Lotte Pritzel gehörte zum Zentrum der Schwabinger Boheme und machte kometenhaft Karriere. Ihre Figurinen schienen einen „Seelenprotest“ gegen Industrie und Technokratie darzustellen. Oder verkörperten ihre Puppen die Zerrissenheit des modernen Subjekts? Erich Mühsam jedenfalls hielt Lotte Pritzel für die geistreichste Frau, die er kannte. Was zeichnete ihre Kunst aus, und wie spiegelte sich darin der Zeitgeist der Boheme? Ein Beitrag zur #FrauenDerBoheme*.
Lotte Pritzel – die Puppenkünstlerin von Justina Schreiber
Sie war eine der bekanntesten Puppenkünstlerinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lotte Pritzels fragile Figurinen hatten in Kinderzimmern nichts verloren. Sie wurden auf Ausstellungen gezeigt und eine Zeit lang gern gekauft. Als sogenannte Vitrinenpuppen setzten sie in bürgerlichen Wohnzimmern frivol-morbide Akzente.
Es waren Prinzen, Bräute, Harlekins oder Bajaderen, nachlässig kostbar in Brokat und Seide gekleidet, lasterhafte Engel oder verliebt schmachtende Paare. Traumtänzerisch schienen die circa 60 Zentimeter großen Gestalten auf ihren Podesten zu balancieren, als schwebten sie zwischen Leben und Tod.
Ob bewusst oder unbewusst – Lotte Pritzel umgab die Klein-Plastiken mit einer mystischen Aura. Sie würde ihre Puppen spontan entwickeln, schrieb sie in einem ihrer wenigen Texte. Die Hexen, Schwerttänzer und Madonnen seien „Geschöpfe meiner selbst“, sprich: „Material gewordene innere Vision“. Es waren nebulöse Formulierungen, die weitere Erklärungen überflüssig machten. Auch zur eigenen Person verlor sie nicht viele Worte.
1905 tauchte Lotte Pritzel erstmals in München auf. 18-jährig, allein, ohne Familie. Ihre frühe Biografie liegt im Dunkeln. Die gebürtige Breslauerin verbrachte die Kindheit in Berlin, so viel ist klar. War der Vater Fabrikdirektor? Gab es Probleme mit ihm? Lebten die Eltern getrennt? Mag sein, mag auch nicht sein.
Lotte Pritzel durchlief vermutlich keine Ausbildung. Im polizeilichen Meldebogen steht zwar, sie sei „wegen Studium“ in München. Doch nichts mit „Kunstgewerbeschule, Entwurfklasse, Aktklasse, Plastilin, Ton, Kostümkunde und was weiß ich“, schrieb sie in einer Selbstauskunft. Okay, sie zeichnete schon immer gern. Als sie eine Weile in Paris lebte, habe sie angefangen, aus Kastanien Köpfchen zu schnitzen. Der Maler Jules Pascin hätte ihr dann geraten, Wachs zu verwenden.
Beziehungen zu den Künstlerkreisen der Boheme
Etwa seit 1910 bildete Lotte Pritzel aus Wachs und Drahtgestellen ihre typischen „Pritzel-Puppen“. Kennzeichnend: die überschlanken Gliedmaßen der anorektisch anmutenden Gestalten sowie deren preziöse Kostüme aus Gaze, Tüll oder Spitze. Das war Rokoko oder commedia dell‘arte oder beides zugleich, völlig neu interpretiert! Die Kunstszene reagierte euphorisch.
Die Karriere der jungen Puppenkünstlerin verlief kometenhaft. Lotte Pritzels aparte Erscheinung trug zur Begeisterung der Rezipient*innen bei. Nicht wenige Menschen verliebten sich in sie:
Du: uns Gebet. Unumgehbar. Unabwendbar. Nimmer zu erobern.[1]
So bedichtete sie Johannes R. Becher, der spätere Kultusminister der DDR. Ein anderer Verehrer reimte:
An Lottes Wegen sind alle gelegen.
Die Zeugnisse der Schwabinger Boheme sind voll von Verweisen auf die schöne, „knabenhafte“ Lotte mit ihrem losen Mundwerk.
Sie fand schnell Anschluss an die einschlägigen Künstlerkreise. Die 16 Jahre ältere Schriftstellerin Franziska zu Reventlow machte sich gleich Sorgen, dass die Puppenkünstlerin drogensüchtig werden könnte. Zu Recht!!! Auch Erich Mühsam notierte 1911 entsetzt in sein Tagebuch: Lotte habe ihn gefragt, „ob ich ihr nicht Cocain besorgen könne“.
Lotte Pritzel war eine Weile mit Walter Strich liiert, einem Ex-Liebhaber der Franziska zu Reventlow. Aber mit der Monogamie nahmen sie und ihre Freundin, die Sängerin und Schriftstellerin Emmy Hennings, es nicht so genau. Ob Torggelstuben, Café Odeon oder Café Stefanie – die beiden Frauen machten die Szene-Kneipen unsicher: Emmy mit ihrem blonden, Lotte mit ihrem dunklen Pagenkopf, rauchend, flirtend, trinkend. Lotte Pritzel sei „der liebenswerteste Amoralist“, den er je kennengelernt hätte, hinterließ sogar der eher religiös gestimmte Schriftsteller und Maler Richard Seewald.
„Das Puma“ und ihre Puppen – ein Gesamtkunstwerk
„Das Puma“! Auf den neutralen Artikel legte sie größten Wert. Wer Lotte Pritzel diesen Spitznamen gab, ist nicht überliefert. Aber ihr schleichender Gang, ihre katzenhaften Augen gaben der Puppenmacherin etwas Raubtierhaftes, sagten ihre Zeitgenoss*innen. Hinzu kamen ihr Witz, ihre beißende Ironie, ihre Fähigkeit, die Dinge schnell und treffsicher auf den Punkt zu bringen. Der Anarchist Erich Mühsam hielt sie für die geistreichste Frau, die er kannte. (Und er kannte viele!)
Nicht schriftlich, sondern mündlich war sie in ihrem Element. Am Kaffeehaustisch zu später Stunde produzierte Lotte Pritzel Schüttelreime, Limericks oder Verballhornungen am laufenden Band. Sie nahm nichts und niemanden ernst. Ein Beispiel:
„Es waren einmal zwei Hengste,
Die hatten einander so lieb,
Da sprachen die Hengste: was denkste,
Sublimierste nu oder verdrängste,
Das Wasser war viel zu tief.“[2]
Lotte Pritzel bildete zusammen mit ihren Puppen ein Gesamtkunstwerk. Auf doppelter Ebene verkörperte sie den „Ennui“ der Zeit, diese von Lustlosigkeit und Melancholie geprägte Gefühlslage. Mehr Bohemienne ging nicht! Immerzu rauchend, gern trinkend, oft im Morphiumrausch schuf sie ihre androgynen Figuren. Ihre Wachsgestalten erzählten vom Kater nach dem Rausch. Die Köpfe verdreht, die Augen niedergeschlagen, die Gesten müde, schienen sie gleichzeitig Sehnsucht und Leere zu empfinden. Sie trafen den nervösen Ton der Zeit, erzählten von der Zerrissenheit des modernen Subjekts.
Die Ausdruckstänzerin Anita Berber nahm um 1919 eine „Pritzel-Puppe“ in ihr Programm auf. Auch die Balletteuse Niddy Impekoven ließ sich zu einer Choreografie anregen. Im vielstimmigen Resonanzchor trugen besonders die Schriftsteller zum Ruhm der Puppen-Pritzel bei. Rainer Maria Rilke stand 1913 „fast erschüttert“ vor der „wächsernen Natur“ ihrer Puppen. Der Dichter vermeinte, unhörbare Seufzer zu spüren:
Es ist als verzehrten sie sich nach einer schönen Flamme, sich falterhaft hineinzuwerfen.[3]
Tatsächlich lagen den Pritzel-Puppen Kitsch und Pathos nicht fern. Man erkannte in den verdrehten Traumtänzer*innen einen „Seelenprotest“ gegen Technokratie und Industrie. Als blutleere Kinder des Fin de Siècle schienen sie einer künstlichen Scheinwelt zu entstammen. Wie auch immer: Sie weckten einen endlosen Reigen an Assoziationen.
Angeblich standen die Millionäre Schlange vor Lotte Pritzels Atelier in der Kaulbachstraße 69. Das behauptete zumindest die Klatschpresse. 1917 betrug der Stückpreis einer Pritzel-Puppecirca 500 Goldmark, also umgerechnet vermutlich um die 1800 Euro. In den 1910/20er Jahren war Lotte Pritzel gut im Geschäft. Zum Beispiel kreierte sie für die Keksfirma Bahlsen ein ganzes Ensemble von Püppchen, ausnahmsweise in züchtigen Gewändern, versehen mit dem Markenzeichen TET. Dieser kleine „TET-Hofstaat“ bevölkerte eine Glasvitrine im Pavillon des Unternehmens auf der Genter Weltausstellung 1913 und war ein Publikumsmagnet.
Seit 1919 war Lotte Pritzel mit Gerhard Pagel liiert. Der humorvolle Arzt versorgte die Künstlerwelt mit Drogen und kostenloser medizinischer Hilfe. Im März 1921 kam die gemeinsame Tochter Irmelin Rose zur Welt. Ein halbes Jahr später heirateten „Puma und Pagi“, wie das Paar zeitlebens genannt wurde.
Umzug nach Berlin
Wie viele Künstler*innen und Bohemiens zog auch Lotte Pritzel samt Familie zu Beginn der 1920er Jahre von München nach Berlin. Da war die Luft noch freier! 1923 drehte die UFA den Film „Die Pritzelpuppe“[4]. Die Künstlerin arbeitete nun gelegentlich auch als Kostümbildnerin für Theateraufführungen und Revuen. Aber mehr und mehr versumpfte sie dann wohl im Café Größenwahn am Ku‘damm.
Vermutlich war Lotte Pritzel jüdischer Herkunft. Spätestens 1933 wurde es sehr ruhig um sie. Ihr Mann arbeitete als Armenarzt im Berliner Wedding. Die Tochter lebte oft bei den Großeltern väterlicherseits in Pommern. Das Paar verbrachte die Kriegsjahre verborgen im Spreewald. Wobei Gerhard Pagel zu den wenigen Ärzten zählte, die sich im Widerstand gegen die Nationalsozialisten engagierten.
Nach dem Krieg tauchte das Werk der Lotte Pritzel für kurze Zeit aus der Versenkung empor. Nicht, dass sie selbst sich darum gekümmert hätte. Ehrgeiz und Karrieredenken lagen ihr fern. Anlässlich einer Ausstellung ihrer Puppen 1950 in London gab es eine Homestory in der „Neuen Zeitung“.[5] Der Artikel beschreibt den Ruinenzustand der „angebombten“ Wohnung im Wedding: Gerhard Pagel kümmere sich hier wieder als viel beschäftigter Arzt um die Kranken. Lotte Pritzel dagegen habe „für sich selbst seit langem in Heiterkeit resigniert“. Gut möglich.
Die Puppenkünstlerin und Bohemienne starb am 17. Februar 1952 nach einem Schlaganfall. Auch viele ihrer Puppen erlitten das Geschick aller Sterblichen. Wie Lotte Pritzel gesagt hatte, haftete den Wachs-Gebilden eben „der Reiz“, aber auch das „Odium der Hinfälligkeit“ an. Es hatte die Künstlerin nie wirklich gekümmert, ob und wie ihr Werk überlebte. Immerhin haben 15 originale Pritzel-Puppen im Münchner Stadtmuseum sichere Zuflucht gefunden.
Literatur:
- Borek, Barbara (2014). Die Pritzelpuppen der Puppenpritzel. In: Sabine Sternagel (Hg.), Ausstellungskatalog: Ab nach München! Künstlerinnen um 1900. München, S. 316-319.
- Die neue Zeitung. Eine amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung. Sonntag, 24. September 1950 / Nr. 224
- Becher, Johannes R. (1966). Ausgewählte Gedichte 1911–1918. Aufbau-Verlag, Berlin/ Weimar.
- Höxter, John (1929). So lebten wir. 25 Jahre Berliner Boheme.
- Puppentheatermuseum, Münchner Stadtmuseum (1987) (Hg.). Lotte Pritzel. 1887-1952. Puppen des Lasters, des Grauens und der Ekstase.
- Rilke, Rainer Maria (1914). Puppen. Zu den Wachspuppen von Lotte Pritzel. In: Die weißen Blätter 1, 7, S. 635-642.
- Schreiber, Justina (2019). Aus Sehnsucht und Leere geboren. Puppenkünstlerinnen und ihre Künstlerpuppen. In: Puppen. Eine Sammlung von Doris Im Obersteg-Lerch. Spielzeugmuseum Riehen. S. 178-190.
[1] Becher 1966, S. 509.
[2] Höxter 1929, S. 14.
[3] Rilke 1914, S. 642.
[4] Die Pritzelpuppe | filmportal.de
[5] Zivier, Georg: Die Welt der unnahbaren Puppen. Engel und Teufel in gläsernen Vitrinen. In: Die neue Zeitung / Nr. 224, 24.09.1950.
* Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.