Franziska zu Reventlow, die berühmte „Schwabinger Gräfin“ der Münchner Boheme, kommt am 18. Mai 1871 in Husum zur Welt. Anlässlich ihres Geburtstages beleuchtet Dr. Kristina Kargl die enge Beziehung der Schriftstellerin, Übersetzerin und Malerin zu ihrem Sohn Rolf. Welche Schriften sind eng mit ihrer Biografie verbunden? Was tat sie, um Rolf Reventlow vor den Kriegsgefahren zu schützen und seine skandalöse Desertion vorzubereiten? Warum galt sie als spionageverdächtige Person? Welchen Austausch pflegte sie zu pazifistischen Kreisen? Und warum kam es zum Abschied für immer?
Dann kam man so langsam ins Leben zurück, ich lag in meinem Wohnzimmer, sah grüne Bäume und Sonne und hatte mein Kind, endlich mein Kind, o mein Gott mein Kind. Alles hängt an ihm, all meine Liebe und all mein Leben und die Welt ist wieder herrlich für mich geworden, voller Götter und Tempel und blauer Himmel darüber.[1]
Als Franziska zu Reventlow diese Glücksgefühle nach der Geburt ihres Sohnes Rolf am 1. September 1897 beschrieb, hatte sie nicht nur schlimme Stunden, sondern sogar schreckliche Monate hinter sich – Zeiten der Krankheit, des Hungers, der Hoffnungslosigkeit, der Trennung, der Einsamkeit, der Verzweiflung und Armut. Das alles war der Preis, den sie für ihren unbändigen Wunsch nach Freiheit zahlen musste, die ihr wichtiger war als jedes dauerhafte Abgesichertsein in einer Ehe, Beziehung oder einem Beruf. Diese so schwer errungene Freiheit wollte sie in Zukunft nur mit einem Wesen teilen, ihrem Kind: Es sollte ein Leben lang nur ihr gehören und sie aus ihrer inneren Einsamkeit erretten. Kein Vater sollte diese Zweisamkeit stören, nie sollte dessen Name bekannt werden. Dieses Kind zu lieben und zu beschützen war fortan ihre größte Aufgabe. Und so wurde die Rettung ihres Sohnes vor einem schrecklichen Tod im Krieg die letzte große und erfolgreiche Aufgabe ihres Lebens.
Franziska zu Reventlow: Ich will nämlich Künstlerin werden…
Eigentlich war Franziska zu Reventlow nach München gekommen, um Malerin zu werden. Bereits 1889 hatte sie ihrer Freundin Anna Petersen von Husum aus geschrieben:
Ich habe jetzt große Pläne, bitte lache mich nicht aus liebe Anna, ich will nämlich Künstlerin werden.[2]
Diese Pläne – Malstudien in München zu betreiben – ermöglichte ihr großzügig der Gerichtsassessor Walter Lübke, mit dem sie sich im August 1893 verlobt hatte. Ihn hatte sie bei einer Freundin in Hamburg kennenglernt, bei der sie nach einem großen Zerwürfnis mit ihren Eltern wohnte.
Malerei und Schriftstellerei
Bei ihrem ersten München-Aufenthalt im Oktober 1893 meldete sie sich schon bald in der privaten Malschule von Anton Ažbe an. Der Slowene galt als bester Lehrer in Schwabing, der später auch Berühmtheiten wie Kandinsky und Jawlensky unterrichtete. Erste Stunden in Bildhauerei nahm sie anfänglich bei Vittorio Güttner. Mit seiner Familie befreundete sie sich und wohnte mit ihrem Sohn später auch immer wieder bei dieser. Sie verkehrte in polnischen Malerkreisen, die sich zu dieser Zeit noch nicht mit den Schwabinger Literatenkreisen vermischten, auch wenn man sich in den Cafés Luitpold und Leopold durchaus begegnete.
Seit dem Frühjahr 1893 war Franziska zu Reventlow literarisch tätig. Sie veröffentlichte im Husumer Anzeiger ihrer alten Heimatstadt kleinere Artikel oder auch in dem Wochenblatt Gesellschaft von Michael Georg Conrad. Ihm schrieb sie am 30. Dezember 1893 einen geradezu programmatischen Brief, in dem sie die Schwerpunkte ihres künftigen Lebens bereits skizzierte:
Ich bin nämlich zu dem schweren Entschluss gekommen, die Bildhauerei an den Nagel zu hängen und werfe mich nun ausschließlich auf die Malerei.“ […] „Aber schreiben muss ich doch. Es gibt so vieles, was man gerne künstlerisch gestalten möchte und es wenigstens noch nicht in der Malerei ausdrücken kann. Da drängt es mich natürlich mächtig dazu, es zu schreiben. […] Und doch ist dieses Künstler-Bohemeleben das Beste von meinem ganzen bisherigen Leben gewesen. Es ist wenigstens frei, ganz frei […][3]
Die Schwabinger Boheme und das absolut freie Leben
Die Kunstmetropole München, die durch die Akademie der Schönen Künste und die Malerfürsten wie Lenbach, Kaulbach oder Stuck berühmt geworden war, zog in den Jahren um 1890 fast 3000 Maler aus ganz Europa an. An den privaten Malschulen oder der Damenakademie konnten sich auch Frauen, die zu dieser Zeit noch keine Aufnahme an der Akademie fanden, unterrichten lassen. Ermöglicht wurde der Zuzug durch die niedrigen Mietpreise in Schwabing und das große Angebot an Atelierräumen für die Künstler. Hier konnte man frei leben ohne sich patriarchalen oder gesellschaftlichen Zwängen wie im übrigen wilhelminischen Deutschland unterordnen zu müssen.
Die tägliche Gemeinschaft mit Freigeistern aller Art und die zahlreichen Feiern und Feste der Künstlerboheme wurden durch die zahlreichen Cafés und Lokale in Schwabing gefördert. Unter ihnen nahm das Café Stefanie einen besonderen Rang ein. Auch das Künstlerlokal von Kathy Kobus, der Simplicissimus, kurz Simpl, war ein beliebter Ort mit einem literarisch, musikalisch und kabarettistisch interessierten Publikum. Gerade junge Sänger und Dichter, die sich in Schwabing niedergelassen hatten, stellten hier ihre Kunst vor.
Obwohl die finanziellen und gesundheitlichen Probleme ständig wie ein Damoklesschwert über ihr schwebten, genoss Franziska zu Reventlow die Schwabinger Boheme in vollen Zügen, die sexuelle Freiheit und das Ausgelassensein auf den Kirchweihfesten und während des Faschings. Mit Übersetzungsarbeiten für den Albert-Langen-Verlag hielt sie sich schon seit ihrer beschwerlichen Schwangerschaft über Wasser. Nach der Geburt des Kindes wollte sie zwar häuslicher werden, konnte aber den Verlockungen der Boheme nicht widerstehen. Sie begann, sich in anderen Kreisen zu bewegen. Schriftsteller aus dem Kosmikerkreis um Stefan George, wie Karl Wolfskehl und Ludwig Klages wurden ihre engen Freunde. Hier wurde sie als heidnische Madonna und Hetäre bewundert.
Ludwig Klages ermunterte sie, ihre Erinnerungen an ihre Kindheit und Schulzeit in Husum und Lübeck aufzuschreiben, auch ihre ersten Jahre in München. Das Buch „Ellen Olestjerne“ wurde zwar kein großer Erfolg, wird heute aber häufig zur Deutung ihres Lebens herangezogen. Kleinere Arbeiten wie Essays oder Witze für den Simplicissimus brachten ihr etwas Geld ein. Ihre Schriftstellerei, die sie letztendlich berühmt machte, war eigentlich für sie immer eine leidige Nebenaufgabe, das Malen war immer ihr Ideal. Bei ihren zahlreichen Freunden bettelte sie immer wieder um Geld für die Miete oder ihren Lebensunterhalt. Sie wechselte allein in München 25mal die Wohnung, wobei zwei längere Aufenthalte im Krankenhaus Josephinum, das damals in der Arcisstr. 41 lag, hier mitgezählt wurden.[5]
Jeder Umzug in München wurde amtlicherseits genau dokumentiert. Auch nach ihrem Verlassen Münchens wurde sie von den dortigen Behörden observiert und als spionageverdächtige Person behandelt.[6] Das wird später noch von Bedeutung sein.
Mit ihrem zeitweiligen Geliebten, dem polnischen Maler Bohdan von Suchocki und dem Schritftsteller Franz Hessel zusammen bewohnte sie das berühmte Eckhaus in der Kaulbachstraße. Hier lernte sie auch Hessels Freund, den französischen Schriftsteller Henri-Pierre Roché kennen. Wann immer sie es ermöglichen konnte, reiste sie – mal ins bayerische Umland, aber auch nach Italien und Griechenland.
1910 zogen Mutter und Sohn nach Ascona im Schweizerischen Tessin. Eine von Erich Mühsam arrangierte Hochzeit mit dem baltischen Baron Alexander von Rechenberg-Linten sollte ihr eine Erbschaft sichern. Mit dem Geld, das sie beim Ableben des Schwiegervaters erhalten sollte, hätte sie eine längere Zeit sorgenlos leben können. Doch das auf der Tessiner Bank angelegte Geld ging bei einem Bankenkrach größtenteils verloren. Das Thema verarbeitete sie in dem Buch Der Geldkomplex, das 1916 bei Albert Langen erschien.
Gefahr für den Sohn: Krieg und Desertion
Beim Kriegsausbruch 1914 machte Franziska zu Reventlow große Sorgen, dass ihr Sohn einberufen werden könnte. Rolf Reventlow schildert die Situation folgendermaßen:
Der Gedanke, ihr Sohn werde Soldat, schien ihr fast unerträglich. Es war eine gefühlsmäßige Ablehnung des Militärischen. Sie mokierte sich über alle Uniformen, die sie stets mit denen der Hotelportiers verglich. Wenn ehedem vor der Münchner Residenz Wachablösung war, pflegte sie schnell wegzugehen, da sie Lachkrämpfe bekam. Vor Kriegsausbruch hatte sie versucht, mich in der Schweiz einzubürgern. Aber ich bekam die Schweizer Bürgerschaft nicht, denn nach Ausbruch des Krieges lehnte man meine Entlassung aus dem deutschen Staatsverband ab.[7]
In einem auf Französisch geschriebenen Bericht von 1917, L‘envers du miracle allmand [8] (Die Kehrseite des deutschen Wunders), der erst vor einigen Jahren im Nachlass ihres alten Freundes Henri-Pierre Roché im Harry Ransom Center der University von Austin/Texas gefunden wurde, beschreibt Franziska zu Reventlow die Eigenheiten ihrer adligen Herkunftsfamilie und ihre eigene Einstellung zu Militarismus und Krieg. Diese war absolut konträr zur patriotischen und nationalistischen Einstellung ihrer preußischen Verwandten. Das wichtigste Thema des Berichts aber war die Vorbereitung der Desertion ihres Sohnes Rolf und die Desertion selbst. Da ihr Bruder Ernst als „Pangermanist“ und Kriegshetzer mit scharfen Beiträgen in deutschen Zeitungen bekannt geworden war, wurde die Desertion von Rolf als besonders spektakulär betrachtet und machte den vermeintlichen Skandal weit über die deutschen Grenzen hinaus bis hin nach Amerika bekannt.
Erste Reise ins kriegsbegeisterte München
Im Bericht erzählt sie auch von ihrer ersten Reise nach München Ende 1914, drei Monate nach Kriegsbeginn:
Die Atmosphäre der Stadt, zu einer anderen Zeit die freieste, die fröhlichste, die anti-Preußischste, die kosmopolitischste in Deutschland, die Freunde, die Meinung, die Geschmäcker, die Ansichten – nichts war mehr übriggeblieben, weder Freiheit noch Heiterkeit, noch Anti-Preußentum, noch Vernunft oder guter Geist. München war damals noch voller Enthusiasmus und überzeugt, dass sich die ganze Welt auf das „friedliche Vaterland“ gestürzt habe, um es ohne jeden Grund zu zerstören.[9]
Für sie bedeutete das „deutsche Wunder“, dass man einem Volk von Lakaien den preußischen Militarismus so problemlos hatte aufzwingen können. Denn dieses Volk war es gewohnt, widerspruchslos zu gehorchen, obwohl man gerade in Süddeutschland in Friedenszeiten diesen „Säbelgeist“ verspottet hatte.[10]
Rolf Reventlow war für diese Kriegseuphorie und diesen Patriotismus als 17-jähriger junger Mann sehr empfänglich. Seine Mutter schrieb einem Freund verzweifelt: „Bubi meint, das ist ein Indianerspiel“[11]. Später hatte sich diese Einstellung zwar verändert, aber er war nach wie vor der Überzeugung, dass es seine vaterländische Pflicht sei, Deutschland vor seinen Angreifern zu verteidigen. Ein Jahr später, im April 1916, erhielt er seinen Gestellungsbefehl. Die militärische Disziplin während der Ausbildung ertrug er nur schwer, aber er betrachtete alles als Abenteuer – noch!
Heb d’Hand hoch und hoits Mai. Eigsperrt werst doch, so boidst davolaafst[12]
Mit diesen Worten wurde ihm als Konfessionslosen, der nicht auf Gott schwören wollte, der Fahneneid befohlen. Den ersten Urlaub bekam er nach einigen Monaten und er fuhr nach München, wo er sich mit seiner Mutter traf. Sie hatte es unter großen Schwierigkeiten geschafft, mit ihrem russischen Pass eine Ein- und Ausreisebewilligung zu bekommen.
München hatte sich verändert. Wegen der Demonstrationen gegen die Lebensmittelknappheit patrouillierte überall das Militär. Die Stimmung war schlecht, die Menschen hungerten und von Euphorie war keine Rede mehr. Der Gedanke, dass Rolf zurück ins Kriegsgeschehen musste, war für beide gleichermaßen schrecklich.
Er selbst schildert seine Zeit an der Front in drastischen Worten:
Der infernalische Kanonendonner und das im dichten Nebel aufleuchtende Mündungsfeuer boten eine ungefähre Handhabe, um die „Front“ vage auszumachen. Es gab keinen Graben, keine Unterstände mehr, nur Granatlöcher und ringsum nassen klebrigen Lehm […] Den Winter 1916-1917 verbrachte das fünfzehnte Regiment zuerst in tiefen, von Ratten bevölkerten Gräben der Stellungen um Spada, unweit vom Großkampfplatz Verdun, und dann rings um die Stadt St. Mihiel beiderseits der Maas.
Rolf Reventlow: Kaleidoskop, S. 23.
Franziska zu Reventlow begann, über eine Desertion ihres Sohnes nachzudenken. Der Gedanke, ihren Sohn in dieser Gefahr zu wissen, war für sie unerträglich. Im Oktober 1916 schrieb sie an die Freunde Friedel und Friedrich Kitzinger:
Überhaupt, seit er draußen ist – ich kann Ihnen nicht sagen wie mir ist. Ich hätte mir selbst doch etwas mehr Seelenstärke zugetraut. Aber ich bin einfach verzweifelt. Hoffen oder sich drein ergeben, ist reiner Unsinn, wenn man weiß, dass das Liebste auf der Welt in Gefahr ist und unerreichbar, und beides als chronischer Zustand.[13]
Pazifistische Kreise
Von Muralto/Locarno aus, wo sie wohnte, war es nicht weit zur Villa Neugeboren in Monti sopra Locarno, gegenüber vom Monte Verità. Dort wohnten oder verkehrten pazifistische Emigranten aus Deutschland, Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Maler, Komponisten, Naturpropheten, Sozialisten und Philosophen wie Klabund (eigentlich Alfred Henschke), Ernst Bloch, Hermann Hesse, Emmy Ball-Hennings und Hugo Ball, Else Lasker-Schüler, Gusto Gräser, Richard Goering, Jakob Flach, Lou Albert-Lasard und angeblich Lenin. Mit etlichen dieser Gäste traf sich auch Franziska zu Reventlow.[14]
Schon von Ascona aus hatte sie häufig an ihren Freund, den Philosophen Paul Stern, geschrieben, der ihr eine große Hilfe bei der Verfassung ihres später berühmten Schwabing-Buches „Herrn Dames Aufzeichungen – Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil“ war, das bereits 1912 erschienen war. Sie hatte Stern Anfang 1916 gefragt, ob er Kontakt zu „Leuten der Weißen Blätter“ hätte[15], einer pazifistischen Zeitung von René Schickele, zu deren Kreis auch Klabund und Annette Kolb gehörten. Auch fragte sie Stern in zwei weiteren Briefen vom Sommer und Herbst 1916 direkt nach Annette Kolb.[16] Offensichtlich hatte sie den Wunsch, für eine pazifistische Zeitung zu schreiben. Als Anette Kolb im Mai 1917 zu ihr nach Locarno kam, um sie zur Mitarbeit an der Zeitschrift „Die Friedenswarte“ zu gewinnen, war sie dazu aber nicht bereit.[17]
Diese pazifistischen Kreise wurden natürlich von Schweizer Seite aus sehr misstrauisch beäugt. In ihrer Erzählung Wir Spione nahm sie die Locarneser Polizei auf die Schippe, die sie und ihre Freunde wegen Lampen auf dem Balkon als Spione, die Lichtzeichen gegeben hätten, abgeführt hatten.
Anwerbung als Spionin
Mehrfach erwähnt Franziska zu Reventlow in ihrem Text Die Kehrseite des deutschen Wunders, dass Agenten des Spionagedienstes versucht hätten, sie anzuwerben.[18] Auch ihr Sohn schildert diese Annäherungsversuche:
Seit Ausbruch des Krieges und ihrer Reise mit Sondererlaubnis nach München im Herbst 1914 war Mutter oftmals von diskreten Vertretern der „deutschen Sache“ aufgesucht und eingeladen worden, doch etwas für ihr ursprüngliches Vaterland zu tun. Sie könne mit dem russischen Paß und ihren Sprachkenntnissen sicher Verbindungen herstellen, die für Deutschland überaus nützlich wären. Mutter hatte das stets impulsiv und heftig abgelehnt. Aber nun hatte sie gemeint, sie müsse bei der Botschaft in Bern zumindest den Anschein erwecken, zu einer gewissen Mitarbeit bereit zu sein.[19]
Am 3. Juni 1917 veröffentlichte die Neue Zürcher Zeitung einen offenen Brief Klabunds an Kaiser Wilhelm II., in dem er ihn zur Abdankung aufforderte, um den Weg zu einem Friedensschluss frei zu machen.[20] Durch diesen Brief, der ein Verfahren wegen Majestätsbeleidigung auslöste, galt Klabund in der Schweiz als Pazifist par excellence. Dass er trotzdem ständig zwischen der Schweiz und Deutschland hin- und herreisen konnte, erklärte sich dadurch, dass er zu dieser Zeit als zuverlässiger V-Mann in der Schweiz für den deutschen militärischen Nachrichtendienst tätig war. Das bestätigte der Leiter der Lindauer Residentur der für Nachrichtendienst, Spionageabwehr, Presse und Propaganda zuständigen Generalstabsstelle IIIb.[21]
Inwieweit Klabund sich während der Zeit, in der er in der Villa Neugeboren wohnte – vermutlich auch durch seine spätere Frau mit Brunhilde Heberle bestärkt – tatsächlich zum Pazifisten gewandelt hatte oder ob er auch Franziska zu Reventlow, die er in der Villa Neugeboren als Gast angetroffen hat, bespitzelt hat, ist unklar. Vielleicht hat er ihr auch diese Idee, dem Spionagedienst zuzustimmen, eingegeben. Auf jeden Fall war unter anderem seine Aufgabe, als Kurier zwischen einem wichtigen, noch unbekannten Spitzel in Locarno und der Lindauer Zentrale zu fungieren. Allgemein galt es, die Stimmung in der Schweiz zu erkunden. Sein Hauptaugenmerk lag aber nicht nur auf den literarischen Pazifistenkreisen, sondern auch auf den russischen Bolschewiki wie Lenin[22], die alle in der Villa Neugeboren verkehrten. Ob ihn nun seine patriotische Ader oder das Glücksspiel, dem er wohl verfallen war, dazu gebracht hat, als V-Mann zu arbeiten, sei dahingestellt. Auf jeden Fall war der Kontakt mit Franziska zu Reventlow, die im Casino von Locarno als Lockvogel arbeitete, auch hier gegeben.
Die unglaubliche Desertion
Bei einem Fronturlaub im August 1917 konnte Rolf seine Mutter zunächst nur am deutsch-schweizerischen Grenzposten zwischen Konstanz und Kreuzlingen treffen. Hier fragte sie ihn unvermittelt, ob er nicht desertieren wolle. Er hatte an diese Möglichkeit noch nicht gedacht. Er schrieb später:
Ich bejahte spontan, eine momentane Entscheidung, hinter der die Erfahrung des Krieges, der Abscheu vor dem organisierten Massenmord, als den ich den Krieg spätestens seit der Schlacht am Chemin des Dames empfand, und die Auflehnung gegen das militärische System stand.[23]
Franziska zu Reventlow hatte in den letzten Wochen alles Mögliche dafür unternommen,
- sich als Spionin angedient und als Kautschukschmugglerin angeboten,
- sie hatte sich mit Schmugglern und fragwürdigen Fluchthelfern getroffen,
- sie hatte von Locarno aus alle Möglichkeiten studiert
- und schließlich eine Flucht über den Bodensee als beste Variante für die Flucht ihres Sohnes eruiert.
In Konstanz traf sie ihn dann schließlich, um ihm die letztverbliebene Möglichkeit zur Flucht zu erläutern, nachdem viele als nicht praktikabel verworfen worden waren. Als dann auch diese letzte Chance nicht klappte und sie schon völlig verzweifelt war, setzte sich Rolf Reventlow in einer spontanen Aktion in Zivilkleidung in einen Kahn und ruderte von Konstanz nach Kreuzlingen. Er blieb unversehrt, obwohl er unter Beschuss der deutschen Grenzschützer geriet. Glücklich waren Mutter und Sohn wiedervereint. Rolf Reventlow meinte dazu:
Als ich an die Front gekommen war, hatte sie einem Bekannten in München geschrieben: „Ich habe gar keine Begabung zur Heldenmutter und lern’s auch nicht.“ Nun brauchte sie nur noch Mutter sein. [24]
Abschied für immer
Doch leider war ein weiteres Zusammenleben von Mutter und Sohn in Locarno nicht möglich. Rolf Reventlow wurde der Aufenthalt im Tessin untersagt. Er schreibt dazu:
Man bestellte mich an den Bahnhof, um kein Aufsehen zu erregen und ein Polizist in Zivil eskortierte mich von dort aus nach Bellinzona. Mutters und meine Stimmung war düster, bei mir verstärkt durch den erzwungenen Abschied vom Tessin und die Sinnlosigkeit dieser Ausweisung, bei Mutter, weil sie sich gerade erst wieder daran gewöhnt hatte, mich bei sich zu haben. Wir nahmen Abschied. Wir wußten nicht, daß es ein Abschied für immer war.[25]
Erst geraume Zeit später reimte ich mir einige Begleitumstände zusammen. In der westschweizerischen – und wohl auch in der französischen – Presse war eine verspätete Meldung über meine dramatische Flucht nach Kreuzlingen erschienen: „Der Neffe des bekannten alldeutschen Kriegshetzers Graf Ernst Reventlow desertierte in abenteuerlicher Weise aus der deutschen Armee…“ begann diese Nachricht. [26]
Ein Reporter der Zeitung Excelsior, bei der auch Henri-Pierre Roché arbeitete, war bei Franziska zu Reventlow in Locarno-Muralto gewesen und hatte einen großen Artikel über die Desertion ihres Sohnes geschrieben. Dieser erschien am 22. September 1917 in Frankreich. Der Titel lautete: „Warum der Soldat Rolf Reventlow, Neffe des fanatischen Pangermanisten aus der deutschen Armee desertiert ist“. Vermutlich war das große Interesse an dieser Desertion der Auslöser für sie, ihren Bericht Die Kehrseite des deutschen Wunders zu verfassen. Wie der Literaturwissenschaftler Harald Beck herausgefunden hat, hat sie sogar James Joyce, der von Oktober 1917 bis Anfang Januar 1918 in Locarno zur Kur weilte, gebeten, seine Beziehungen spielen zu lassen. Leider war dies nicht von Erfolg gekrönt.[27]
Als verzweifelten Versuch, ihren Sohn wieder bei sich haben zu können, wandte sie sich in ihrem letzten erhaltenen Brief vom November 1917 an eine Schweizer Zeitung. Sie würde von der Militärpolizei schikaniert und kontrolliert, und ihr Sohn könne sich nicht wie andere Deserteure in der Armeezone aufhalten. Sie selbst habe beim Versuch, ihren Sohn desertieren zu lassen, die deutschen Behörden genasführt, wofür diese sich nun zu rächen suchten. Auf jeden Fall vermute sie, dass die Denunziationen, denen sie ausgesetzt sei, von deutscher Seite ausgingen. Am Schluss schrieb sie, dass sie alles versuchen möchte, dass die unberechtigten Maßnahmen gegen ihren Sohn rückgängig gemacht würden. Sie bitte die Zeitung, ihr dabei zu helfen.[28]
Da dieser Brief im Kriegsarchiv in München gefunden wurde, kann man erkennen, dass die deutschen und schweizerischen Behörden zusammengearbeitet haben. Die Diffamierung als Spionin muss von deutscher Seite ausgegangen sein.
Alle Versuche halfen nichts. Sie sah ihren Sohn nicht mehr wieder. Aber immerhin – er lebte! Sie hatte sie es geschafft, ihn dem Kaiser wegzunehmen – wie der letzte Satz der Kehrseite des deutschen Wunders lautet – und er wurde nicht in einem schrecklichen Krieg getötet.
Bei einer Notoperation nach einem Fahrradunfall starb sie im Krankenhaus von Locarno am 26. Juli 1918. Bei ihrer Beerdigung auf dem Friedhof in Santa Maria in Selva in Locarno standen nur wenige Freunde wie Emil Ludwig, der auch die Totenrede hielt, am Grab – und der Spion Klabund.[29]
Lest auch gerne die anderen Gastbeiträge von Kristina Kargl bei uns im Blog:
- Elsa Bernstein – tragisches Schicksal einer erfolgreichen Dramatikerin und berühmten Münchner Salonnière | #femaleheritage(13.11.2020)
- Frauenfriedensversammlung: Der Tag, der Erika Manns Leben veränderte | #ErikaMann (18.3.2020)
Der Nachlass von Franziska zu Reventlow befindet sich in der Monacensia:
- Überblick im Literaturportal Bayern zu Franziska zu Reventlow, aufgeführt im OPAC Stadtbibliothek München
- Spaziergang zu Franziska zu Reventlow im Literaturportal Bayern: 14 Stationen in München, die für die Autorin von Bedeutung waren.
Lese-Tipp aus #femaleheritage zu Franziska zu Reventlow:
[1] F. Gräfin zu Reventlow: Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich. Tagebücher 1895-1910, hg. von Irene Weiser und Jürgen Gutsch. Passau 2006. S. 70.
[2] Nordelbingen. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins. Bd. 77. Heide 2008, S. 148.
[3] Franziska zu Reventlow: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Band 4. Briefe, hg. von Michael Schardt, Oldenburg 2004, S. 270 f.
[4] Brief von Franziska zu Reventlow an Paul Schwabe vom 19.5.1897. In: Franziska zu Reventlow: Sämtliche Werke. Bd. 4. Briefe, S. 280.
[5] Beilage zu F. Gräfin zu Reventlow: Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich. Tagebücher 1895-1910, hg. von Irene Weiser und Jürgen Gutsch. Passau 2006.
[6] Weiser/Gutsch: Beilage zu Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich.
[7] Rolf Reventlow: Kaleidoskop des Lebens. In: Monacensia im Hildebrandhaus. Literaturarchiv und Bibliothek. Nachlass Franziska zu Reventlow / Manuskripte anderer, S. 20.
[8] Der französische Bericht von Reventlow befindet sich in der Carlton Lake Collection im Nachlass von Henri-Pierre Roché im Harry Ransom Center der University of Texas in Austin: Memoires de la Comtesse de Reventlow ou L’envers du miracle allmand, Mappe 220.4. Die deutsche Übersetzung, Auszüge aus den Erinnerungen von Rolf Reventlow, sowie Fotos und faksimilierte Dokumente finden sich in: Franziska zu Reventlow: Die Kehrseite des deutschen Wunders, hg. von Kristina Kargl und Waldemar Fromm. München, 2018.
[9] Franziska zu Reventlow: Die Kehrseite des deutschen Wunders, S. 18.
[10] Franziska zu Reventlow: Die Kehrseite des deutschen Wunders, S. 20.
[11] Rolf Reventlow: Kaleidoskop, S. 20.
[12] Rolf Reventlow: Kaleidoskop, S. 22.
[13] Franziska zu Reventlow: Briefe, S. 624.
[14] Sh. Hilde Jung Neugeboren: In Hildes Winkelchen. In: Hermann Hesse in Augenzeugenberichten. S. 73-75 oder Titti Irmgard Engert: Über den Berg zu Hermann Hesse. In: Hermann Hesse in Augenzeugenberichten, S. 177-179.
Ich danke Hermann Müller, dem Gusto Gräser- und Monte Verità-Spezialisten, der mir mit zahlreichen guten Tipps, besonders zur Villa Neugeboren und deren Bewohnern, sehr geholfen hat.
[15] Brief an Paul Stern vom Jan/Febr. 1916. In: Franziska zu Reventlow: Briefe Bd. 4, S. 621.
[16] Brief an Paul Stern vom Juli/August 1916. In: Franziska zu Reventlow: Briefe Bd. 4, S. 624.
[17] Annette Kolb: Zarastro. Memento: Texte aus dem Exil. München 2002, S. 54.
[18] Franziska zu Reventlow: Die Kehrseite des deutschen Wunders, S. 41 und S. 42.
[19] Rolf Reventlow: Kaleidoskop, S. 28.
[20]Markus Pöhlmann: Der Grenzgänger. Der Dichter Klabund als Propagandist und V-Mann im Ersten Weltkrieg. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Heft 5. Berlin 2007.
[21] Pöhlmann: Grenzgänger, S. 403.
[22] Pöhlmann: Grenzgänger S. 404.
[23] Rolf Reventlow: Kaleidoskop, S. 28.
[24] Rolf Reventlow: Kaleidoskop, S. 29.
[25] Rolf Reventlow: Kaleidoskop, S. 31.
[26] Rolf Reventlow: Kaleidoskop, S. 29.
[27] Harald Beck: Eine unwahrscheinliche Begegnung: Franziska zu Reventlow und James Joyce. In: https://www.literaturportal-bayern.de/journal?task=lpbblog.default&id=2268, zuletzt geöffnet am 13.5.2021.
[28] Bay.HStA Abt. Kriegsarchiv Mil Ger 6402.
[29] Vorwort von Else Reventlow. In: Franziska Gräfin zu Reventlow. Tagebücher 1895-1910. Frankfurt 1976, S. 23.