Was zeichnet die Frauen der europäischen Boheme aus? Woher stammt der Begriff? Wie wirken sich geringe Ausbildungschancen von Frauen auf ihre Bewegungen und Erprobungen von Lebensformen jenseits der bürgerlichen Welt aus? Veronika Born geht auf die intellektuelle Subkultur der Bohemien*nes und Formen ihres Vagabundierens in ihrem Beitrag zu #FrauenDerBoheme* ein.
Was ist die Boheme – und was zeichnet ihre Frauen aus?
Bei der Boheme handelt es sich um eine intellektuelle Subkultur am Rande der bürgerlichen Gesellschaft. Sie stellt vorwiegend ein Phänomen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dar. Die Boheme findet sich in vielen europäischen Ländern und weist Ableger außerhalb Europas auf. Sie ist in großstädtischen Künstler*innen- und Student*innenvierteln, Vororten mit geringen Lebenshaltungskosten oder ländlichen Künstler*innenkolonien angesiedelt. Die Angehörigen der Boheme treten demonstrativ un- oder gegenbürgerlich auf und betätigen sich künstlerisch.
Um 1900 gibt es in der Boheme Frauen, die nicht nur Modelle, Musen oder Geliebte sind. Stattdessen bilden sie selbst den Mittelpunkt einer Boheme-Szene. Sie sind entweder Teil von Atelier- oder Kaffeehauskreisen oder gründen mit literarischen Salons vergleichbare Boheme-Zirkel. Einerseits bietet ihnen die Boheme Raum zur freien Erprobung verschiedener Lebensformen. Andererseits sind sie als Künstlerinnen und Bohemiennes doppelt marginalisiert. Thematisch verbindet sie oft die Auseinandersetzung mit Gegenständen aus den Bereichen Geschlechterverhältnisse, Sexualität und Reproduktion.
Seinen Ursprung hat der Begriff der Boheme in einer französischen Herkunftsbezeichnung für die Sinti*zze und Roma*nja. Diese nimmt auf die Region Böhmen im Westen der heutigen Tschechischen Republik Bezug. Die Übertragung auf die Sinti*zze und Roma*nja erfolgt aufgrund der Fehlannahme, dass diese aus Böhmen kämen. Analog zu der deutschen Fremdbezeichnung „Zigeuner*in“ erfährt der Begriff eine Bedeutungserweiterung und -verschlechterung. Losgelöst von seiner ethnischen Bedeutung entwickelt er sich zu einer Sammelbezeichnung für das sogenannte fahrende Volk.
Anklänge an diese ursprüngliche Begriffsbedeutung gibt es in der Künstler*innenboheme nach wie vor. So wechseln manche ihrer Angehörigen zwischen einer großstädtischen und einer gelegentlichen großstadtfernen Existenz im ländlichen Raum. In Vororten angesiedelte Boheme-Kreise sowie Künstler*innenkolonien auf dem Land sind ebenfalls in diesem Kontext zu sehen. Einige Bohemien*nes hegen Reiseträume oder reisen tatsächlich in andere Länder. Zum Teil pflegen sie zeitweise einen Lebensstil, der sich als vagierend oder vagabundisch beschreiben lässt.
Vier Frauen der europäischen Boheme
Die geschilderten Erscheinungen lassen sich auch in Verbindung mit europäischen Bohemiennes beobachten. Manche der Frauen sind daran interessiert, zumindest temporär abseits der Städte auf dem Land zu leben. Teilweise gehen sie auf Reisen oder nehmen in ihren Werken auf als exotisch geltende Orte Bezug. Der „weiblichen Boheme“ ist ein gewisses Vagabund*innentum inhärent. An dieser Stelle werden stellvertretend vier Beispiele herausgestellt:
1. Else Lasker-Schüler – München, Tradition und ländlicher Raum
Else Lasker-Schüler, die wohl berühmteste deutsche Bohemienne neben Franziska zu Reventlow, wirkt vorwiegend in Berlin. Die Hauptstadt bildet eines der Zentren der Boheme in Deutschland. Im Vergleich zu München erscheint sie Lasker-Schüler „wie […] eine[] langweilige[] Kokotte“[1]. Die Schriftstellerin, die in ihren Werken eigene Vorstellungen des Orients generiert, empfindet München als wenig urban. Sie beschreibt die Stadt als „[e]ine alte Riesenkommode […], aus einem bayerischen Alpenknochen gehauen“[2]. Dadurch betont sie die Nähe Münchens zur Tradition und zum ländlichen Raum.
2. Ida Hofmann-Oedenkoven – die Künstler*innenkolonie Monte Verità
Ida Hofmann-Oedenkoven ist an der Gründung der bei Ascona gelegenen Künstler*innenkolonie Monte Verità beteiligt. Gemeinsam mit ihrem Ehemann und weiteren Gleichgesinnten etabliert sie diesen Ort zur Erprobung alternativer Lebensformen. Seine Bewohner*innen beabsichtigen, „ihrem Leben eine natürlichere und gesündere Wendung zu geben“[3]. In „Monte Verità. Wahrheit ohne Dichtung“ aus dem Jahr 1906 legt Hofmann-Oedenkoven ihre Ansichten dar. Der Monte Verità entwickelt sich zu einem Anziehungspunkt für soziale Außenseiter*innen aus ganz Europa. Unter ihnen befinden sich Frauen der Boheme wie etwa Else Lasker-Schüler oder Franziska zu Reventlow.
3. Renée Vivien – Belle Époque, Sapphismus und Erfahrenwollen
Renée Vivien gehört zu den Schriftstellerinnen der Belle Époque, die dem Kult des Sapphismus huldigen. Sie übersetzt die Dichtungen der antiken griechischen Dichterin Sappho und rezipiert diese in ihren eigenen Werken. Gemeinsam mit ihrer Geliebten Natalie Clifford Barney begibt sie sich auf die griechische Insel Lesbos. Die beiden beabsichtigen, dort eine Schule für lesbische Dichterinnen zu errichten. Dieses scheiternde Vorhaben passt zu dem bohemetypischen Erfahrenwollen der Heim- oder Realisationsstätten von Ideen. Vivien unternimmt im Laufe ihres Lebens viele weitere Reisen und ersinnt imaginäre Landschaften.
4. Emmy Ball-Hennings – „Dagny“ und Prostitution
Emmy Ball-Hennings schildert in ihrem Tagebuchroman Das Brandmal aus dem Jahr 1920 die Geschichte des Mädchen Dagny. Es teilt seinen Namen mit der Schriftstellerin Dagny Juel-Przybyszewska, die als eine „Königin der Boheme“gilt. Ball-Hennings‘ Dagny ist eine Schauspielerin, die auf der Suche nach einem Engagement umherzieht. Während ihrer Reise durch deutsche Städte nimmt sie diverse Gelegenheitsarbeiten an und prostituiert sich zeitweise. Ball-Hennings‘ eigenes Leben ist ebenfalls vom Umherziehen und von Umzügen geprägt.
Bewegungen, geringe Ausbildungschancen und künstlerische Berufe
Im Fall der Bohemiennes sind Bewegungen zwischen verschiedenen Orten zudem durch pragmatische Gründe bedingt. Die eingeschränkten (Aus-)Bildungsmöglichkeiten für Frauen um 1900 stellen einen dieser Gründe dar. Im deutschsprachigen Raum können gehobene Bürgerstöchter nach der Elementar- und Volksschule eine höhere Töchterschule besuchen. Der Unterricht dort orientiert sich stark an den vorherrschenden Rollenbildern. Bürgerliche Frauen dürfen sich bei der Berufswahl lediglich zwischen Lehrerin, Erzieherin und Pflegerin entscheiden. Später kommen zumindest noch Telegrafistin und Stenotypistin hinzu.
In Deutschland werden Frauen erst im Jahr 1908 überall zum Universitätsstudium zugelassen. Daher begeben sich zahlreiche studierwillige Frauen in die Schweiz, die eine Vorreiterrolle im europäischen Raum einnimmt. Vor allem die Universität Zürich ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben. Viele der ersten Studentinnen stammen aus dem Russischen Kaiserreich; Lou Andreas-Salomé ist eine von ihnen. Sie verkehrt später in Künstler*innen- und Intellektuellenkreisen.
Die geringen Ausbildungschancen tragen ferner dazu bei, dass Frauen um 1900 in künstlerische Berufsbereiche streben. Das schließt den Bereich der bildenden Kunst mit ein. Im deutschsprachigen Raum entstehen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprechende Mal- und Zeichenschulen. In Teilbereichen wie der Aktzeichnung ist eine weibliche Betätigung in der Regel allerdings nicht vorgesehen. Infolgedessen nehmen viele deutsche Künstlerinnen Unterricht im Ausland; besonders Paris erfreut sich bei ihnen großer Beliebtheit. Zu den dort unterrichteten Frauen zählt etwa Paula Modersohn-Becker, die auch Teil der Künstler*innenkolonie Worpswede ist.
Paris ist nicht bloß bei Künstlerinnen aus Deutschland und dem deutschsprachigen Raum populär. Zum einen sind die vielen anderen Auswanderinnen anzuführen, die dort leben und künstlerisch tätig sind. Sie kommen vorwiegend aus Großbritannien und den USA. Zum anderen ist auf die in Paris wirkenden Französinnen zu verweisen. Zu ihnen gehören beispielsweise die schreibende Kurtisane Liane de Pougy oder die Schriftstellerin und Varietékünstlerin Colette. Die Frauen verbindet die Sehnsucht nach einem freieren Leben, das ihnen in Paris möglich ist.
Bei der Schriftstellerin Gertrude Stein handelt es sich um eine der US-Amerikanerinnen, die nach Paris auswandern. Im von ihr und ihrer Lebensgefährtin geführten Salon kommt eine Vielzahl von Künstler*innen zusammen. Auch die bereits erwähnte Natalie Clifford Barney ist eine in Paris lebende US-Amerikanerin. Sie umgibt sich mit Frauen – viele davon homo- oder bisexuell – und begründet ebenfalls einen viel besuchten Salon. Clifford Barney ist wie die britische Schriftstellerin und Verlegerin Nancy Cunard eine reiche Erbin. Cunard zieht ebenfalls nach Paris.
Zuvor verkehren Cunard und die mit ihr befreundete Künstlerin Iris Tree in der Londoner Boheme. Die beiden pflegen Kontakte zu vielen anderen Künstler*innen. Mit Nina Hamnett ist eine Bohemienne darunter, die den bereits oben erwähnten und mehrfach vergebenen Titel „Königin der Boheme“ trägt. Ferner kennt Cunard Angehörige der Bloomsbury Group, dem Künstler*innen- und Intellektuellenzirkel um die Schriftstellerin Virginia Woolf.
Die angeführten Beispiele sollen verdeutlichen, wie präsent Frauen in der europäischen Boheme sind. Häufig bewegen sie sich zwischen verschiedenen Orten. Diese Bewegungen entsprechen zum einen dem bohemetypischen Vagabund*innentum. Zum anderen sind sie auf den Wunsch der Bohemiennes nach einem freieren und selbstbestimmten Leben zurückzuführen. Einige der weiblichen Angehörigen der Boheme sind direkt oder indirekt miteinander vernetzt.
Literatur:
- Ball-Hennings, Emmy: Das Brandmal. Ein Tagebuch. Berlin: Reiß, 1920.
- Hofmann-Oedenkoven, Ida: Monte Verità. Wahrheit ohne Dichtung. Lorch: Karl Rohm, 1906.
- Lasker-Schüler, Else: „Wauer-Walden via München usw.“. In: Dies.: Essays. 2. Auflage. Berlin: Paul Cassirer, 1920, S. 76−80.
- Brooker, Peter: Bohemia in London. The social scene of early modernism. Basingstoke u. a.: Palgrave Macmillan, 2007.
- Dehning, Sonja: Tanz der Feder. Künstlerische Produktivität in Romanen von Autorinnen um 1900. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000.
- Gnüg, Hiltrud: „Erotisch-emanzipatorische Entwürfe. Schriftstellerinnen um die Jahrhundertwende“. In: Frauen – Literatur – Geschichte. Schreibende Frauen im Mittelalter bis zur Gegenwart. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Hg. von ders. und Renate Möhrmann. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1999, S. 445−463.
- Kreuzer, Helmut: Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Mit einem Errataverzeichnis versehene, sonst textlich unveränderte Studienausgabe. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2000.
- Meyer, Anne-Rose: Jenseits der Norm. Aspekte der Bohème-Darstellung in der französischen und deutschen Literatur. 1830−1910. Bielefeld: Aisthesis, 2001.
- Vicinus, Martha: Intimate friends. Women who loved women. 1778−1928. Chicago/London: University of Chicago Press, 2004.
- Weiss, Andrea: Paris war eine Frau. Die Frauen von der Left Bank. Aus dem Englischen von Susanne Goerdt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1998.
[1] Lasker-Schüler 1920: S. 76.
[2] Ebd.
[3] Hofmann-Oedenkoven 1906: S. 3.
* Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.