Daniel Graziadei: Über Lyrik und Performance, Schreibwerkstätten und die Münchner Literaturszene

Mann liest vor in einem Cafe.

Daniel Graziadei spricht mit Christina Madenach über seine Bild-Text-Kombinationen, Schreibmaschinenperformances und das Kunstkollektiv mo|men|tos. Zudem geht es um transmediale Kunst und Begegnungen in der Literaturszene Münchens – achte Folge der #AtelierMonaco-Szene.

Daniel Graziadei ist Lyriker, Übersetzer und Privatdozent für hispanofone, lusofone und karibische Literaturen an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. 1981 in Meran geboren, studierte er Allgemeine und Vergleichende, Englische und Spanische Literaturwissenschaften an der LMU, promovierte über „Insel(n) im Archipel“ in den Literaturen der Karibik und verfasste seine Habilitationsschrift über interkulturelle Missverständnisse in der Literatur. Er leitete die Schreibwerkstatt der Komparatistik, initiierte den Kurs „Kreativ schreiben!“ des Schreibzentrums der LMU und betreut diesen bis heute. Er verfasst lyrische, narrative und dramatische Texte auf Deutsch, Englisch, Spanisch und Italienisch, tritt als Performance-Poet an der Schreibmaschine auf und ist Teil des Kunstkollektivs mo|men|tos.

Mann mit Hut steh im Grünen in einem Rosengarten-ateliermonaco-szene
Daniel Graziadei im Rosengarten in den Isarauen, © Christina Madenach

Daniel Graziadei: Über das Privileg, sich auszudrücken, die Vermittlung von Schreib- und Lesekompetenzen und Kooperationen in der freien Literaturszene

Wir sind im Rosengarten in den Isarauen. Warum hast du diesen Ort für unser Treffen gewählt?

Mir gefällt, dass er Natur und zugleich Kultur ist. Für mich ist das ein Ort, um Gedanken nachzuhängen. Die ganze Isar von hier flussaufwärts ist ein ziemlich guter Aufladeort für mich. Für den romantischen Dichter William Wordsworth bedeutete Dichtung „powerful feelings“, die aus „emotion recollected in tranquillity“ entstand. Ein Teil meines Schaffens entsteht nach diesem Prinzip: Ich übersetze das im Draußen Gefühlte im Drinnen am Schreibtisch in Literatur.

Und wie schreibst du: erst ins Notizbuch oder direkt am Laptop?

Beides. Notizbücher habe ich immer dabei, aber längere Texte schreibe ich am Computer. Es ist auf jeden Fall etwas anderes, wenn ich mit der Hand schreibe. Zum Beispiel ist der Zeilenumbruch in einem kleinen Notizheft häufig früher als gewollt. Und dann stehe ich beim Abtippen prompt vor der Frage: Ist es vielleicht nicht doch so kurz besser?

behaarte Zunge mit Schrift: “Listening to the loving sun. glistening on a hairy tongue of longing”
Daniel Graziadei: “Listening to the loving sun”, auf: https://danielgraziadei.de/picturepoetry.html

Spielt denn die Natur auch als Thema eine Rolle in deinem literarischen Werk?

Nicht unbedingt. Eher im Sinne von Ökokritik, beispielsweise in meinem Gedicht „Mit dem letzten Fisch zugrunde gehen“. Ansonsten auch in den BildGedichten bzw. PicturePoemz

… deinen transmedialen Werke, für die du sowohl fotografierst als auch schreibst.

Für mich stehen sie in der Tradition eines Austauschs zwischen Bild und Text, in dem der Text teilweise gegen das Bild spricht und teilweise mit ihm. Obwohl ich alle Bausteine selbst zusammenführe, ist das Ergebnis nicht unbedingt die Quintessenz daraus, sondern kann komplett anders sein. Spannend sind dabei die Fragen: Wie kann man das machen, ohne zum Kalenderblättchen abzudriften? Und wie kann man sich mit einer extremst begrenzten Wortwahl aufs Bild einlassen, ohne es einfach nur zu beschreiben?

Daniel Graziadei: Mit dem letzten Fisch zugrunde gehen
In: Fisch & Meer. Gedichte, Aphorismen und Texte. Handsatzwerkstatt Fliegenkopf.

Ich finde den Frieden nicht
in dem du ruhst
Fisch in Weihwasser
undenkbare Klarheit
in einem Meer voller Plastik
toxische Gezeiten
radioaktiver Ozean

Ich erlebe
eine Explosion
der Bedeutungen
und es drängt
eine verzweifelte Beichte
in der bitteren Konfusion
der letzten Stunde

Ich bekenne
wir haben verloren
Paradies
nach
Para
Dies

Es bleiben
nur noch
unsere
toten
Gewässer

Toxische Teppiche
über der Erde ausgebreitet
als Erinnerung
an das kurze Zeitalter des Affen
mit maßgeschneidertem Anzug und dem Monokel
der Monokultur und der kriegerischen Mono-Logik
der massiven Ausbeutung durch den Extraktionismus
dieser grotesken und unhaltbaren Konkurrenz
anders gesagt
purer
Müll

Du hast noch einen weiteren deiner Gedichtbände mitgebracht: „geh dichter“.

Darin sind Gedichte vom Anfang meines Schreibens enthalten. Mit vielen kann ich immer noch etwas anfangen. Erst im Juli war ich mit dem Gedicht „Rose Freiheit (in weiß)“ zu einer Veranstaltung der Kurt-Huber-Gesellschaft im Habibi Kiosk eingeladen. Dort vollführte ich auch eine Schreibmaschinenperformance auf dem gleichen Modell, auf dem Prof. Kurt Huber die letzten beiden Flugblätter der Weißen Rose verfasst hatte.

Daniel Graziadei: Rose Freiheit (in weiß)
In: Daniel Graziadei: geh dichter. Augsburg (Iduna Verlag) 2010.

Immer dann
wenn ich über blitzend Platten geh
Immer dann
wenn ich in der lichtend Halle steh
Immer dann
die Rosenblätter rauschend fallen
in den lichterbadend Innenhof
langsam, taumelnd und geräuschvoll
wie in Zeiten dunkelstill

Rot gefärbt die weißen Blätter
die zu haschen du vermeinst
Rot gefärbt die weißen Blätter
die sich Rosen nannten einst
Rot gefärbt die weißen Blätter
ob Gerechtigkeit du reimst
Rot gefärbt die weißen Blätter
oder nur die Angst verschweigst

Rot gefärbt die weißen Blätter
seh ich taumeln jedes Mal
wenn ich wandle wo vor damals
Rose Mut auf Platten warf
wenn ich wandle wo für immer Rose Freiheit flügge wurd

Wie kann man sich deine Schreibmaschinen-Performances vorstellen?

Die Idee kommt aus der avantgardistischen Tradition der surrealistischen ‚écriture automatique, dem automatischen Schreiben, und des ‚hasard objectif, dem objektiven Zufall. An der Schreibmaschine sitzend bitte ich das Publikum um ein Wort. Wenn ich Glück habe, fällt ihnen nicht nur „Sonnenuntergang“ oder „Liebe“ ein. Ich bin froh um so etwas wie „Atomstrom“, „Umlagegesetz“ oder „Kreisverwaltungsreferat“. Durch die Zurufe kommen Elemente in meine Texte, die ich allein nicht generieren könnte.

Mann performt über ihm hängt eine Astronautenpuppe
Performance im Café Mona, Foto: Mario Steigerwald. Artikelbild oben Ausschnitt, Design: Christina Madenach.

Im Anschluss lese ich den Text vor, denn für mich hört der literarische Kommunikationsprozess nicht mit dem Schreiben auf. Ich möchte den Leuten zeigen, dass Literatur etwas Partizipatives sein kann. Das ist mir sowohl auf pädagogischer und kulturvermittelnder Ebene wichtig als auch im Hinblick auf den heilenden Moment.

Was bedeutet für dich der heilende Moment beim Schreiben?

Ich selbst verfolge keinen selbst-psychologisierenden oder psychoanalytischen Ansatz beim Schreiben. Dennoch denke ich, dass der Schreibprozess für Menschen ganz heilsam sein kann. In anderen Regionen der Welt werden gerade wieder unglaublich viele Menschen durch Gewalt so traumatisiert, dass sie nicht mehr sprechen können – im politischen Sinne der Meinungsfreiheit und auf Grund ihrer Traumatisierung. Es ist ein Privileg, sich noch ausdrücken zu können.

weiße Schrift auf schwarzem grund mit weißer Feder. „Vorsicht analog. getippt in Brieftauben gebunden bis wir vor Jahren abhörsischer Klapperwell gegen dubiose Dienste und einer paranoiden Fantasie aus von Sicherheit"
Daniel Graziadei: „Vorsicht analog“, unveröffentlicht

Du drückst dich sogar in mehreren Sprachen aus: auf Deutsch, Italienisch, Englisch, Spanisch. Was bedeutet es für dich, beim Schreiben zwischen den Sprachen zu changieren und auch aus ihnen zu übersetzen?

In den unterschiedlichen Sprachen kann ich unterschiedliche Dinge sagen. Manchmal probiere ich ein Thema auch in mehreren Sprachen aus. Kürzlich war ich beispielsweise in Lissabon und habe mich mit der Frage beschäftigt, wie es ist, in eine Stadt zurückzukommen, in der man sich schon einmal in einem anderen Setting aufgehalten hat. Dafür habe ich begonnen, auf Portugiesisch zu experimentieren. Das Schreiben in einer neuen Sprache hilft auch, eine neue Sprache zu erlernen.

Mit meinen Übersetzungen kann ich hier noch unbekannten Autorinnen und Autoren eine Bühne geben. Für das lateinamerikanische Poesiefestival Latinale hatte ich beispielsweise die afroecuadorianerische Lyrikerin Yuliana Ortiz Ruano ausgewählt und übersetzt.

Zu deinem Schreiben gehört auch die Zusammenarbeit im Kunstkollektiv mo|men|tos.  Was macht ihr genau?

Wir haben 2014 angefangen, gemeinsam Broschüren zu gestalten. Sie waren stark geprägt von Fotos von Mario Steigerwald, Collagen von Desirée Opela und Texten von Ayna Steigerwald und mir. Momentan konzentrieren wir uns vor allem auf Performances. Wie bei den Broschüren geht es dabei immer um den Versuch, etwas Spontanes und Neues zu machen.

Neben deinen literarischen Aktivitäten bist du seit diesem Jahr Privatdozent für hispanofone, lusofone und karibische Literaturen an der LMU. Du hast einmal an einer Veranstaltung zu der Frage teilgenommen: Führt die Literaturwissenschaft zum Schreiben oder davon weg? Wie ist das für dich?

Die Schnittmenge von Wissenschaft und Schreiben ergibt sich für mich vor allem in meinen Kursen fürs kreative Schreiben. Da kann ich philologische Aspekte hineinbringen und zugleich zum Selberschreiben animieren. Und die Primärliteraturlektüren für meine Forschung lese ich definitiv auch immer zugleich als Schriftsteller, der sich die Techniken einer Kollegin oder eines Kollegen anschaut.

Mann liest aus einem Text vor. #AtelierMonaco-Szene
Wohnzimmer-Lesung in Untergiesing, © Mario Steigerwald

Fällt es dir denn leicht, zwischen deinem literarischen Schreiben und dem wissenschaftlichen Schreiben zu switchen?

Das sind für mich zwei komplett unterschiedliche Formen. Die stärkste Waffe beim literarischen Schreiben ist für mich häufig das Nichtsagen, das Erahnenlassen. Für einen wissenschaftlichen Text ist das natürlich absolut falsch.

Im US-amerikanischen oder romanischen Sprachraum ist es viel anerkannter, an einer akademischen Institution und künstlerisch zugleich zu arbeiten.

Ich finde es auch ziemlich bescheiden, dass das im deutschsprachigen Kontext nicht so funktioniert. Etwas von sich auszuklammern, finde ich prinzipiell schwierig. Ich gehe lieber offen mit den Widersprüchen um. Das romantische Ideal des Naturgenies finde ich ohnehin problematisch. Deshalb ist die Überarbeitung der eigenen Texte ein wichtiger Aspekt bei meinen Schreibkursen.

Als Student hast du die Schreibwerkstatt der Komparatistik geleitet. Später warst du Leiter des Schreibzentrums der LMU und hast den Kurs „Kreativ schreiben!“ entwickelt, den du weiterhin mitbetreust. Wie kam es dazu?

Ursprünglich leiteten Àxel Sanjosé und Anne Bohnenkamp-Renken die Schreibwerkstatt der Komparatistik im Rahmen ihrer Dozenturen. Diese sollte Anfang der 2000er-Jahre der ersten Kürzungswelle an bayerischen Unis zum Opfer fallen, daher übernahm ich als Student die Leitung ehrenamtlich.

Die Werkstatt der Komparatistik findet wöchentlich statt, jeder kann einen Text mitbringen, der dort diskutiert wird. Das funktioniert vor allem gut für Leute, die schon schreiben und nicht unbedingt eine Eingebundenheit im Schreibprozess suchen.

Für den Schreibkurs des Schreibzentrums ist mein Anspruch ein ganz anderer. Ich will, dass sich die Teilnehmenden in möglichst vielen Gattungen ausprobieren. Außerdem laden wir Gäste ein, die durch eigene Erfahrungen an unterschiedliche Themen heranführen. In den letzten Jahren war beispielsweise Thomas Lang da, der über das Autorendasein in München gesprochen hat.

Portrait von Daniel Graziadei
Daniel Graziadei © Martin Geier

Wie kann man an dem Kurs „Kreativ schreiben!“ teilnehmen?

Alle eingeschriebenen Studierenden können sich dafür bewerben. Pro Semester gibt es 30 bis 60 Bewerbungen, aus denen wir zwölf auswählen müssen.

Und für den Kurs wirst du jetzt honoriert?

Nein, das ist ein Ehrenamt.

Dabei ist ein solcher Kurs doch eine Bereicherung für die Uni, und anscheinend gibt es eine hohe Nachfrage.

Meiner Meinung nach werden viel mehr interaktive Formate benötigt, die erstens eine solide Medienkompetenz vermitteln – gerade heutzutage, wo über die sozialen Medien ständig Desinformationen auf einen einprasseln. Zweitens müsste es um Schreibkompetenz gehen – auch für einfache Texte, sei es ein schöner Tweet oder ein perfekt gesprochenes TikTok-Video. Solche Formate würden auch die geisteswissenschaftlichen Fächer wieder attraktiver machen.

Das klingt fast wie ein Plädoyer.

Ja, ein Plädoyer dafür, die ganzen Orchideen viel wichtiger zu nehmen. Rhetorik und Poetik sind die Grundwerkzeuge der Literaturwissenschaft, und die sollte man nicht nur auf einer theoretischen Abstraktionsebene, sondern auf einer praktischen Applikationsebene ins Spiel bringen.

Abschließend noch einmal zurück zur Literatur. Was bedeutet für dich die freie Literaturszene in München?

Ich fand den Austausch zwischen den einzelnen Akteuren und Akteurinnen im Rahmen der Münchner Schiene super. Das könnte man noch weiter entwickeln, indem man mehr transmediale Aspekte einbringt. Und ich finde das jährlich stattfindende Lyrikformat „Kooperationen“ unglaublich wichtig, weil da Begegnungen sehr niederschwellig stattfinden können. Je weniger Schranken, desto besser. Da könnten wir noch viel strategischer kooperativ miteinander sein.

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