Cora Frost lebt in Berlin – zurzeit als „non-binary Zwischenwesen“. Damit führt der in München geborene Sänger, Schauspieler und Autor die Tradition der #FrauenDerBoheme fort, die sich keinerlei Regeln oder Konventionen beugen, sondern frei und selbstbestimmt leben wollten. Im Beitrag für das Online-Magazin mon_boheme* ruft Cora Frost Else Lasker-Schüler an, die Bohèmienne der Berliner Kaffeehäuser der 1920er Jahre, Seelenverwandte und „Ikone aller Möglichkeiten“. Jahrhunderte auf orlandischen Reisen, setzt sich Else ständig neu zusammen und lebt bis heute in uns allen weiter. Und zum Abschluss gibt‘s ein (Liebes-)Lied von Else Lasker-Schüler.
„Else! Else! Wir sind alle Else“ von Cora Frost
Es ist Zeit, zu heilen, sich zu sich selber zu bringen, auf die Suche zu gehen. Wir alle entfremdet dem Körper, der eigenen Seele. Dem eigenen Geist. Und damit allen und allem. In verschiedenen Galaxien ist er unterwegs, der moderne Mensch, zerstückelt in viele Teile. In der Abspaltung verwandt mit dem traumatisierten Menschen. In unendlich viele Teile in existierenden und nicht existierenden Welten verteilt. Zerrissen. Teile unserer Seele, Körper, Geister, sind überall, in alle Weiten zerstreut. Verschwunden. Durch Algorithmen banalisiert. Vergraben. Versteckt. Alles ist unsichtbar geworden um, in Reihen aufgestellt, in konformen Mustern, Einheitsfantasien wiederaufzutauchen. Neue Wesen werden erschaffen. Aus diesem Unsichtbaren: ferngesteuerte, gleichgeschaltete, angstgefütterte Wesen. Gefüttert mit künstlichen Erfahrungen. Geschöpfe aus vielen verkauften Sehnsüchten und menschlichen Teilen.
Also wer sind wir?
Wohl eher die falsche Frage. Anhand unser aller Zerstückelung stellt sich wohl eher die Frage: Wo sind unsere Teile? Wie überhaupt uns noch treffen? Wir können uns wieder bewegen, anfassen, unser Leben anfassen. Uns in die Augen schauen. Mit eigenen Augen, nicht denen der anderen. Friedlich werden mit den Teilen, die wir wiederfinden; ein lustvoller Kollektivkörper werden; kein angstbewegter. Können wir ein freudvoller Schwarm aus vielen freudvollen lebendigen Teilen werden …
Wo finden wir uns wieder? Wo?
Lasst uns suchen, such such, ganz banal. Mit unserem Körper. Augen, Ohren, die anderen spüren. Anfassen, fassen, sehen, riechen, rufen. Laufen, rennen, umherirren, lieben, singen, rufen. Rufen, rufen …
Ich, ich rufe dich. Oh! Oh Else!
Oh Else. Else! Hilf! Prinz, Jussuf, Prinz von Theben; blauer Jaguar, Malik, Tino von Bagdad! Woher bist du gekommen? Du, die, der, du schon immer überall warst.
Du konntest, kannst durch die Welten gehen und uns durch die Welten heben! Orlandische Reisende, Reisender durch alle Zeiten. Wer bist du? So vielgestaltig, so präsent, in allen Zeiten über so viele Menschen. Liebe ist dein Wagen; dein Sternenwagen. Du schreibst, es strömt aus dir heraus, in Wortgalaxien, Milchstraßen und Sternenhaufen, immer wieder Ansammlung der magischen Worte:
Sterne
Rosen
Nacht
Mond
Vögel
Gott
Blut
rot
blau
Himmel
Küsse
Taube
Auge
Engel
weinen
Gold
Pharaonen
Gärten
Fluss
Wunde
Dunkel
Tod
süß
Liebe
Lied
Mutter
Tanz
schwanken
morgen
Harfe
wild
Bis es sich konglomeriert mit Kraft zu einigen Gedichten zusammengeballter Magie, sie sind zu hören aus dem Rauschen deines Wortflusses, sie singen, rauschen, explodieren …
Gedichte, die sich herausschweben, katapultieren wie Beschwörungen, Zauber, mit großer magischer Kraft; immer und immer wieder ergießt sich der Strom deiner Gedanken unermüdlich, über die Straßen, Städte, Welten, Menschen, die geliebten, wie in glühenden Spiralen, in Feuerrädern sich weiterzudrehen, zu sprühen. Dein Feuer, deine Glut, dein Schmerz, dein Licht; deine Nächte, Liebe, Verzweiflung, Trauer und dein Glaube, deine Hoffnung. Deine ewige Hoffnung, wie ein Wissen um das, was werden kann. Immer wächst. Dein Glutkern. Frieden. Liebe. Trotz trotz trotz allem immer wieder immer und immer, bis zu deinem Verschwinden von der Erde.
Und auch danach flirrst du, schwebst du weiter. Schwebst durch die Seelen. Unsere Seelen. Immer gibt es noch etwas, was aus dir strömt auf unsere Textblätter, in unsere Bücher, Maschinen, und Versuche, Zeiten, Zeit zu erfassen.
Zeitlos strömst du, dich, die es immer schon gab, weiter durch die Jahre, als würdest du weiter und weiter leben zwischen den Sternen, Planeten, Galaxien und manchmal auftauchen, im Licht eines Fensters einer schäbigen Wohnung weit oben in einem Wohnblock. Zwischen den letzten Eisblumen in kalten Wintern einer holzrahmen befensterten Wohnung.
Als lägen deine Puppen und Spielzeuge immer noch bei uns in allen Ecken. Die lebendigen freudigen Dinge, die um dich herum lebten, die Spielsachen, Spiele.
Die Jahrmärkte, die du schaffen wolltest, um Frieden zu schließen damals in Jerusalem, Freude schaffen: die leuchtenden Karusselle überall in der Nacht, deine Gedanken, dass sie Frieden stiften könnten zwischen verfeindeten Völkern. Bunte blinkende leuchtende Fahrgeschäfte, Karussell fahren, Reibekuchen essen immer mit dir. Frieden schließen mit dir auf dem Glücksrummel. In blauen Nächten.
Du greifst, begreifst, die Menschen und schlägst sie. Mit Liebe, mit Poesie; selbst Hitler und die ganze Riege schreibst du in die Hölle.
Oh Else, ich rufe dich! Schlage uns alle zu Prinzen mit deinem Degen! Zu Jussuf. Zu Prinzen von Theben. Zu dem mit den schwarzen brennenden Augen!
Dann fließt dein Blick sanft und wild durch uns durch. Deine Liebestiger laufen ruhelos in uns. Alles, was wir schon vergessen haben. Du weckst es aus dem tiefen Schlaf. Kitzelst uns mit deinem Jussufmesser.
Ja, wir sind Else. Wir sind alle Else! Jeder ist Else. Du fügst uns wieder zusammen. Wir sind Prinzen. Wir sind alle Else. Du fließt die Jahrhunderte durch uns durch. Else Else Else. Ich trage dich immer zwischen meinen Zähnen, wir tragen dich immer zwischen unseren Zähnen. Du trägst uns … Tiertage, leben wir, Elsetage, du lebst, wir leben, ihr lebt.
Heile uns! Hilf uns, unsere Teile zu finden, verstreut in Galaxien! Setz uns wieder neu zusammen!
Lass uns leben, in deinem Boot, aus Zorn, Leidenschaft; schlafen auf Parkbänken, Nüsse und Obst essen, wie du, tagelang. Löse Erklärungen von den Vorstellungen, setze Teile zusammen, neu!
Wir tragen alle Fantasienamen, sind Pavianmütter, Megären, Eroberer, Liebende, Kinder; spielen, tragen süße Gürtel, dein Hosen, Röcke, Obergewänder, deinen Schmuck an Armen und Hals. Wir sind Prinzen, viele Prinzen.
Friedensstifterin. Bist du; ewig. Da wo andere alles verloren sahen. Nach Wildkrieg, glaubtest du weiter: Steh auf, sagtest du; steh auf. Liebe. Immer und immer und immer. Das ist das. Was wir von dir lernen können. Sonst nicht zu begreifen. Nur durch dich. Halleluja! Immer wieder aufzustehen. Zu hoffen. Sich von der düsteren Welt abzuwenden; das Unmögliche lehrst du!
Da sind Krankheiten, Trauer und Tod. Gewalt natürlich, psychische und physische. Abgründe, aber auch gleichzeitig große Freude. Wie ein dunkler Comic ist unser Leben – und wir alle schwer verstört. Nun lösen wir uns ab und fliegen, wir sind Geister, wir können fliegen …
Else, du setzt dich zusammen, ständig, neu, uns. Mit deinen orlandischen Reisen durch die Jahrzehnte, Jahrhunderte …
Wer ist Else? Wer bist du, Else? Du bist, die Welt; wie sie sein sollte. Else, Else, Ikone aller Möglichkeiten.
Else aller. Unser Else, dein Else, wir Else;
Deine Poesie: Existenzrecht. Würde. Überwindung von Kriegen, Katastrophen, Versöhnung.
Frieden ist dein Land, sei unser Land;
Lehre uns, sich zu häuten, neu zusammenzusetzen; zu schillernden Eidechsen. Schmetterlingen. Sternen. Windrosen, Windhosen.
Lass uns eine Landschaft bauen, zusammen. Aus Worten zuerst. Aus Liedern und Geschichten. Von Ermordeten und noch sehr lebendigen Menschen. Sie atmen noch. Sie leben. Berlin, Stadt der Geister. Der verlorenen Seelen.
Und jetzt, sind unsere Geschichten dazugekommen. Die Stadt atmet. Nicht tot mehr, sondern wieder Leben. Musik. Tanz. Austreibung. Reinigung. Rituale. Ein Meer;
über der Stadt. Sterne;
Es ist möglich, sie zu treffen, sie sprechen zu uns: die Alten. Die Toten. Die Lebendigen. Sie tanzen und feiern und weinen. Lass uns schauen, wer oder was uns erscheint. Bilder, Menschen. Landschaften. Straßen.
Nachts; um die Gedächtniskirche. Schwebt immer noch alles, um uns herum. Alle, die da lagen, in Feuer. Kreisten, in Festen, in Nächten. Warten auf uns. Auf uns, Else. Wir Else. Ihr Else. Sie wollen mit uns feiern. Wiedergeburten. Wir sind alle ein Körper. Doch. Endlich wieder. Alle alle. In allen Teilen ein Teil. Helle Lichter im Blau.
Wir sind alle Else. Ihr Else. Wir Else. Else.
Ein Lied. So sag mir doch – Ich liebe dich – Bevor der Tag ganz dunkel wird. Mein Lebenlang Und immer noch Bin müde ich umhergeirrt. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich ....... Es färben deine Lippen sich – Die Welt ist taub, Die Welt ist blind; Und ihre Wolke Und das Laub. Nur wir und noch – Der Anfang sind. Ich liebe dich ...... Quelle: Else Lasker-Schüler: Sämtliche Gedichte. Mit einem Nachwort von Uljana Wolf. S. Fischer 2016, S. 360.
Lest auch unbedingt das Autoren-Porträt zu Cora Frost im Literaturportal.
* Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.