Was haben Bettina von Arnim und Erika Mann gemeinsam? „Immer indirekt völlig eindeutig“ – das trifft auf beide zu, jede für sich ist eine Kämpferin für die Wahrheit. Wie Bettina von Arnim das ummünzt, schreibt uns Damian Mallepree vom Goethe-Museum Düsseldorf in seinem Beitrag zur Vernetzungsaktion #ErikaMann. Wir blicken mit ihm zurück ins 19. Jahrhundert auf Leben und Wirken einer beeindruckenden Frau. Spannend, wie sie die Zensur umgeht, den König kritisiert und Hilfsbedürftigen während der Cholera-Epidemie hilft.
Traum von Demokratie
Versetzen wir uns in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Beginnende Industrialisierung in ganz Europa. Eisenbahnen verkürzen die Entfernungen und verdrecken die Luft. Dampfmaschinen ermöglichen Massenproduktion in Fabriken und ersetzen die Arbeitskraft, der Weber zum Beispiel. Die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Industrie sind der Willkür der Fabrikbesitzer ausgesetzt, von Gewerkschaften, geregelter Arbeitszeit und sozialer Absicherung im Krankheitsfall können die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter nur träumen. 35% aller Berliner Wohnungen bestehen in den 1850er Jahren nur aus einem Zimmer. Die politische Restauration ermöglicht keine neuen bürgerlichen Mitbestimmungen. Mit der Juli-Revolution 1830 in Paris, der Entmachtung der Bourbonen und der Einsetzung eines „Bürgerkönigs“ verbreitet sich bei den Menschen in ganz Europa die Hoffnung auf neue bürgerliche Freiheitsrechte.
„Herzhaft in die Dornen der Zeit greifen“
Und jetzt möchte ich Euch gerne Bettina von Arnim, geb. Brentano vorstellen. Meist liest man als Schlagworte über sie: Schriftstellerin und bedeutende Vertreterin der deutschen Romantik, Goethe-Verehrerin. All diese Zuschreibungen werden der Tragweite ihres politischen Wirkens nicht gerecht.
Bettina von Arnim organisiert im Sommer 1831 Hilfsmaßnahmen bei der Cholera-Epidemie. Zusammen mit anderen Frauen sammelt sie Gelder für das Armenhilfswerk und furchtlos verteilt sie in den Armenvierteln Kleider und Nahrung. Im Jahr 1840 beginnt sie ihr Werk „Dies Buch gehört dem König“. Konkret gewidmet ist dieses Buch dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV., der 1840 den Thron besteigt und mit seinen ersten Maßnahmen die Hoffnung mancher liberalen Demokraten schürt, den Bürgern mehr Freiheits- und Mitspracherechte zu gewähren. Auch Bettina von Arnim will etwas erreichen: der König soll die Wahrheit über die sozialen Zustände in Preußen erfahren.
Kämpferin für die Wahrheit: Umgehung der Zensur
Wie macht sie das? Ihren offenen Brief verschleiert sie, indem sie ihre politischen Ansichten Catherina Elisabeth Goethe in den Mund legt, auch bekannt als Mutter von Johann Wolfgang Goethe. So kann das Buch 1843 anonym erscheinen, obwohl jeder weiß, dass es von Bettina stammt.
Was steht im Buch? Eine kleine Auswahl von besonders prägnanten „Anklagepunkten“:
Bettina von Arnim prangert an…
- die Realitätsferne der Herrschenden, die „thronisolierten Menschenseelen“ und die „allzugroße Dienstfertigkeit“ der Staatsangestellten.
- den fehlenden Mut zur Wahrheit, hier verpackt in eine Fabel über den „ochsigen Menschenverstand“, der da so „ledern an der Krippe“ stehe, sich ungeeignetes Futter vorwerfen lasse und sich nicht losreiße, um nebenan auf dem grünen Anger zu weiden. (Ein immer aktueller Aufruf, sich ein eigenes Bild vom politischen Geschehen und den Nachrichten zu machen, wie ich finde).
- die fehlende Unterstützung für sozialen Aufstieg und die Bekämpfung der Armut. Ihrem „Königsbuch“ ist ein dokumentarischer Anhang beigefügt über die Lebensbedingungen in den Elendsquartieren Berlins; geschrieben wurde diese erste Sozialreportage in deutscher Sprache von dem Schweizer Heinrich Grunholzer, der die Protokolle regelmäßig an Bettina von Arnim übermittelte und der von ihr zu weiteren Recherchen aufgefordert wurde.
Bettina von Arnim empfindet es als ihre Pflicht, dem jeweiligen Regenten „unerschrocken“ die Wahrheit zu sagen. In einem Brief klagt sie an:
Ihr haltet den Fürsten nur die Reden, auf die sie eingerichtet sind zu antworten ohne aufzuwachen; denn die Wahrheit würde sie wecken, und sie wären keine Automaten mehr, sondern selbstständige Herrscher. (4. November 1839)
Ihr „Königsbuch“ kann erscheinen und wird nicht zensiert. Aber ihr Einsatz für die Armen wird von den preußischen Behörden zunehmend kritisch beobachtet. Die Aufstände der schlesischen Weber, die Revolution von 1848, alles erlebt Bettina von Arnim hautnah mit und stellt sich immer auf die Seite der Unterdrückten. Was folgt, ist eine zunehmende Überwachung der Zusammenkünfte in ihrer Berliner Wohnung durch den preußischen Zensurapparat.
Erika Mann und Bettina von Arnim
„Immer indirekt völlig eindeutig“ – die Methode, Wahrheiten in Zeiten von Zensur und politischer Unterdrückung auszusprechen. Bei Erika Mann ist dies das politische Kabarett („Pfeffermühle“), bei Bettina von Arnim das Buch an den König. Leitgebend bei allen Publikationen der beiden Schriftstellerinnen ist die schonungslose Aufdeckung von Missständen. Beiden ging es immer um die aktuelle politische Lage und insbesondere um die Auflehnung gegen die Allmacht von Herrschenden.
In diesem Anspruch, für die Wahrheit einzutreten und „herzhaft in die Dornen der Zeit“ zu greifen, erkenne ich die Gemeinsamkeiten von Erika Mann und Bettina von Arnim.
Autor: Damian Mallepree, Goethe-Museum Düsseldorf, digitale Vermittlung und Kommunikation.
Literatur
- Bettine von Arnim: Dies Buch gehört dem König. Nach dem Text der Erstausgabe herausgegeben von Wolfgang Bunzel, München 2008
- Wolfgang Bunzel: „Die Welt umwälzen“, Bettine von Arnim, geb. Brentano. Hrsg. vom Freien Deutschen Hochstift, Frankfurt am Main 2009.
Vernetzungsaktion #ErikaMann (16. – 27. März 2020)
Ihr könnt bei der Vernetzungsaktion mitlesen und Euch mit den Teilnehmenden vernetzen und austauschen, gerne auch mitdiskutieren. Die Aktion dokumentieren wir mehrfach:
- Die Aktion spiegeln wir in der Collection: Vernetzungsaktion #ErikaMann: Anstand, Freiheit, Toleranz
- Unsere SocialWall #ErikaMann zeigt Euch, was gerade im Social Web passiert.
- Die Blogposts der Teilnehmenden führen wir unter der Einladung zur Vernetzungsaktion #ErikaMann auf.
Gastbeiträge im Blog zum Thema:
- Monacensia – Kristina Kargl: „Frauenfriedensversammlung: Der Tag, der Erika Manns Leben veränderte“ (18.3.2020)
- Monacensia – Erich Maria Remarque-Friedenszentrum: „Erich Maria Remarque – Weltbürger wider Willen“ (20.3.2020)
- Germanisches Nationalmuseum – Daniel Hess: „Mythos Davos – Auftrittsverbot Erika Manns auf dem Zauberberg 1934“(22.2.2020)
- Monacensia: „GAY AGAIN – Theresa Seraphin und Lisa Jeschke im Interview“ (23.3.2020)
- Monacensia – Deutsches Exilarchiv: „Erika Manns Botschaften – Deutsches Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek“ (24.3.2020)
- Monacensia – Frido Mann: „Democracy for Future – Demokratie gemeinsam mit der jungen Generation gestalten“ (25.3.2020)
- Monacensia – Anke Buettner: „Wie demokratisch ist die Kulturvermittlung?“ (26.3.2020)
- Monacensia – Dr. Zuzana Jürgens: „Erika Mann und die Tschechoslowakei“ (27.3.2020)
- Monacensia – Viola Miltner und Birgit Donhauser „Erika, die Kronprinzessin“ – Kabarett in der Stadtbibliothek Neuhausen“ (27.3.2020)
- Monacensia – Katrin Freiburghaus: „Die Pfeffermühle heute: Ein Text übers Vergessen“ (28.3.2020)