Maisünden, Bohèmeleben und fischschwänzige Pferde – was sagen ein Brief, eine Visitenkarte und Tagebucheinträge von Franziska zu Reventlow über ihre Verbindung zu Adolf von Hildebrand aus? Sylvia Schütz begibt sich auf Spurensuche – ein Beitrag zur Dauerausstellung „Maria Theresa 23. Biografie einer Münchner Villa“.
Brief Adolf Hildebrand an Franziska zu Reventlow
Die Monacensia im Hildebrandhaus bewahrt in ihrem Literaturarchiv den umfangreichen Nachlass der Schriftstellerin Franziska zu Reventlow (1871–1918). Unter der Signatur FR B 22 finden sich darin zwei Dokumente, die eine persönliche Bekanntschaft mit Adolf von Hildebrand (1847–1921), Bildhauer und Erbauer des Hildebrandhauses, belegen. Genau gesagt handelt sich um einen Brief und eine Visitenkarte von Adolf von Hildebrand. Der Brief wurde am 2. Februar 1895 handschriftlich in Kurrentschrift verfasst und offenbart nach der Transkription folgenden Inhalt:
Frau F. Lübke
Hamburg
Erlenkamp 8. III.
Gnädige Frau,
Ihr lieber Brief u. das Bildniß
haben mir große Freude ge-
macht, ich danke Ihnen sehr.
Freilich bin ich in München. ich
gehe jetzt an die zweite Gruppe u. hoffe im Mai damit fertig
zu werden, dann soll der Brunnen
beisammen sein. Wenn Sie also
kommen, finden Sie mich.
Ich war so nachlässig, Ihnen
den Empfang der 20 Mrk nie
anzuzeigen. Sie haben es
aber nicht nachgetragen, das
ist lieb von Ihnen. Eigentlich
ist es Ihnen recht miserabel
gegangen in der Zeit, wundern
thut es mich aber nicht. Sie
sind zu schlecht mit Ihrem
Herzen umgegangen. Diesmal
müßen Sie sich hier besser
pflegen. Als auf
frohes Wiedersehen.
Mit besten Grüßen
Ihr A Hildebrand ..
Maffeianger 2 Febr 95.
München
(gestempelt in Hamburg am 4.2.)
Was lässt sich aus diesem kurzen Schreiben über die persönliche Beziehung von Adolf von Hildebrand und Franziska zu Reventlow herauslesen?
Ein Versuch der schrittweisen Annäherung:
„Frau F. Lübke“
Zunächst einmal ist der Brief an „Frau F. Lübke“ in Hamburg gerichtet, denn seit 1894 war Franziska zu Reventlow mit dem Gerichtsassessor Walter Lübke verheiratet. Die Verlobung bestand bereits zum Zeitpunkt ihres ersten Aufenthalts in München im Jahr 1893, als sie mit Unterstützung ihres Verlobten ihren Lebenstraum verwirklichen wollte und eine Ausbildung zur Malerin anstrebte. In dieser Zeit war die Königlich Bayerische Akademie der Bildenden Künste noch eine reine Männerdomäne. Frauen wurde das Studium erst ab 1919 gestattet.
In München gab es allerdings viele renommierte private Malschulen, die auch Frauen aufnahmen, unter anderem die des slowenischen Kunstmalers Anton Az̆be in der Georgenstraße 16. Dort nahm Franziska zu Reventlow Unterricht. Während dieser Zeit in München lernte sie offenbar Adolf von Hildebrand kennen, der 1895 seine Briefe noch mit „Adolf Hildebrand“ unterzeichnete. Das bayerische Adelsdiplom wurde ihm erst 1904 verliehen. Die Erhebung in den erblichen Adelsstand des Königreichs Bayern folgte 1913.
Adolf von Hildebrand schrieb an Franziska zu Reventlow im Wissen, dass sie inzwischen eine verheiratete Frau Lübke war und im Frühsommer 1895 einen weiteren Aufenthalt in München plante. Der Bildhauer setzte sie davon in Kenntnis, dass er im Mai auf jeden Fall in München anzutreffen sei und hoffe, bis dahin seinen Brunnen fertigzustellen. Gemeint ist der Wittelsbacher Brunnen am heutigen Lenbachplatz, den Hildebrand von 1893 bis 1895 im Auftrag der Stadtgemeinde München errichtete. Mit dem Monumentalbrunnen sollte der Vollendung der neuen Wasserleitungen, die sauberes Trinkwasser aus dem Mangfalltal nach München führten, ein Denkmal gesetzt werden.
„Ich gehe jetzt an die zweite Gruppe“ – der Wittelsbacher Brunnen
Das Wasserbassin des Monumentalbrunnens wird von zwei großen allegorischen Figurengruppen gefasst:
- Ein junger Mann auf einem fischschwänzigen Pferd, der sogenannte Steinwerfer, steht für die Zerstörungskraft des Wassers.
- Eine junge Frau auf einem fischschwänzigen Stier streckt dem Betrachter eine Schale entgegen. Sie steht für das „segensreiche Wasser“.
Als Adolf von Hildebrand den Brief an Franziska zu Reventlow verfasste, war er gerade zusammen mit seinen Mitarbeitern an dieser zweiten Gruppe beschäftigt. Auch seiner Frau Irene berichtete er in einem Brief vom 18. Februar 1895 nach Florenz über das Fortschreiten der Figur:
Mittlerweile rückt meine Figur vorwärts, Gabriele fängt wieder an was zu thun, doch sieht er noch recht mager aus. Die Stadt ist voller Influenza.
Im selben Brief bereitet er seine Frau auf den Plan eines dauerhaften Umzugs nach München vor:
Ich glaube, daß München mich doch festhalten wird und du mußt Dich schon darauf vorbereiten.
Die feierliche Einweihung des Wittelsbacher Brunnens fand am 12. Juli 1895 statt.
„Ich war so nachlässig, Ihnen den Empfang der 20 Mrk nie anzuzeigen“
In dem Brief vom 2. Februar 1895 ist im Weiteren zu lesen, dass Hildebrand bedauere, Franziska zu Reventlow den Empfang von 20 Mark nicht quittiert zu haben, die er offenbar 1893 von ihr erhalten hatte. Diese Aussage lässt darauf schließen, dass sie bei ihm Unterricht im Modellieren genommen hatte, für den sie ihm 20 Mark zahlte. Zudem scheint Hildebrand über ihren Aufenthalt in der Münchner Boheme 1893 gut informiert gewesen zu sein: Er spricht in aller Offenheit seinen Eindruck von ihrem psychischen Befinden an, das er als „miserabel“ benennt.
Eine Selbstaussage von Franziska zu Reventlow über ihr damaliges Ergehen findet sich in einem Brief an den Schriftsteller Michael Georg Conrad vom 30. Dezember 1893. Darin berichtet sie von ihrem Entschluss, die Bildhauerei aus finanziellen Gründen aufzugeben, um sich ausschließlich der Malerei zu widmen.
Mir ist es in letzter Zeit besser gegangen, ich habe sogar Schulden getilgt und jeden Tag zu Mittag gegessen. Ich bin nämlich zu dem schweren Entschluß gekommen, die Bildhauerei an den Nagel zu hängen und werfe mich nun ausschließlich auf die Malerei. Ich hätte es auf die Länge doch weder pekuniär noch gesundheitlich durchführen können (…)
Diese für sie bittere Entscheidung beschreibt Franziska zu Reventlow auch in ihrem autobiografischen Roman „Ellen Olestjerne“ (1903):
Das Modellieren aufgegeben – wir sollten diese Woche Halbaktreliefs in Lebensgröße machen, aber ich habe kein Geld, um Modell zu nehmen. Darüber geriet ich gestern so in Wut daß ich den Ton herunterriß, die Modellierhölzer in alle Ecken warf und tobend abging. Die Dalwendt sagte mir nachher, daß unser Lehrer sehr erstaunt gewesen sein. So habe ich mich jetzt ganz aufs Zeichnen geworfen.
Die im Unterricht gestellte Aufgabe, figürliche Reliefs zu modellieren, lässt unwillkürlich an Adolf von Hildebrand denken. Er galt zu dieser Zeit als ein Meister der Reliefkunst, der er auch in seinen theoretischen Schriften große Bedeutung beimaß.
In ihrem zuvor erwähnten Brief an Michael Georg Conrad berichtet Franziska zu Reventlow von einer „bösen Zeit“, sie sie durchgemacht habe. Dennoch resümiert sie über ihren damaligen Aufenthalt in München:
Und doch ist dieses Künstler-Bohèmeleben das Beste von meinem ganzen bisherigen Leben gewesen. Es ist wenigstens frei, ganz frei und man sieht hinter den Kulissen ungleich viel wahrer, und an den Menschen lernt man in der Not viel Gutes kennen, an das man sonst nur als Kind glaubt.
„Sie sind zu schlecht mit Ihrem Herzen umgegangen.“
Rückblickend auf die Zeit ihrer ersten Bekanntschaft in München richtet Hildebrand mahnende und fast schon väterlich besorgte Worte an die 24 Jahre jüngere Franziska zu Reventlow. Möglich, dass er einen persönlichen Eindruck von der oben genannten „bösen Zeit“ erhalten hatte. Seine Feststellung „Sie sind zu schlecht mit Ihrem Herzen umgegangen“ deutet auf eine emotionale Verausgabung Franziska zu Reventlows während ihres ersten Eintauchens in die Kreise der Münchner Boheme hin. Er schließt den besorgten Rat an, sie möge sich bei ihrem diesmaligen Aufenthalt „besser pflegen“. Womöglich spielt er hier auf die Liebesbeziehung von Franziska zu Reventlow mit dem polnischen Maler Adolf Herstein an, den sie 1893 in München kennenlernte. Als sie München im April 1894 verließ, um am 22. Mai Walter Lübke zu heiraten, erwartete sie von Herstein ein Kind.
Den kurzen Brief beendet Hildebrand mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen. Darüber, ob und wie dieses Wiedersehen im Mai 1895 stattgefunden hat, ist nichts belegt.
Visitenkarte
Frau Lübke
Prof. Adolf Hildebrand
Bildhauer.
München Florenz
Maffeianger. S. Francesco di Paola 3.
Rückseite
Bin erst Nachm. (unleserlich, wahrscheinlich: im)
Atelier.
Einen Hinweis auf die Begegnung gibt das zweite Dokument: eine Visitenkarte von Adolf Hildebrand. Sie befindet sich unter der Signatur FR B 2 im Nachlass von Franziska zu Reventlow im Literaturarchiv der Monacensia. Die auf der Rückseite schnell hingeschriebene Notiz „Bin erst nachm. (im) Atelier“ lässt einen verabredeten Besuch vermuten. Die Karte trägt kein Datum, ist jedoch an „Frau Lübke“ adressiert. Es ist daher davon auszugehen, dass sie aus dem Jahr 1895 stammt, in dem Franziska zu Reventlow noch mit Walter Lübke verheiratet war. Als Hildebrands Adressen sind die Standorte München und Florenz angegeben. In München der Maffeianger – mit dem Bau des Hildebrandhauses in der Maria-Theresia-Straße 23 wurde erst zwei Jahre später, 1897, begonnen; 1898 zog Hildebrand mit seiner Familie dort ein. Bis dahin war der Hauptwohnsitz der Familie San Francesco di Paola, ein ehemaliges Kloster bei Florenz, das Hildebrand 1874 erworben hatte.
Trotz seines Rufes als einer der bedeutendsten Bildhauer seiner Zeit wurde die Kunst Adolf von Hildebrands in seiner Heimat als „zu wenig deutsch“ angesehen. Auf der Visitenkarte teilt er mit, dass er erst nachmittags im Atelier am Maffeianger anzutreffen sei. Irene Hildebrand und die Kinder weilten zu dieser Zeit in San Francesco.
„schöne Maientage von damals“
Hinweise auf Begegnungen mit Adolf von Hildebrand lassen sich auch den Tagebüchern von Franziska zu Reventlow entnehmen. Hier taucht sein Name insgesamt viermal auf, zweimal wird seine Frau Irene als die „(alte) Hildebrändin“ erwähnt, einmal ist von den Töchtern als die „Hildebrandmädel“ die Rede. Die Erwähnungen setzen allerdings erst eine Dekade später ein. Einen expliziten Hinweis auf eine Begegnung in einem Monat Mai gibt der Tagebucheintrag vom 16. Februar 1905:
(…) Samstag Römerfest, mit Gaupp und Lampert hin, eigentlich nur um den alten Hildebrand zu sehen und zu fragen, ob er noch der schönen Maientage von damals gedenkt. (…) Das Fest von einem horrenden Stumpfsinn, so sehr, daß man sich wieder darüber amüsieren möchte. Die alte Hildebrändin wie ein Drache die Thür bewacht, er sich kaum getraut mit mir zu sprechen. Gegen 2, als ich schon eine Gesellschaft zum Weggehen zusammentrommeln versuche, erzählt Lisa mir, daß die Alte von ihren Kindern verlangt hat, heimzugehen, weil ich da wäre. Mordfreude darüber.
Franziska zu Reventlow erwähnt hier in zweideutiger Weise „schöne Maientage von damals“ und bezeichnet Irene von Hildebrand feindselig als „alte Hildebrändin“ und „Drache“. Bei der Durchsicht ihrer Tagebuchaufzeichnungen im Monat Mai der vorausgehenden Jahre findet sich 1895 am 22. eine erstaunlich explizite Schilderung einer „Maisünde“, einem Liebesabenteuer kurz nach der Rückkehr nach München. Verfasst hat sie diese in einem Gasthof auf dem Petersberg bei Flintsbach am Inn, wohin sie an ihrem Geburtstag, dem 18. Mai, gefahren ist:
(…) An meinem Geburtstag bin ich von München gekommen und hier herauf, allein und mit ganz neuen sündigen Erinnerungen, mit einer neuen frischen Maisünde und da bin ich wieder jung und froh und gesund geworden.
In diesem ausführlichen Tagebucheintrag erinnert sich Franziska zu Reventlow zunächst zurück an ihre Hochzeit mit Walter Lübke, die exakt ein Jahr zuvor stattgefunden hatte. Sie denkt an ihren Myrtenkranz, den sie als Symbol der jungfräulichen Braut auf den kurz geschnittenen Haaren trug, und ihre damals schon bestehende, verheimlichte Schwangerschaft. Dann berichtet sie von ihren Erlebnissen in München, vom endgültigen Bruch mit Adolf Herstein und einem darauffolgenden Liebesabenteuer. Diesmal trägt sie das dem Gott Dionysos zugeordnete Weinlaub im Haar. Es folgt, wie in den Fußnoten der Tagebuchedition hervorgehoben ist, die deutlichste Schilderung einer sexuellen Begegnung, die Franziska zu Reventlow je schriftlich formulierte:
Und eine Nacht in Glück und Wonne und Rausch und Vergessen. Die Lampe hat ganz leise und verschwiegen gebrannt und der Regen an die Scheiben geschlagen.
Und dann hat er alles dunkel gemacht und ist zu mir ins Bett gekommen, und unsere Körper, die sich vorher nie gesehen hatten, umschlangen sich, daß die Flammen zusammenschlugen und die Lust in wilden Funken sprühte. Am Morgen sind wir aufgewacht und haben uns gesehn, und dann neue Lust, frische, kräftige morgenfrühe Lust. Und dann noch eine Nacht.
Einen Hinweis auf einen Namen gibt Franziska zu Reventlow in ihrem Tagebuch nicht.
Am 29. Februar 1905, knapp zwei Wochen nach dem geschilderten Römerfest, notiert sie die Begegnung mit den „Hildebrandmädel“ und einen Brief, den sie anschließend an Adolf von Hildebrand schrieb: „Abends zu Hause an Hildebrand geschrieben daß ihn einmal wiedersehen möchte.“ Ob es dazu kam, ist nicht bekannt. Zufällige Begegnungen werden im Tagebuch eher nüchtern kommentiert:
März 1906
(…) Ging dann mit Franzl ins Luitpold und da wieder Strich und der Juxer und der Reitknecht und der alte Hildebrand und Gott weiß wer (…)
Quellen:
- „Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich“. F. Gräfin zu Reventlow. Tagebücher 1895–1910. Hg. von Irene Weiser und Jürgen Gutsch. Verlag Karl Stutz, Passau.
- Franziska Gräfin zu Reventlow: Briefe 1890–1917. Hg. von Else Reventlow. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1977.
- Adolf von Hildebrand und seine Welt. Briefe und Erinnerungen. Besorgt von Bernhard Sattler. Herausgegeben von der Akademie der Schönen Künste. Verlag Georg D.W. Callwey, München 1962.
- Franziska zu Reventlow: Ellen Olestjerne. Allitera Verlag, München 2002.