Hélène Cixous wird zuweilen als „Legende des Feminismus“ bezeichnet. Mit ihrem einflussreichsten Text „Das Lachen der Medusa“ prägte sie den Begriff der „écriture féminine“. Zugleich gilt der Essay als einer der bedeutendsten Schlüsseltexte der feministischen Theorie. Ein Beitrag zur Blogparade #femaleheritage.
Schreiben ist für mich der Atem.
Das Atmen, eine ebenso dringende Notwendigkeit
wie das Bedürfnis aufzustehen, zu berühren,
zu essen, zu umarmen und auszuscheiden.
Wenn ich nicht schreibe, ist es, als wäre ich tot.
Hélène Cixous, 1977.
Hélène Cixous – „Legende des Feminismus“
Seit über einem halben Jahrhundert entwickelt die Schriftstellerin, Philosophin und Dramatikerin Hélène Cixous ein auf literarischer Ebene nahezu unklassifizierbares Werk. Sie setzt sich darin mit der Geschichte ihrer Familie, dem Exil und aktuellen Themen ihrer Zeit, allen voran Feminismus sowie Geschlechterrollen und -identitäten, auseiander.
Sie ist Trägerin des »Ordre national du Mérite«, wurde mit zahlreichen Preisen und Ehrendoktorwürden in Europa, den USA und Kanada ausgezeichnet und gilt als eine der angesehensten Intellektuellen der Welt. Mancherorts wird sie als »Legende des Feminismus« bezeichnet, denn ihre Schriften, die als feministische, sprachliche und politische Intervention verstanden werden können, haben bis heute nichts an Aktualität und Bedeutung verloren.
Hélène Cixous kommt am 5. Juni 1937 als erstes Kind der in Deutschland geborenen Eva Cixous (geb. Klein) und des gebürtigen spanischen Arztes, Georges Cixous, in Oran im damals zu Frankreich gehörenden Teil Algeriens zur Welt. Ihre frühen Kindheitsjahre sind geprägt von einschneidenden Ereignissen: Als Kind jüdischer Eltern darf sie ausschließlich am Unterricht für jüdische Kinder teilnehmen und wird wiederholt Opfer diskriminierende und antisemitischer Anfeindungen. Ihr Vater stirbt an Tuberkulose, als sie erst zehn Jahre alt ist – der Moment, der als Beginn ihrer schriftstellerischen Tätigkeit angesehen wird.
1955 heiratet sie Guy Berger, mit dem sie Oran noch im selben Jahr verlässt und nach Paris zieht. Dort erlangt sie im Jahr 1968 als bis dahin jüngste Frau Frankreichs den Titel docteur-és-lettres mit einer Arbeit über das Exil im Werk von James Joyce. Kurz darauf gründet sie als Reaktion auf die 1968er Studentenproteste mit anderen Gleichgesinnten das Centre universitaire expérimental de Vincennes, die heutige Reformuniversität Paris VIII, wo sie seither als Professorin für englische Literatur lehrt Das 1974 von ihr gegründete Centre d’études Féminines (heute: Centre d’études féminines et d’études de genre) ist das erste Forschungszentrum für Frauenstudien in Europa.
Sprache als Heimat und Mittel der Vergangenheitsbewältigung
Die Themen, denen sich Cixous in ihrem schriftstellerischen Werk widmet, sind fest in ihrer Biografie verankert: Seit ihrer Kindheit wird sie mit den Mechanismen sozialer und politischer Gewalt konfrontiert, die sie durch ihre Schriften zu begreifen versucht. Ihre deutsch-französische Zweisprachigkeit versteht sie dabei als essenzielle Ressource der Vergangenheitsbewältigung. Sie beginnt früh, eine eigene Schriftsprache zu entwickeln, indem sie die von ihr beherrschten Sprachen ihren Bedürfnissen anpasst.
Ihre Texte erscheinen durchzogen von Abschweifungen, sie wirken beinahe wie Träume, in denen die Träumende zwischen Zeit und Raum zu springen vermag, ohne dabei das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren. Sie folgt Ihrem eigenen Rhythmus, geht dabei oft sprunghaft vor, platziert Satzzeichen nicht nach grammatikalischen Regeln und lässt sie bisweilen einfach ganz aus. Es gibt kein Gesetz, betont Cixous, das festlegt wie jemand zu schreiben hat. Daher erfindet sie auch nach Bedarf eigenen Wörter, wie beispielsweise den Ausdruck »Zérosnabrück«, mit dem sie ein »nahezu judenleeres Osnabrück« bezeichnet.
Diese unkonventionelle Art des Schreibens stellt oft eine besondere Herausforderung für die Übersetzer:innen ihrer Texte dar. Wiederholt betonen sie, dass es nahezu unmöglich sei, die Sprache von Hélène Cixous in ihrer ganzen Tiefe wiederzugeben. Insbesondere wegen ihrer stilistischen Eigenheiten sei es oft nicht zu vermeiden, Cixous‘ Wortspiele und Echos zum besseren Verständnis in der Originalsprache Französisch in Klammern oder in einem Anhang hinzuzufügen.
Écriture féminine und » Lachen der Medusa«
Heute wird Cixous – neben den beiden Psychoanalytikerinnen und Kulturtheoretikerinnen Luce Irigaray und Julia Kristeva – als »Mutter der poststrukturalistischen feministischen Theorie« bezeichnet. Sie selbst bekannte sich zwar nie explizit zu einer politischen oder feministischen Strömung, prägte jedoch mit ihrem wohl wichtigsten und einflussreichsten Text »Das Lachen der Medusa « (Originaltitel: Le Rire de la Méduse, 1975) den Begriff der »écriture féminine«.
Es ist unerläßlich, daß die Frau sich schreibt: daß die Frau ausgehend von der Frau schreibt und die Frauen zum Schreiben bringt. […]Es ist unerläßich, daß die Frau sich auf und in den Text bringt – so wie auf die Welt, und in die Geschichte –, aus ihrer Bewegung heraus. […] Und warum schreibst Du nicht? Schreib! Schrift ist für Dich, Du bist für Dich, Dein Körper ist Dein, nimm ihn.
Hélène Cixous, »Das Lachen der Medusa«, 1975.
Cixous richtet ihren Text jedoch keineswegs an die »Frau« im biologischen Sinne, sondern vielmehr an ein Wesen, das sich derartigen Identitätskategorien widersetzt und in permanentem Wandel ist. Sie definiert Frauen nicht als statische Objekt der patriarchalen Ordnung, sondern als multipel und mehrdimensionale Individuen, die sich selbst erst noch erschaffen müssen, indem sie ihre eigene Sprache und ihre eigene Schrift finden: »Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau. «
Hélène Cixous‘ Philosophie der »écriture féminine« stellt die Frau ins Zentrum ihrer Selbstverantwortung und -verwirklichung, die sich durch ihr Reden und Schreiben aus ihrer historischen Marginalisierung befreien müsse, um ihren eigenen Raum zu schaffen.
»Autobigrafiktion« – »Der beste Weg, sich nach Osnabrück zu begeben, ist über die Literatur«
Einige ihrer Bücher, so sagt Cixous, dienen ihr als Brücke zu den Toten, als Brück zu ihren verstorbenen Familienmitgliedern.
Cixous bezeichnet sich selbst als Kind zweier Städte: Oran (ihre eigene Geburtsstadt und Heimat ihres Vaters) und Osnabrück (Geburtsstadt ihrer Mutter und ihrer Großmutter Rosi Klein, die Cixous stets liebevoll Omi nennt). Die multikulturelle Lebensgeschichte von Cixous ist seit ihrer Kindheit eng mit dem Schicksal ihrer Eltern und Ahnen verknüpft. Den Verlust zahlreicher Familienmitglieder mütterlicherseits, die während des Zweiten Weltkrieges in Vernichtungslagern ermordet wurden, erlebt sie vor allem durch die Erzählungen ihrer Mutter und ihrer Omi. Dies an sie weitergetragenen Erinnerungen nimmt Cixous in sich auf und überträgt sie in ihre eigene Sprache.
Insbesondere ihre fiktiven Romane »Osnabrück« (1999), »Benjamin à Montaigne« (2001) und »Gare d’Osnabrück à Jérusalem« (2016 weisen ein hohes Maß an biografischen Element auf: Die Autorin erzählt die Geschichte ihrer Familie im Spiegel ihrer eigenen Erinnerungen. Ihr seit Ende der 1990er Jahre entstandenes Werk verdeutlicht ihre zunehmende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, ihr Bestreben, den »Faden der Erinnerung nie abreißen«zu lassen:
Es geht darum. Das Vergessen in seine Schranke zu weisen. Wir dürfen nicht schreiben, um zu vergessen, sondern um uns daran zu erinnern, zu erinnern.
Hélène Cixous, 1979
#femaleheritage – Hélène Cixous und Erich Maria Remarque
Als Mitarbeiterin des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums und Wahl-Osnabrückerin lag es für mich auf der hand, im Zuge der Blogparade #femaleheritage über die französische Schriftstellerin Hélène Cixous zu schreiben. Trotz der Tatsache, dass sie nie in Osnabrück lebte, ist Cixous eng mit der Stadt verbunden. Hier liegen ihre Wurzeln: Ihre Mutter Eva Klein sah sich ebenfalls gezwungen, Anfang der 1930er Jahre vor den Nationalsozialisten ins Exil zu fliehen. Hélène Cixous greift dieses Gefühl des Heimatverlustes ihrer Mutter besonders in ihren Osnabrück-texten auf, in denen sie zugleich auch ihre eigenen Erfahrungen der Ausgrenzung verarbeitet.
Sowohl Erich Maria Remarque als auch Hélène Cixous sind Träger der seit 1944 von der Stadt Osnabrück verliehenen Justus-Möser-Medaille. Mit dieser Auszeichnung ehrt die Stadt seit jeher Personen, die sich um Osnabrück oder die Region verdient gemacht haben. Nachdem Cixous zunächst zögerte, nahm sie den Preis schließlich entgegen. Überzeugt hatte sie ein ganz besonderer Name auf der Liste der Preisträger: Erich Maria Remarque.
Wir bedanken uns sehr herzlich für diesen großartigen Artikel, nach der Vernetzungsaktion #ErikaMann schon der zweite Gastbeitrag von Alice Cadeddu bei uns.
Installation „Anger is a liquid” von Lilian Robl – Auseinandersetzung mit dem Mythos der Medusa
Gerne erinnern wir an die Installation „Anger is a liquid“ der bildenden Künstlerin Lilian Robl. Diese zeigten wir im Forum Atelier der Monacensia im September. In ihrer Arbeit setzt sich die Künstlerin mit dem Topos der „weiblichen Wut“ und ihren historisch-gesellschaftlichen Bedingungen auseinander, hier vor allem mit dem Mythos der Medusa. Nach Lilian Robl sei dieser oft verkürzt dargestellt. Sie verweist vor allem auf feministische Literatur der 70er und 80er Jahre, die die Lesart umgedeutet und erweitert haben, darunter vor allem auch Hélène Cixous.
Erich Maria Remarque-Friedenszentrum
Markt 6
49074 Osnabrück
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