Hermann Kesten – «Aber nein, ich habe die Frauen immer geliebt!» | #femaleheritage

Toni, Ida und Hermann Kesten in Ostende, Sommer 1935

Zum 25. Todestag von Hermann Kesten (3. Mai 1996) stellt uns Albert M. Debrunner in Anlehnung an #femaleheritage die wichtigen Frauen im Leben des Schriftstellers, Verlegers und engagierten PEN-Präsidenten vor. Dazu blickt der Hermann Kesten-Experte auf die Fotosammlung im Nachlass des Autors in der Monacensia. Diese wird gerade digitalisiert. Hermann Kesten prägte die Literaturszene der Weimarer Republik, war eine zentrale Figur des Exils und trug wesentlich zu den Debatten der jungen Bundesrepublik bei. Welche Frauen prägten sein Leben?

Eine Handvoll Bilder aus dem Leben von Hermann Kesten

Jeder kennt sie, die Schuhkartons voller Fotografien, die man auf Omas Speicher entdeckt, nach unten in die gute Stube trägt, wo man die Bilder auf dem Teetisch ausbreitet und eine ganze Epoche vor sich liegen sieht. Solche Schachteln sind das wohlgehütete Geheimnis vieler Archive, denn streng genommen darf es sie dort gar nicht geben. 

Die private Fotosammlung des Schriftstellers Hermann Kesten (1900 – 1996) blieb jahrzehntelang in Kartons liegen. Aber Ordnung muss sein, also wurden die bis anhin ihr anarchisches Schachtelleben fristenden Fotos sukzessive digitalisiert, anschliessend sachgemäss gelagert und so dem Zugriff frecher Forscherhände für immer entzogen. Romantisch ist das nicht, doch aus archivarischer Sicht bestimmt zum Besten der Bilder. Und noch einen Vorteil hat die Sache: Endlich sind die Fotografien rasch und unkompliziert zugänglich. Man kann sie sich in Ruhe am Bildschirm anschauen, muss keine Handschuhe mehr anziehen und braucht auch keine Lupe mehr, um Details zu erkennen. Man muss nur die Augen öffnen und eintauchen in die Geschichten, die die Bilder erzählen.

Unter den Hunderten von Fotografien, die zu Hermann Kestens Nachlass im Literaturarchiv der Monacensia gehören und nun in digitaler Form einsehbar sind, eine Auswahl zu treffen, ist nicht so einfach. Fast hundert Jahre alt ist Kesten geworden. Da gibt es viel zu sehen und zu sagen. Am besten fängt man mittendrin an.

In Ostende

Dass Ostende Mitte der dreissiger Jahre ein bei Literaten beliebter Ferienort war, ist Dank Volker Weidermanns Bestseller «Ostende 1936, Sommer der Freundschaft» einem breiten Publikum bekannt. Hermann Kesten kommt in diesem Buch zwar vor, aber nicht gut weg, dabei gehörte er dazu, genauso wie Stefan Zweig oder Joseph Roth, dessen Werk er nach dem 2. Weltkrieg vor dem Vergessen bewahrt hat. Kesten verbrachte schon 1935 seine Sommerferien an der belgischen Nordseeküste. Mit von der Partie war nicht nur seine Frau Toni Kesten, geborene Warowitz (1904 – 1977), sondern auch seine Mutter Ida Kesten (1872 – 1962). Hier sind sie an der Strandpromenade von Ostende zu sehen:

Toni, Ida und Hermann Kesten in Ostende, Sommer 1935
Toni, Ida und Hermann Kesten in Ostende, Sommer 1935

Um wen hat Hermann Kesten seinen Arm gelegt? Seine Mutter. Und wer hält sie ebenfalls um die Schulter? Seine Frau. Ida Kesten wusste sich wohlgeborgen bei ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter. Schon in Berlin hatte sie bei dem jungen Paar gelebt und war ihm 1933 ins Exil gefolgt. Auch Ida Kestens Töchter Lina und Gina hatten vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten fliehen müssen. Caroline (1898 – 1979), genannt Lina, lebte mit ihrem Mann in Brüssel, die ebenfalls verheiratete Regina (1904-2000), genannt Gina, in Paris. Die ganze Familie hatte sich retten können, was nicht selbstverständlich war. 

Das gepflegte weisse Kostüm, das Toni auf dem Bild trägt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Schwarz von Ida Kestens Kleid besser zur Situation passte, in der sich die drei damals befanden. Aber man will sich das bisschen Freude und Entspannung, das die Ferien einem bieten, nicht nehmen lassen. Der sonst immer korrekt gekleidete Hermann Kesten zeigt sich hemdsärmelig. Skeptisch schaut er dennoch in die Kamera.

Gina Kesten – eine enge Bindung

Eine weitere, ebenfalls im Sommer 1935 in Ostende aufgenommene Fotografie vermittelt eine andere Stimmung:

Gina und Hermann Kesten auf der Strandpromenade von Ostende, Sommer 1935
Gina und Hermann Kesten auf der Strandpromenade von Ostende, Sommer 1935

Sichtlich vergnügt steht Gina neben Hermann. Sie hat sich locker bei ihm eingehängt, während er vielleicht nicht so ganz glücklich darüber ist, in diesem Aufzug fotografiert zu werden. Dieses Bild ist das einzige im gesamten Nachlass Kestens, das ihn so leger gekleidet zeigt. 

Mit Gina konnte er sich entspannen, war er auch sonst stets auf die gute Form bedacht. Gina war Kestens Lieblingsschwester und neben Toni zeitlebens seine engste Vertraute. Sie hatte Teil an seiner schriftstellerischen Laufbahn, schrieb sie doch selbst und übersetzte gemeinsam mit ihrem Bruder moderne französische Literatur ins Deutsche. Auch nach ihrer Heirat blieben sie verbunden.

Toni und Hermann Kestens Ehe war kinderlos, doch Ginas einziges Kind Marianne, genannt Marian, war wie eine Tochter für sie. Ein leises Bedauern liegt dennoch auf den Gesichtern des Onkels und der Tante, die sich 1945 mit ihrer geliebten Nichte in den Ferien in Provincetown ablichten liessen. In Amerika hatten sie alle ein neues Zuhause gefunden, nachdem Marianne noch in Frankreich auf der Flucht zur Welt gekommen war.

Hermann und Toni Kesten mit ihrer Nichte Marianne Strauss in Provincetown, Sommer 1945
Hermann und Toni Kesten mit ihrer Nichte Marianne Strauss in Provincetown, Sommer 1945

Im amerikanischen Exil

Im Sommer 1945 konnten Hermann und Toni Kesten endlich wieder ganz unbeschwert sein. Der Krieg in Europa war vorbei, sein Ende im Pazifik zeichnete sich ab. In Provincetown herrschte Frieden. Um wieviel leichter sich Hermann und Toni fühlten als zehn Jahre zuvor, beweist ein Bild, das sie wiederum am Meer zeigt, allerdings auf der anderen Seite des Atlantiks. Zwischen ihnen steht nicht die alte Mutter Kestens, sondern die mit dem Paar befreundete junge Dichterin Mascha Kaléko. Trotz ihres jungen Aussehens, das auf eine neue Zeit verweist, gehörte sie in vielem der Zeit vor dem Krieg an, dem Berlin der Weimarer Republik, wo sie früh zu literarischen Ruhm kam. Es waren Überlebende, die sich in Amerika am Strand vergnügten, das keckste Badekleid konnte das nicht verbergen, aber der Frieden ließ sie hoffen.

HK F 17 (001a): Hermann Kesten, Mascha Kaléko und Toni Kesten am Strand von Provincetown, Sommer 1945 #femaleheritage
HK F 17 (001a): Hermann Kesten, Mascha Kaléko und Toni Kesten am Strand von Provincetown, Sommer 1945

Hermann Kesten und die Nachkriegszeit

1949 erwarben Hermann und Toni Kesten die amerikanische Staatsbürgerschaft. Doch kaum waren sie Amerikaner geworden, zog es sie mit Macht zurück nach Europa. Schließlich ließen sie sich Anfang der fünfziger Jahre in Romnieder, wo ihr Leben neuen Schwung bekam, besonders das Hermanns. Das ging so weit, dass er, der sonst Toni stets treu geblieben war, ein Liebesverhältnis mit einer anderen Frau einging. Sie war verheiratet wie er: Toni und Hermann Kesten waren mit dem Ehepaar Löw-Beer gut befreundet. Marianne Löw-Beer war mit siebenunddreißig Jahren deutlich jünger als Hermann Kesten. 

Man könnte nun versucht sein, Kestens Beziehung zu Marianne als die banale Midlife Crisis-Geschichte abzutun, die solche Affären oft sind. Für Kesten bedeutete sie aber mehr. Nach dem Krieg fühlte er sich als alter, gebrochener Mann. Das kurze Abenteuer mit Marianne ließ ihn wieder aufblühen und an die Zukunft glauben. Vielleicht hat das auch Toni gesehen. Jedenfalls verzieh sie ihrem Mann seine Untreue.

HK F 29 (002a): Fritz Löw-Beer, Toni und Hermann Kesten, Marianne Löw-Beer
HK F 29 (002a): Fritz Löw-Beer, Toni und Hermann Kesten, Marianne Löw-Beer

Verleihung des «Preises der Stadt Nürnberg»

In Europa gefiel es ihnen, aber in Deutschland wollten Toni und Hermann Kesten nicht mehr leben. Doch zur Verleihung des «Preises der Stadt Nürnberg» reisten sie 1954 in ihre alte Heimat, wo der Schriftsteller gefeiert wurde. Sichtlich zufrieden mit dem Empfang, den man ihm bereitet hatte, lächelt Hermann Kesten in die Kamera. Toni scheint glücklich an der Seite ihres Mannes. Auch für sie bedeutete es eine Genugtuung, in Nürnberg Ehrengast zu sein, nachdem man ihr und allen ihren Angehörigen dort einst den Tod gewünscht hatte. Der Geist, der aus Deutschland vertrieben worden war, hatte sich als stärker erwiesen als der Ungeist.

HK F 50 (001 a): Der Kulturhistoriker und Pädagoge Georg Gustav Wieszner mit Toni und Hermann Kesten in Nürnberg, 1954
HK F 50 (001 a): Der Kulturhistoriker und Pädagoge Georg Gustav Wieszner mit Toni und Hermann Kesten in Nürnberg, 1954

Tod von Toni Kesten, Wohngemeinschaft mit Martha Marc und «La Charmille»

Toni und Hermann Kesten waren nach der Krise, die Hermanns Affäre mit Marianne Löw-Beer heraufbeschworen hatte, noch fast fünfundzwanzig gemeinsame Jahre geschenkt. Als Toni am 3. Juli 1977 völlig überraschend in Rom starb, war Hermann am Boden zerstört. Toni war die Frau seines Lebens gewesen. Ohne sie fehlte ihm die Kraft und der Mut weiterzumachen. Nach ihrem Tod hat er praktisch nichts mehr geschrieben, von Briefen abgesehen. Es fiel ihm schwer, alleine klar zu kommen. In Rom wollte er ohne sie nicht bleiben. 

Mirjam Pataki, die Tochter einer Nürnberger Jugendfreundin Tonis und Hermanns, hatte die rettende Idee: Ihre Mutter, Martha Marc (1904 – 1984), war wie Hermann Kesten frisch verwitwet. Warum zogen die beiden, die sich doch seit Jahrzehnten gut kannten, nicht zusammen? So kam Kesten nach Basel, wo er mit Martha Marc eine Wohnung auf dem Bruderholz, einem schönen Villenquartier, bezog. Toni wäre bestimmt einverstanden gewesen mit diesem Schritt. Wie viele Male hatten sie und Hermann die Marcs nicht in der Stadt am Rheinknie besucht und von dort manchen Ausflug gemacht, zum Beispiel nach Rothenburg an der Tauber, heute noch Ziel vieler Rentner.

HK F 3 (002a): Toni Kesten, Martha Marc und Hermann Kesten vor Rolf Trexlers Figurentheater in Rothenburg an der Tauber #femaleheritage
HK F 3 (002a): Toni Kesten, Martha Marc und Hermann Kesten vor Rolf Trexlers Figurentheater in Rothenburg an der Tauber

Als auch Martha Marc 1984 plötzlich verstarb, zog Hermann Kesten in das jüdische Altersheim «La Charmille» in Riehen bei Basel. Dort hat ihn seine Schwester Gina Sommer für Sommer besucht, oft in Begleitung ihrer Tochter Marian. So konnten sich die Geschwister im Alter wieder so nahe sein wie in ihrer Jugend, wenn auch jeweils nur für ein paar Wochen. Gelegentlich wurden die beiden von Sigrid von Ungern-Sternberg in Riehen zum Essen eingeladen. An einem schönen Sommerabend saß auch ich dort mit ihnen im Garten und wir unterhielten uns über Gott und die Welt. Gina Strauss-Kesten, die auch mit fast neunzig Jahren eine sehr lebhafte Dame war, sagte zu mir: «Wissen Sie, mein Bruder ist ein Antifeminist.» Da lächelte dieser und meinte: «Aber nein, ich habe die Frauen immer geliebt.»


Lesetipp #femaleheritage:

Autor*innen-Info

Profilbild Albert M. Debrunner

Dies ist ein Gastbeitrag von Albert M. Debrunner

Albert M. Debrunner, geboren 1964, hat Englisch, Deutsch und Philosophie studiert; er promovierte mit einer Arbeit über den Schweizer Aufklärer Johann Jakob Bodmer und ist Gymnasiallehrer. Er publizierte verschiedene Bücher, u.a. «Freunde, es war eine elende Zeit! René Schickele in der Schweiz 1915-1919» (2004), den «Literaturführer Thurgau» (2008), die «Literarischen Spaziergänge durch Basel» (2011), «Zu Hause im 20. Jahrhundert», die erste Biographie Hermann Kestens (2017), zusammen mit Cornelia Michél einen Band mit Briefen Annette Kolbs, «Ich hätte dir noch so viel zu erzählen» (2019), sowie zahlreiche Artikel zu literaturhistorischen Themen. Albert M. Debrunner lebt in Basel.

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