In einer «Atmosphäre von Verdummung und Verbohrtheit» – so Thomas Mann 1926 über das Klima, in dem die Anstellung der Jüdin Ida Herz an der Münchner Stadtbibliothek scheiterte. Obwohl Direktor Hans Ludwig Held sie unterstützen wollte, verhinderte Antisemitismus ihre Aufnahme. Aus der Arbeit an Manns Bibliothek erwuchs ihre Sammelleidenschaft – und das erste «Thomas-Mann-Archiv». Eine Geschichte von Ausgrenzung, Beharrlichkeit und Erinnerung.
Ida Herz und der Anfang im Hause Thomas Manns
Eigentlich wollte Ida Herz in der Buchhandlung Hugendubel arbeiten. Ende Juni 1925 reist die Nürnberger Buchhändlerin dafür nach München, stellt sich im Geschäft am Salvatorplatz vor und bekommt tatsächlich eine mündliche Zusage. Direkt im Anschluss besucht sie Thomas Mann in der Poschingerstraße. Als der über die große Unordnung seiner Bibliothek und die täglich hereinströmenden Büchermassen klagt, fassen die beiden einen – wie sich herausstellen soll – folgenreichen Entschluss: Ida Herz soll in ihrer freien Zeit neben der zukünftigen Arbeit Thomas Manns Bibliothek ordnen und katalogisieren.
Bald nachdem sie glücklich nach Nürnberg zurückgekehrt ist, erreicht Ida Herz eine enttäuschende Nachricht: Hugendubel sagt ab. Das, schreibt ihr Thomas Mann, sei «sehr, sehr schade. Aber ich bin der Meinung, daß wir den Bibliotheks-Plan darum nicht aufgeben sollten.» (4.7.1925)* Sie könne sich sogleich ans Werk machen. Und so kommt es: Von Mitte Juli bis Anfang September 1925 ordnet Ida Herz Thomas Manns Bibliothek. Sie ist täglich im Hause Thomas Manns beschäftigt, darf an den Mahlzeiten und dem Familienleben teilnehmen. Und sie ist sogar im Haus, als die Manns auf Reisen sind. Stolz genießt sie das Vertrauen. Als alle Bücher ihren Platz gefunden haben, stellt Thomas Mann Ida Herz ein freundliches Zeugnis aus:
Ihr heiterer Charakter machte sie uns zu einer angenehmen Hausgenossin.
Für die dreißigjährige Ida Herz muss das eine ganz unglaubliche Geschichte gewesen sein. Kennengelernt hat sie Thomas Mann im Februar 1924. Er war zu Lesungen nach Fürth und Nürnberg gereist und fuhr zwischen beiden Städten mit der Trambahn, als Ida Herz ihren ganzen Mut zusammennimmt und ihn anspricht. Thomas Mann reagiert freundlich, sie schreibt ihm und ist im Januar 1925 zum ersten Mal bei ihm in München zu Gast. Die Trambahnszene findet mehr als zwanzig Jahre später Eingang in den «Doktor Faustus».

Geburtsstunde des ersten «Thomas-Mann-Archivs»
Der Sommer 1925 im Hause Mann bringt nun für Ida Herz eine lebensbedeutende Wendung. Sie sortiert nicht nur Thomas Manns Bibliothek, sondern auch Belege aus Zeitungen und Zeitschriften, Abdrucke und Besprechungen seiner Texte, die Thomas Mann meist achtlos in eine Truhe wirft. In Ida Herz weckt die Truhe mit ihren Schätzen eine enthusiastische Sammelleidenschaft. Ab sofort sammelt sie alles, was mit dem verehrten Autor in Zusammenhang steht.
Und mehr noch: Thomas Mann lässt sie nach und nach große Mengen aus der Truhe einfach mitnehmen und er hilft ihr aktiv beim Aufbau ihrer Sammlung. Es ist die Geburtsstunde des ersten «Thomas-Mann-Archivs». Und Ida Herz wird nun – als seine unermüdliche Archivarin – ihr Leben auf Thomas Mann ausrichten. So manches Mal wird sie ihm auch auf die Nerven gehen. Aber er weiß, was er an ihr hat, an ihrer Treue – und an ihrem Archiv, das er selbst nutzt. Der Kontakt bleibt eng. Im Laufe der nächsten drei Jahrzehnte wird Thomas Mann Ida Herz 335 Briefe und Postkarten schreiben – so viele wie kaum jemandem sonst.

Hoffnung auf ein öffentliches Archiv
Hans Ludwig Held und die Rolle der Münchner Stadtbibliothek
Schon 1926 unternimmt Ida Herz zum ersten Mal den Versuch, mithilfe ihrer Thomas-Mann-Sammlung eine Stelle zu bekommen und dieser zugleich eine institutionelle Heimat zu geben. Der Direktor der Münchner Stadtbibliothek Hans Ludwig Held hat ihr in Aussicht gestellt, sie mit der Übergabe ihrer Sammlung als Archivarin in der neu gegründeten Handschriftenabteilung, Vorläuferin der heutigen Monacensia, einzustellen. Thomas Mann kennt Held gut. 1911 haben beide die Münchner Ortsgruppe des «Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller» mitgegründet. Thomas Mann unterstützt Ida Herz’ Vorhaben, wie er ihr versichert:
Was nun an mir liegt, soll gewiss geschehen, um die Sache zu fördern. Direktor Held kenne ich ja, und da er immer viel Anhänglichkeit an mich gezeigt hat, hoffe ich, Ihnen bei ihm nützen zu können, obgleich ich mir sagen muss, dass die Entscheidung, bei der ja finanzielle Fragen mitspielen, nicht allein bei ihm liegen wird. […] Ich erwarte seinen telephonischen Anruf und werde dann Ihre Sache sicher zur Sprache bringen. Bei ihm persönlich erwarte ich viel Sympathie und Verständnis für den Plan und bin nur begierig zu hören, wie er über die sonstigen Chancen denkt.
Thomas Mann, 2.7.1926
Nun ist Held, wie Thomas Mann weiß, «ein entsetzlich beschäftigter Mann» (19.7.1926), sodass er mehrfach nachfragen muss. Am 1. August schreibt Thomas Mann ihm:
Ich hätte Sie gern einmal gesprochen, nämlich in Sachen des wackeren und braven Frl. Ida Herz, die sich Ihnen, glaube ich, schon vorgestellt hat, weiß aber, wie beschäftigt Sie sind. Ich bin jederzeit bereit, einmal aufs Rathaus oder zu Ihnen in die Herzogstraße zu kommen, wenn Sie mir eine Stunde angeben.

Antisemitismus verhindert Anstellung der Ida Herz
Doch noch bevor sich Thomas Mann Mitte August mit Held trifft, scheitert das Vorhaben. Warum?
Ida Herz ist Jüdin. Für sie ist klar: Dies hat ihre Einstellung bei der Stadt München verhindert. Sie ist bereits zu einem Vorstellungsgespräch beim Zweiten Bürgermeister Hans Küfner geladen, als – wie sie später schreibt –
Held mir plötzlich mitteilen musste, dass seine Pläne, besonders mich betreffend, gefährdet seien, weil Antisemitismus sich eingemischt hätte, sodass er im Augenblick mit der Weiterführung seiner Pläne jetzt besser zurückhaltend wäre, um nicht alles zu verderben.
Ida Herz an Hans-Otto Mayer, 5.7.1964
Ida Herz verortet den Widerstand gegen ihre Einstellung im Stadtrat, nicht bei Küfner. Möglicherweise hat Held den Vorbehalt auch nur antizipiert und will deswegen nicht auf die Einstellung drängen. Was die Sache nicht weniger verletzend macht. Thomas Mann jedenfalls ist, wie Ida Herz, empört – aber offensichtlich auch nicht überrascht. Sie spreche mit «Empörung und Bitterkeit» über diese kränkende Begründung, schreibt er ihr. Und weiter:
Glauben Sie mir, dass ich das gut verstehe. Was soll man machen! Das ist die Atmosphäre von Verdummung und Verbohrtheit, in der zu leben wir das Vergnügen haben. Das eine aber ist sicher: Ich kenne Herrn Held zu genau, um nicht sicher zu sein, dass bei ihm persönlich solche elenden Argumente durchaus keine Rolle spielen.
Thomas Mann, 9.8.1926
Es mag, meint Thomas Mann, auch andere, wirtschaftliche Gründe für die Ablehnung geben. Das antijüdische Ressentiment aber erstaunt ihn eben nicht. Als er im Herbst desselben Jahres bei der Kundgebung «München als Kulturzentrum» die frühere Atmosphäre Münchens als liberal, kunstsinnig und lebensfreundlich beschwört und den erstarkenden «antisemitischen Nationalismus» und andere «finstere Torheiten» verurteilt, beklagt er genau dasselbe öffentlich. In der Menge der Zuhörer in der Türkenstraße steht auch Ida Herz. In den nächsten Monaten wird Thomas Mann weiter versuchen, Held für das Arrangement zu gewinnen. Vergebens. Für Ida Herz bleibt der Vorgang Zeit ihres Lebens als antisemitische Kränkung in Erinnerung.
Mit Hans Ludwig Held bleibt Thomas Mann auch wegen anderer Themen in Kontakt. Sie werden beide Mitglieder des 1927 gegründeten Literaturbeirats der Stadt München. Der Austausch wird dann durch Thomas Manns Exil unterbrochen. Im Oktober 1933 wird Held aus politischen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt – obwohl er im selben Monat das öffentliche «Gelöbnis treuester Gefolgschaft» gegenüber Hitler unterzeichnet hat, was Thomas Mann später betroffen registriert. Nach 1945 kommt es zur Wiederbegegnung, im Guten.

Thomas-Mann-Sammlung Ida Herz: von Nürnberg nach Zürich
Und die Thomas-Mann-Sammlung? Die steckt 1926 noch in den Anfängen. Ida Herz richtet in ihrer Nürnberger Wohnung ein privates Archiv ein und präsentiert es interessierten Gästen. Auch Thomas Mann besucht es. Und nachdem im Sommer 1931 ein ausführlicher Artikel über das Archiv in der «Nürnberger Zeitung» erschienen ist, schreibt er an einen Kritiker, es existiere
in Nürnberg eine Art von Archiv, eine Sammlung von mich und mein Leben betreffenden Dokumenten, die schon eine mich selbst überraschende Ausdehnung gewonnen hat.
Thomas Mann an Paul Raché, 19.12.1931
Ida Herz gelingt es, große Teile ihrer Sammlung über die Zeit des Nationalismus hinaus zu retten. Sie weiß, dass mit ihr selbst auch ihre Sammlung in Gefahr ist. 1934 wird sie zum ersten Mal als Gegnerin des Regimes verhaftet. Vorsorglich deponiert sie daraufhin einiges in der französischen Gesandtschaft in München, bevor sie 1935 aus Deutschland flieht. Auch im Exil sammelt sie weiter, immer unterstützt von Thomas Mann. Der Versuch, die Sammlung an die Yale University Library in den USA zu verkaufen, scheitert zweimal, in den 1930er- und den 1950er-Jahren.
Schließlich erwirbt das neu gegründete Thomas-Mann-Archiv an der ETH Zürich 1960 ihre Sammlung mit
- 66 Bänden Übersetzungen,
- 400 Zeitschriftenheften,
- knapp 3000 Zeitungsartikeln von und über Thomas Mann,
- zahlreichen Abschriften von Briefen und gedruckten Texten, Urkunden, Programmen, Einladungen und Typoskripten.
Wenige Jahre nach Thomas Manns Tod steht der Forschung damit ein riesiges Spektrum an Quellenmaterial zur Verfügung. Die «Thomas Mann Sammlung Ida Herz» wird nach dem literarischen Nachlass von Thomas Mann zum zweiten wichtigen Grundstock des Archivs, wo sie bis heute intensiv genutzt wird.
Am Ende, meint Ida Herz Jahrzehnte später, war es gut, dass ihre Sammlung 1926 nicht in die Münchner Stadtbibliothek gekommen ist. Unweigerlich hätte sie als Jüdin ihre Stelle verloren, und was mit ihrer Sammlung geschehen wäre – wer weiß es?
* Alle Zitate aus: Thomas Mann & Katia Mann: »Liebes Fräulein Herz«. Briefwechsel mit Ida Herz 1924–1955, hrsg. von Holger Pils, Frankfurt/Main: S. Fischer 2025.

Lesetipps zu Thomas Mann:
- «Kriminalisierte Liebe – Thomas Mann und der Paragraph 175» – (23.4.2025)
- «Jenseits des Mythos: Kerstin Holzer über Thomas Mann, Elisabeth Mann Borgese und Monika Mann» – (9.4.2025)
- Thomas Mann – Auf dem Zauberberg in Lübeck – (25.11.2024)
- Die Artikel-Reihe zur Ausstellung «Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann»
