Florian Kreier – Feminismus und der kriegerische Mann I #FrauenDerBoheme

Mitten im München von heute: Florian Kreier aka Angela Aux. Foto: Sophie Wanninger

Florian Kreier lebt als freier Autor und Musiker in München und tritt künstlerisch auch als Angela Aux in Erscheinung. Für mon_boheme, das Online-Magazin zu #FrauenDerBoheme*, beschäftigt er sich mit dem modernen Männerbild. Seine Analyse der patriarchalen Welt führt zurück ins München um 1900, wo sich Fanny zu Reventlow bewusst dafür entschied, ihren Sohn ohne Vater aufzubringen. Warum es höchste Zeit ist, statt mit Söhnen mit Töchtern Boxen zu üben?

„Feminismus und der kriegerische Mann“ von Florian Kreier

Mein ganzes Leben war ein bestimmtes Männerbild allgegenwärtig. Ob in Schule, Vereinen, in medialen Darstellungen oder im familiären Umfeld: Es ist das Bild des harten, starken, coolen, mächtigen und reichen Mannes. Eine Art Zielvorgabe, die einem ständig und ungefragt nahegelegt wurde. Ich befinde mich in einem ziemlich verwirrenden Zustand zwischen Affirmation von und Rebellion gegen diese Blaupause, von der sich für alle Lebensbereiche und -situationen vermeintliche Handlungsimpulse ableiten lassen. Auch für die Rolle des Vaters.

Die Geburt meiner Tochter hat mir eine neue Perspektive auf dieses Bild gegeben. Seitdem denke ich, ein harter Vater ist hart gegen sich selbst. Er lässt Verletzungen seiner Kinder an sich abperlen. Er begreift Provokation als Zeichen seiner Stärke. Er ist so cool, dass er in Ruhe, so mächtig, dass er mit Weisheit auf sie antwortet. Und er ist so reich, dass er immer noch mehr Verständnis und Liebe für seine Kinder aufbringt. Gewalt ist einzig legitim bei Bedrohung durch Stärkere bzw. wenn die Flucht als Auflösung der Situation ausgeschlossen ist. Für alle anderen Konflikte liegen seine Mittel in der Kunst des Aushaltens. Er ist gewalt-bewusst und antipatriarchal.

Die Gewalt des Patriarchats

Patriarchat bedeutet für mich die Omnipräsenz von Gewalt. Männer werden traditionell näher an diese Gewalt gestellt. Sehr früh sollen sie lernen: Gewalt ist ein legitimes, effektives Mittel zur Durchsetzung der Interessen oder zur Lösung von Konflikten. Die patriarchale Gesellschaft unterdrückt Männer, Väter und Söhne. Sie erzieht sie zur Gewalt – gegen sich selbst und andere. Ob Männer deshalb in Stress-Situationen eher zur Gewalt neigen oder dabei einem biochemischen Defekt erliegen? Das ist eine spannende Forschungsfrage.

Fanny zu Reventlow entschied sich bewusst dafür, ihren Sohn ohne Vater aufzubringen. Und das mit einer Vehemenz, die bis heute beeindruckt. Um 1900 war Gewalt als erzieherisches Mittel Normalität. Nicht nur in Familien, auch in Schulen galt sie als legitim. Die Omnipräsenz des militärischen Apparates durchdrang zudem alle Lebensbereiche. Männer wurden ab dem 18. Lebensjahr ohne Aussicht auf Verweigerung für 24 bis 36 Monate eingezogen und in allen Spielarten der Gewaltanwendung „geschult”. Schwer auszumalen, auf wie viele Weisen Männer in dieser Zeit gebrochen, gedemütigt und verhärmt wurden.

Dazu kamen Kriege. Das berechtigte sie keinesfalls, die Gewalt aus den Kasernen in die Familien zu tragen. Aber es war kaum verhinderbar. Die militärische Anwendung von Gewalt basiert auf der Idee, vermeintliche Feinde möglichst unvorbereitet so heftig wie möglich zu treffen. Nach zwei- bis dreijähriger Gehirnwäsche muss diese Denke bei jedem Menschen Spuren hinterlassen haben. Selbst wenn die Praxis als falsch erachtet wurde: spätestens in Stress-Situationen, die als unduldbar oder unauflösbar empfunden wurden, war Gewalt die wohl gängigste Übersprungshandlung. Oder pure Absicht.

Ich sehe in Fanny zu Reventlows Allein-Erziehung den Versuch, die Weitergabe dieser militärischen Vergewaltigung zu brechen. Gewalt als Lösung für Situationen schafft auf lange Sicht mehr Probleme, als sie kurzfristig unterdrücken kann. Das lag schon immer auf der Hand. Ich kann es nicht beweisen, aber es ist meine tiefe Überzeugung. Im Umgang mit jungen Menschen ist sie besonders fatal. Auch diese Überzeugung trägt jeder nüchterne und empathische Mensch in sich.

Florian Kreier aka Angela Aux ist einer der heutigen Stimmen der #FrauenDerBoheme. Foto: Sophie Wanninger
Florian Kreier aka Angela Aux ist einer der heutigen Stimmen der #FrauenDerBoheme. Foto: Sophie Wanninger

Institutioneller Ausschluss von Frauen

Die Autorin Katja Kullmann genießt momentan großen Erfolg mit ihrer Idee der „singulären Frau“.[1] Die literarische Erschließung der singulären Mutter ist ebenfalls mindestens ein Buch wert. Auch zu Reventlows Unlust zu starren Beziehungen finde ich bemerkenswert. Nicht nur weil ich sie für progressiv und zukunftsfähiger als die klassische Ehe halte. Oder weil ich sie mutig und selbstständig finde. Mit einem Lebens- oder Erziehungspartner wären ihre Geldsorgen womöglich kleiner gewesen. Zudem hätte sie durch Unterstützung des Partners mehr Zeit zum Schreiben gehabt.

Am bemerkenswertesten ist daran, dass sich zu Reventlow damit auch gegen die zweite Säule des Patriarchats auflehnte: die Kirche. (An dieser Stelle: Das Wort Kirche sollte besser im Maskulinum stehen!) Diese zwei Organisationen basieren traditionell auf dem Ausschluss von Frauen, Müttern, Großmüttern: Kirche und Militär. Sie waren und sind die Basis der patriarchalen Welt. Ihr Wirken zieht die tiefsten und schrecklichsten Schneisen durch die Geschichte der Menschheit – auch oder vor allem mental.

Auch in gender-reflektierten Familien erschlagen 2022 eher Männer die Fliegen und Spinnen. Sie sollen unnachgiebig verhandeln, auf die Zähne beißen und sich nichts gefallen lassen. Auch wenn es banal klingt: Wer es gewohnt ist, Spinnen und Insekten zu erschlagen, wird auch im Konflikt mit Menschen eher an Gewalt denken. Wer unnachgiebig ist, auf die Zähne beißt und sich nichts gefallen lässt, wird womöglich erst verletzen – und danach verhandeln.

Zählen Sie mal in einem Stadtpark Väter, die mit ihren Söhnen Boxen üben. Es werden mehr sein, als sie glauben. Väter machen das aus einem Grund: Niemand soll ihren Sohn erniedrigen können. Wer glaubt, die Welt sei ein Schlachtfeld und Macht ein Nullsummenspiel, gibt die Nähe zur Gewalt natürlich weiter. Absurderweise aus Liebe und Fürsorge. Bedenkt man einmal, wie viele Frauen täglich durch Männer verletzt und teils getötet werden. Da stellt sich die Frage, wieso nicht die Väter von Töchtern mit ihnen Boxen üben. Oder die Mütter. Seit ich eine Tochter habe, hoffe ich, sie später für eine Verteidigungssportart begeistern zu können. Zu wissen, dass meine Tochter wenigstens mit einem Betrunkenen fertig wird, würde mich sehr beruhigen.

Im Kampf für gewaltfreien Feminismus

Feminismus bedeutet für mich die Distanzierung vom kriegerischen Mann. Je weiter der Abstand zur Gewalt, desto größer werden meiner Überzeugung nach Freiheit und Wohlstand. Liebe, Frieden, Verständnis und Vertrauen haben keinen Platz in Kasernen. Umgekehrt wachsen diese Werte erst ohne die ständige Angst vor Verlust, vor Gewalt und Unterdrückung.

Hier beginnt die Aporie, denn wie Außenministerin Annalena Baerbock kürzlich in der Republik Moldau sagte: „Demokratien müssen sich verteidigen können.” Gewaltfreiheit muss also erkämpft werden, zumindest sofern man leben will. Das ist vielleicht die größte Aufgabe für zukünftige Menschen: zu begreifen, wie Frieden ohne Gewalt erzeugt und bewahrt werden kann.

Mehr zu Florian Kreier: Website | Instagram


* Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.

Lesetipp zu Franziska zu Reventlow im Blog:


[1] Katja Kullmann: Die singuläre Frau. Hanser Berlin 2022

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