Malva Scherer spricht im Interview über das Schreiben in Cafés, den Unterschied zwischen englischen und deutschen Texten, Lyrik und Pralinen und über das Glück der Langsamkeit bei der analogen Fotografie. Zudem geht es um die Frage, ob und wo sich Münchner Schreibende mit Musiker*innen treffen könnten – neunte Folge der #AtelierMonaco-Szene.
Malva Scherer ist Sängerin, Komponistin, Fotografin und Poetin. Sie wurde 2002 in München-Schwabing geboren, wo sie nach wie vor lebt. Gemeinsam mit dem Multiinstrumentalisten Quirin Ebnet hat sie 2018 die Indiepop-Band Malva gegründet. Für ihr 2022 bei dem Münchner Label Trikont veröffentlichten Debüt „Das Grell in meinem Kopf“ erhielten sie ein Pop-Produktionsstipendium der Stadt München. Ebenfalls bei Trikont folgte 2024 das Album „A Soft Seduction Daily“. Das Duo tritt regelmäßig auf Münchner Bühnen wie dem Milla Club und im Volkstheater auf sowie auf überregionalen Festivals wie dem Heimatsound Festival im Oberammergauer Passionstheater. Als bislang jüngste Künstlerin hat Malva Scherer 2024 für ihre Leistungen den Schwabinger Kunstpreis erhalten.
Malva Scherer: Über die Idee eines Gesamtkunstwerks, die Vorstellung von Salons wie in den Zwanzigern und mehr Vermischung von Literatur und Musik
Wir haben uns in einem deiner Lieblingscafés getroffen: im Café Marais im Westend. Aus anderen Interviews weiß ich, dass du gern in Cafés schreibst. Warum?
Zu Hause bin im umgeben von Dingen, die ich kenne. Da kommt nicht so viel, wenn ich versuche zu schreiben. Ich muss aus meinem gewohnten Umfeld hinaustreten, damit sich mein Blickwinkel verschiebt. Ich beobachte auch gern Leute und denke mir Geschichten zu ihnen aus.
Das Café Marais vereint vieles, was ich mag: die Antiquitäten, die hier verkauft werden, und der Charme, im Schaufenster zu sitzen. Wir haben hier auch das Musikvideo zum „Kandierten Kummer“ gedreht.
Münchner Orte tauchen nicht nur in euren Musikvideos auf, sondern auch auf vielen deiner Fotos auf deinem Instagram-Kanal @istdochmalvasanderes. Welche Orte inspirieren dich, und welche Rolle spielt München für dich?
Ein weiterer Ort, den ich sehr mag, ist der Innenhof der Glyptothek. Du bist von diesem alten Bau umgeben und siehst eigentlich nicht nach draußen. Das heißt, du hast das Gefühl, kurz ganz woanders zu sein. Mir gefällt es auch, ab und zu in andere Viertel zu fahren und mir München durch die Augen einer Touristin anzuschauen, als wäre ich eine Fremde in der eigenen Stadt. Dieses Gefühl habe ich sonst selten, weil die Stadt und ich uns zu gut kennen.
Kandierter Kummer
Auf: Malva: Das Grell in meinem Kopf, 2022.
Hörst du den Regen von den Dächern tropfen?
Oder verschmilzt du mit Asphalt?
Weinweh und Heimrausch
Pause von der Pause
Ich bin müde
mir ist kalt
Wenn ich könnte
würd ich aus meinem Kopf verschwinden
an Tagen wie diesen
graumelierten
Wenn die Nacht beginnt sich einzubetten
in meinen Gemütszustand
Grazil verpackst du mit Seidenhandschuhen
kandierten Kummer in Zellophan
Sinnsuchend lieg ich auf Parkett
die Trauer ist heut anschmiegsam
Sehnsuchtszigarette
um zehn
im Park
nebenan
Rauch und davon,
sagst du im Nebensatz
Gnädige Ohnmacht irgendwann
Grazil verpackst du mit Seidenhandschuhen
kandierten Kummer in Zellophan
Sinnsuchend lieg ich auf Parkett
Die Trauer ist heut anschmiegsam
Du hast das Wort beim Wort genommen
Mein blaugetauchtes Sein ist still
Den Neigungswinkel haben wir erklommen
Schöne Tage im April
Grazil verpackst du mit Seidenhandschuhen
Kandierten Kummer in Zellophan
Sinnsuchend lieg ich auf Parkett
Die Trauer ist heut anschmiegsam
Was schreibst du, wenn du im Café sitzt?
Ich schreibe einfach meine Gedanken auf. Teilweise entstehen daraus dann Songtexte. Aber während ich schreibe, mache ich das ohne Zensur im Kopf und ohne vorher zu überlegen, was ich eigentlich schreiben will oder worum es gehen soll. Ich schreibe seit drei Jahren jeden Tag drei Seiten und habe allein in den letzten beiden Jahren siebzehn Notizbücher gefüllt.
Und wie geht es dann weiter? Wie wählst du aus, was daraus für einen Song brauchbar ist?
Manchmal erkenne ich schon beim Schreiben, was ein gutes Bild sein könnte. Beim „Kandierten Kummer“ hatte ich zum Beispiel das Bild von einem Zellophantütchen, in das man den Kummer einwickelt und ihn liebevoll wie in eine Pralinenschachtel einpackt. Das Bild ist entstanden, weil ich probiert habe, den Kummer in einen anderen Kontext zu setzen. Dieses Bild war aber zwei Jahre in meinem Notizbuch, bis ich es wiederentdeckt habe. Ich hatte ihm keine Beachtung geschenkt, weil ich am Anfang dachte, dass ich keine deutsche Musik machen kann.
Du hast mit englischen Texten begonnen?
Ja. Wenn ich auf Deutsch schreibe, habe ich das Gefühl, wahnsinnig nah bei mir selbst zu sein. Am Anfang hatte ich Angst, das mit der Welt oder den Menschen, die zuhören, zu teilen. Das Englische bietet mir die Möglichkeit einer Distanz zwischen mir und dem Geschriebenen. Die habe ich im Deutschen nicht. Da ist es immer eins zu eins.
Und würdest du sagen, dass du auf Deutsch auch andere Themen behandelst als auf Englisch beziehungsweise dass die Stimmungen der Songs unterschiedlich sind?
Ja, ich finde beispielsweise Liebesthemen im Englischen viel leichter, weil das im Deutschen vielleicht kitschig werden könnte. Aber Traurigkeit oder Melancholie auszudrücken ist im Deutschen leichter und auch tiefgründiger als im Englischen.
Einen Teil – nicht alle – deiner Texte macht ihre Melancholie aus.
Ich schreibe weniger, wenn ich glücklich bin. Wenn alles toll ist, gibt es für mich keinen Bedarf, das Gefühl aufzuschreiben. Das muss dann nur gefühlt werden. Über die Schwermut gibt es viel mehr zu sagen. Und ich finde es spannend zu sehen, wie ich die Melancholie in etwas umwandeln kann. Sie ist zwar da, aber ich kann aus ihr heraus produktiv sein.
Aber wenn man nur meine Musik und nicht mich als Person kennt, würde man anders von mir denken. Mir wird oft gesagt, dass ich gar nicht so traurig wirke. Einmal kamen zwei Frauen nach einem Konzert zu mir und haben mich gefragt, ob ich die Traurigkeit nur spiele oder ob ich wirklich so bin.
In der Literatur wird ja sehr stark unterschieden zwischen den Autor*innen und den Figuren in ihren Texten. Ich habe das Gefühl, dass das in der Musik mehr verschwimmt. Wenn es in deinen Songs um ein Ich geht, verbindet man das sehr mit deiner Person, oder?
Ja, zumal ich mich hinter keinem Künstlernamen verstecken kann. Ich heiße ja wirklich Malva. Die Person, die ich auf Konzerten bin, ist also zum Teil eine Bühnenperson, aber dennoch bin das auch ich. Das ist schon sehr direkt und auch sehr persönlich.
Neben der Melancholie spielt in deiner Arbeit die Nostalgie eine Rolle. Woher kommt diese Faszination für das Alte?
Ich glaube, dass das ein Versuch ist, etwas als Gegenpol zur hektischen Zeit, in der wir gerade leben, zu bewahren. Ich konzentriere mich gern auf die Schönheit von kleinen Dingen, die mit einer anderen Zeitqualität verbunden sind. Wenn ich beispielsweise mit meiner analogen Kamera fotografiere, muss ich eine Woche warten, bis der Film entwickelt ist. Die Langsamkeit, die ich mir damit zurückhole, bedeutet auch Vorfreude.
Was passiert mit deinen Texten, die nicht zu Songs werden? In einem Interview hast du gesagt, dass du an einem Gedichtband arbeiten würdest?
Es wäre mein Ziel, noch etwas anderes als Musik zu machen. Ich bin wahnsinniger Patti-Smith-Fan. In ihren Büchern reflektiert sie ihre Gedanken und fügt sie mit ihren eigenen Analogbildern zusammen. So eine Form von Gesamtkunstwerk fasziniert mich. Aber ich bin auch sehr perfektionistisch und selbstkritisch. Ich glaube, für ein eigenes Büchlein brauche ich noch ein bisschen.
Hast du neben Patti Smith weitere Vorbilder in der Literatur?
Mascha Kaléko ist sehr wichtig für mich. Obwohl ihre Texte schon so alt sind, bringt sie in ihren Gedichten Gefühle rüber, die auch ich kenne. Ich fühle mich sehr verbunden mit ihr und liebe ihren phänomenologischen Blick auf die Dinge.
Lyrik zu lesen ist für mich ein bisschen wie eine Praline zu essen. Ich lese ein oder zwei Gedichte am Tag, anstatt einen Band einfach durchzublättern. Generell lese ich viel und habe mir vorgenommen, nie ohne Buch zu sein. Sobald ein Buch fertig ist, kommt das nächste.
Suchst du dir mehr Inspiration in der Musik oder in der Literatur?
Beides. In der Musik habe ich ganz viele Vorbilder. Es gibt so viele musikalische Richtungen, die ich spannend finde, dass ich manchmal gar nicht weiß, welche Musik ich eigentlich machen will. Auch beim Schreiben höre ich teilweise Musik.
Hast du denn Foren, in denen du deine Texte besprichst?
Nein, aber mir gefällt die Idee der Salons wie in den Zwanzigern: ein Ort, an dem Leute zusammenkommen und ihre Sachen vortragen – sei es Musik, seien es Texte. Mir fehlen manchmal der Austausch und die gegenseitige Inspiration. Wahrscheinlich gibt es viel mehr, und ich weiß es noch nicht. Aber ich habe auch das Gefühl, dass die Leute immer sehr für sich sind. Mir fehlen eine gewisse Offenheit und Räume, wo man hingehen und interagieren kann.
Und wie ist dein Kontakt in die Münchner Literaturszene? Du bist 2022 bei der Eröffnung der Ausstellung „Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920“ in der Monacensia und 2023 bei der Eröffnung vom Literaturfest München aufgetreten.
Ich bin immer ganz überrascht, dass ich nicht nur als Musikerin gesehen werde, sondern eben auch als schreibende Person. Dafür bin ich sehr dankbar. Das ist genau die Richtung, in die ich gehen möchte: Dass eben keiner sagt, ich müsse mich jetzt nur auf die Musik konzentrieren, sondern dass ich auch Anschluss finden würde, wenn ich einen Gedichtband machen wollte.
Wie dockst du denn in der Münchner Musikszene an?
Es ist toll, dass man sich in München irgendwann gut kennt, weil die Szene nicht so groß ist. Man trifft sich auf Konzerten und supportet sich. Man ist vernetzt. Die Veranstaltung Sound of Music Now ist da ein gutes Beispiel. Als ich das Line-up für 2024 gesehen habe, kannte ich die meisten. Ich bin München dankbar, dass ich jetzt schon so einen Anschluss habe.
Hast du das Gefühl, dass sich in München die freie Musik- und die Literaturszene jenseits deiner Person auch sonst vernetzt?
Es gäbe da meiner Meinung nach Potenzial. Ich würde mir das auch wünschen. Es gibt schon einzelne Personen, die in der Musik- und der Literaturszene aktiv sind, Mira Mann zum Beispiel. Aber oft bleiben die Leute in ihren Bereichen und kommen aus diesen Räumen nicht richtig raus. Ich finde die Frage, wie sich das Ganze vernetzen lässt, als Ansporn wichtig, um sich noch mehr zu verbinden. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass in Leipzig die Schauspiel- und die Musikhochschule, das Literaturinstitut und die Kunstakademie direkt nebeneinanderliegen. Da ist man automatisch in Kontakt. Wenn alle so für sich bleiben, finde ich das schade. Das müsste man irgendwie auflockern.
Brombeeren
Auf: Malva: A Soft Seduction Daily, 2024.
Der Wunsch zu entfliehen
eine Stadt die nicht weiß
wer ich war als ich
aufbrach bei Nacht
Das Meer vor dem Fenster
in echt noch viel größer
Die Wellen wiegen sich sacht
An Geburtstagen
riecht die Luft immer anders
wenn ich grün sehe, denke ich an dich
Der Bus hat Verspätung
Ich sitze und schreibe,
aber was
das weiß ich noch nicht
Warten und sterben
fühlt sich an wie das gleiche
Die Zeit scheint auch müde vom Sein
Der Tag und auch du
nehmen mich nicht wahr
Diesmal geh ich von allein
Brombeeren schmecken nur gut im Sommer
Tränen dafür ein ganzes Jahr
Woche für Woche
Monat für Monat
und auf einmal wird es mir klar
Die Stadt ist die Selbe
Das Meer rauscht nur durch meine Vorstellungskraft
Brombeeren schmecken gefroren nicht ganz so schlimm
wie zuvor gedacht
Ich habe heut nicht Geburtstag,
doch die Luft erscheint lauer,
als die Tage zuvor
Bäume sind grün
und du bist es zwar auch noch,
aber nun steigt es empor
Ich laufe und
schlendre die Straße entlang
und diesmal wart ich nicht mehr
Die Zeit ist auch manchmal müde vom Laufen,
doch der Tag schaut mich an und kommt näher
*AtelierMonaco-Szene
Die Reihe „Atelier Monaco-Szene“ erscheint alle zwei Monate im Blog der Münchner Stadtbibliothek. In der ersten Staffel sprechen Katrin Diehl (1-6), in der zweiten Christina Madenach (ab Folge 7) mit Autor*innen über ihre literarischen Tätigkeiten, Netzwerke, eigene Verlage und literarische Lesereihen in München – es entsteht eine Kartografie der Atelier Monaco Szene in der Stadt.
- Daniel Graziadei: Über Lyrik und Performance, Schreibwerkstätten und die Münchner Literaturszene (8.10.2024) – 8
- Fabienne Imlinger: Über subversive Prozesse, Empowerment und eine freie Literaturszene in München (26.6.2024) – 7
- Theresa Seraphin: Experimentelles Schreiben und das richtige Maß an Ablenkung (25.4.2024) – 6
- Lisa Jeschke über Lyrik, Performance und politisches Schreiben (7.2.2024) – 5
- Jan Geiger über erste Schreibversuche, Schreiben als Beruf und Theatertexte (1.12.2023) – 4
- Annegret Liepold über die „Bayerische Akademie des Schreibens“, Schreibprozesse und „Franka“ (26.10.2023) – 3
- Christina Madenach über Schreibroutinen, Romanwerkstatt und die freie Literaturszene Münchens (9.8.2023) – 2
- Tristan Marquardt über Lyrik, literarische Netzwerke und Lesereihen in München (14.6.2023) – 1