Ruhm erfuhr aber ein jähes Ende, als nach der Machtergreifung Hitlers all ihre Werke nicht mehr verlegt wurden. So geriet die einstige Erfolgsautorin langsam in Vergessenheit

Seit einigen Jahren kämpft der Husumer Frauenverein 5plus1 darum, Margarete Böhme wieder in den Fokus der Öffentlichkeit zu stellen – mit Erfolg: Ihre Werke wurden neu aufgelegt. Margarete Böhme ist eine von vielen weiteren, erfolgreichen und kreativen Frauen des 19. Jahrhunderts, die schon früh auf die Schicksale und Lebenswege von Frauen aufmerksam gemacht haben, und die darüber die Gesellschaft zu verändern suchten. 

Autorin: Tanja Brümmer

Museumsverbund Nordfriesland
Herzog-Adolf-Str. 25
25813 Husum
www.museumsverbund-nordfriesland.de


* Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.

Autor*innen-Info

Profilbild Tanja Brümmer

Dies ist ein Gastbeitrag von Tanja Brümmer

Tanja Brümmer wurde 1978 in Flensburg geboren. Nach ihrem Studium der Ur- und Frühgeschichte, der forensischen Anthropologie und Museumswissenschaften an der CAU in Kiel und der Universität in Lund war sie für verschiedene Museen in Schleswig-Holstein tätig. Seit 2016 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Museumsverbund Nordfriesland und als Dozentin an der Europa-Universität in Flensburg. Ihre Schwerpunkte sind zum einen die Mittelalterarchäologie sowie das Leben von Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Seit Mai 2022 ist sie Leiterin des Museumsverbundes Nordfriesland.

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