Wohngeschichten erleben: Erzählcafés in München-Bogenhausen

Mara Roth und Serena D'Auria sitzen auf Podium im Café GeQo zum Erzählcafé

Seit dem 1. April laden die Monacensia und die Münchner Volkshochschule zu fünf Erzählcafés in Bogenhausen ein. Wie ist Bogenhausen zu dem geworden, was es heute ist? Um dieser Frage nachzugehen, dreht sich im Erzählcafé alles rund ums Wohnen in München.

Was ist ein Erzählcafé?

Ein Erzählcafé ist eine partizipative Form des – oftmals autobiografisch orientierten – Erzählens. Menschen kommen hier temporär zusammen, um zu einem bestimmten Thema Geschichten und Anekdoten aus ihrem Leben zu erzählen. Ein Erzählcafé ist somit ein Ort, in dem persönliches Erleben mit historischem Zeitgeschehen verknüpft und neu perspektiviert werden kann.

Seit dem 1. April veranstalten die Monacensia und die Münchner Volkshochschule fünf Erzählcafés zum Thema Wohnen. Denn Wohnen ist seit Jahrhunderten eines der zentralen sozialen Themen von Stadtgesellschaften. Monatlich findet ein Erzählcafé an wechselnden Orten in Bogenhausen statt. Jedes Treffen wird durch Impulsgeber*innen eröffnet, die historische Perspektiven auf die jeweiligen Veranstaltungsorte vorstellen:

  • 1. April: Gegenwart und Zukunft des Wohnens im Prinz-Eugen Park und die „Genossenschaft für Quartiersorganisation“ (GeQo)
  • 8. Mai: Die 70er–2000er Jahre im Arabellapark
  • 5. Juni: Die Parkstadt Bogenhausen in der Nachkriegszeit
  • 3. Juli: Bogenhausen während der NS-Zeit
  • 7. August: Die Alte Ziegelei in Oberföhring und die Ziegeleiproduktion zur Jahrhundertwende

Im Anschluss an den Impulsvortrag öffnen wir die Gesprächsrunde: Teilnehmer*innen sind eingeladen, eigene Erinnerungen zu teilen. Wer möchte, kann dafür Fotografien, Dokumente oder andere „erzählende“ Gegenstände mitbringen. Die Erzählcafés beginnen thematisch in der Gegenwart und arbeiten sich zurück in vergangene Jahrzehnte. Auf diese Weise wollen wir gemeinsam am Gedächtnis des Stadtteils arbeiten.

Menschen auf Liegestühlen im Lesegarten der Monacensia
Lesegarten der Monacensia. Am 3. Juli findet hier das 4. Erzählcafé statt zum Thema: Herrschaftliches Wohnen und Spuren der NS-Wohnpolitik in Bogenhausen. © Eva Jünger

Wohnen und Gedächtnis: Die Geschichte des Hildebrandhauses

Wie wohnen wir? Welche Geschichten erzählen die Orte, an denen wir leben? Und wessen Geschichten können wir überhaupt erzählen?

Über das Wohnen zu sprechen heißt, über Beziehungen zu sprechen: Zur Familie, zu WG-Mitbewohner*innen, zu Nachbar*innen, zu Vermieter*innen, zu Angestellten, zu Hausmeister*innen. In Wohnverhältnissen drücken sich gesellschaftliche Mikrokosmen aus. Deshalb kann das Sprechen über das Wohnen auch Arbeit am Selbstverständnis und am Gedächtnis einer Gesellschaft leisten.

Die Verknüpfung von Wohnen und Gedächtnis rückt mit der neuen Dauerausstellung «Maria-Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa» in den Fokus. Sie erzählt die wechselvolle Geschichte des Hildebrandhauses von seiner Errichtung 1898 bis heute. Die Hausgeschichte beginnt in der Prinzregentenzeit, als in München ein regelrechter Bauboom herrscht. Ermöglicht wird dieser Boom durch Ziegeleien, die von Berg am Laim bis Oberföhring Lehm zu Ziegeln brennen – und durch italienische Wanderarbeiter, die in den Ziegeleien zu einem großen Teil arbeiten. Oftmals schlafen sie in provisorischen Schlafstätten über den Ziegelöfen.

Plakat zur Dauerausstellung Maria Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa
Dauerausstellung «Maria Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa» #MON_Villa

Zur selben Zeit entstehen in Bogenhausen durch sogenannte «Loambaronen» großbürgerliche Villen mit hohen Wohnstandards. Zu ihnen gehört auch das Hildebrandhaus. Es ist der Zweitwohnsitz der Familie, die bis dahin in San Francesco die Paola in Florenz gelebt hatte, und zugleich Künstlervilla Adolf von Hildebrands. Drei verschieden große Ateliers stehen seiner Arbeit als Bildhauer zur Verfügung. Wie die Familie eingerichtet ist, ist – im Unterschied zur Villa in San Francesco di Paola – nicht dokumentiert. Einzig eine Bestandsliste aus dem Jahr 1921 gibt Auskunft über die Einrichtungsgegenstände des Hildebrandhauses. Belegt sind hingegen die regelmäßigen Besuche der Münchner Kulturszene, die im Salon und dem angrenzenden Speisezimmer bei Hauskonzerten und ins Hildebrandhaus zusammenkommt.

Mann mit Mädchen im großen Salon von San Francesco di Paola
Adolf Hildebrand mit seiner Tochter Eva im Großen Salon, um 1884, San Francesco di Paola, © Dr. Josef und Clara Hummelsberger.

Nach dem Tod von Adolf und Irene Hildebrand im Jahr 1921 entscheiden sich die Kinder Dietrich und Irene, das Haus zu verkaufen. 1934 wird Elisabeth Braun neue Eigentümerin des Hauses. Elisabeth Braun entstammt einer weitverzweigten, alteingesessenen jüdischen Münchner Familie. 1920 verlässt sie die Israelitische Kultusgemeinde und tritt in die evangelisch-lutherische Kirche ein. Sie ist unverheiratet, hat Philosophie und Staatswissenschaften studiert und bezeichnet sich selbstbewusst als Schriftstellerin. Ab 1936 lebt Elisabeth Braun im Hildebrandhaus. Mit ihr wohnt ihre Stiefmutter Rosa Braun, sowie fünfzehn weitere jüdische Mitbewohner*innen, denen Elisabeth Braun von 1937 bis 1941 Wohnraum bietet. 

gestaltete Fotografie von Elisabeth Braun
Elisabeth Braun, Eigentümerin des Hildebrandhauses © Universitätsarchiv München (UAM), Stud-Kart I (Braun, Elisabeth), Gestaltung: Büro Alba

In den Jahren bis 1941 leben Profiteure und Verfolgte des NS-Regimes im Hildebrandhaus auf engstem Raum nebeneinander. Es sind die Jahre, in denen Elisabeth und Rosa Braun von den NS-Behörden systematisch verfolgt, beraubt und entrechtet werden. Als Elisabeth Braun und ihre Stiefmutter Rosa am 16. August 1941 die Aufforderung erhalten, das Haus zu räumen, zieht gerade die Pianistin Rosl Schmidt ins Hildebrandhaus ein. Sie wird 1944 auf der «Gottbegnadeten-Liste des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda» aufgenommen. Elisabeth Braun wird am 20. November 1941 nach Kaunas deportiert und dort ermordet. Auch Rosa Braun sowie alle jüdischen Mitbewohner*innen des Hildebrandhauses müssen das Haus verlassen und werden ermordet.

In Bogenhausen tritt die Gleichzeitigkeit und oftmals auch die wechselseitige Bedingtheit von Verfolgten, Profiteur*innen und Täter*innen besonders mit Blick aufs Wohnen zutage: Die große Dichte an NS-Funktionären und Behörden, die sich hier zusammenfand, zog oftmals in Häuser, deren Bewohner*innen entrechtet, vertrieben und deportiert worden waren. Zu erforschen, welche konkreten Geschichten andere Häuser in Bogenhausen erzählen, ist Anliegen der Erzählcafés. Dabei ist der Ausgangs- und Bezugspunkt aller Erzählcafés immer ein gegenwärtiger und persönlicher. Wir wollen fragen: Welche Beziehungsgeschichte habe ich zur Geschichte des Stadtteils?

Erzählcafé: Gegenwart und Zukunft des Wohnens

Mit Blick auf die Gegenwart des Wohnens fand das erste Erzählcafé am 1. April im Wohnquartier im Prinz-Eugen-Park statt. Hier entstand im Rahmen eines Stadtentwicklungsprojekts eine der größten Holzbausiedlungen Europas, in der mit vielen genossenschaftlichen Wohnungen soziales und nachhaltiges Wohnen miteinander verknüpft werden. 2018 gegründete sich die «Genossenschaft für Quartiersorganisation» (GeQo). Mit Mara Roth von der Initiative GeQo sprachen wir über gemeinschaftliche und nachhaltige Wohnformen im Prinz-Eugen-Park. Von diesem ersten Erzählcafé aus blicken vier weitere Veranstaltungen in Wohnformen früherer Jahrzehnte.

Mara Roth und Serena D'Auria sitzen auf Podium im Café GeQo zum Erzählcafé
1. Erzählcafé am 1. April im Café GeQo mit Mara Roth und Serena D’Auria – Diskussion über nachhaltige Wohnformen im Prinz-Eugen-Park in Bogenhausen. © Felicitas Friedrich

Termine und Ausblick auf die Erzählcafés

70er–2000er Jahre: Wohnen im Arabellapark
– 8. Mai, 17:30 Uhr, MVHS Bogenhausen

Ab 1966 entstand auf ehemaligen Schafweiden durch Josef Schörghuber der Arabellapark – ein modernes Wohn- und Gewerbegebiet der 1960er bis 1980er Jahre. Symbolisch dafür steht das Arabellahaus, das zu den Olympischen Spielen 1972 als größtes Hotel Münchens galt und später als Boardinghouse genutzt wurde. Mit dem Hypohochhaus erhielt der Arabellapark seine markante Landmarke. Der Rosenkavalierplatz und der U-Bahnanschluss machten den «Retortenstadtteil» komplett. Architektin Renate Gassenmeier stellt die Besonderheiten des Arabellaparks vor.

Die Nachkriegszeit in der Parkstadt Bogenhausen
5. Juni, 17:30 Uhr, Parkstadt Bogenhausen, Pfarrei St. Capistran

In den 1950er Jahren entstand die Parkstadt Bogenhausen, um die Wohnungsnot in München zu lindern. Rund 2000 Wohnungen boten hochwertigen und bezahlbaren Wohnraum für etwa 6000 Menschen. Entworfen von Spitzenarchitekten wie Franz und Sep Ruf sowie Hellmuth von Werz, wirkt die Anlage bis heute modern. Wegen vieler Geflüchteter und sog. Heimatvertriebener erhielt sie den Spitznamen «Preußensiedlung». Autorin und Historikerin Lilly Maier beleuchtet die Entstehung auf dem ehemaligen «Führergelände».

Herrschaftliches Wohnen und Spuren der NS-Wohnpolitik in Bogenhausen
3. Juli, 17:30 Uhr, Monacensia im Hildebrandhaus

Östlich der Maximiliansanlagen entstand im späten 19. Jahrhundert zwischen Prinzregenten- und Montgelasstraße ein Villenviertel. Auch der Herzogpark wurde bis zum Ersten Weltkrieg mit bürgerlichen Wohnhäusern bebaut. Die NS-Wohnpolitik hinterließ in Bogenhausen gewaltvolle Spuren: Jüdische Bewohner*innen wurden enteignet und ermordet, während an der Prinzregentenstraße Musterbauten der «Neuen Südstadt» entstanden. Auch das Hildebrandhaus, heute Sitz der Monacensia, wurde «arisiert». Mit Felicitas Friedrich sprechen wir darüber, wie die Arisierungsgeschichte eines Hauses erforscht werden kann.

Ziegel – Ein Stoff, aus dem Wohn(t)räume sind
7. August, 17:30 Uhr, Alte Ziegelei Oberföhring

Ziegelbrennereien, seit dem 15. Jahrhundert in München belegt, konzentrierten sich zwischen Haidhausen und Ismaning. Um 1900 gab es dort über 50 Ziegeleien. Ziegel wurden zum zentralen Baustoff, während italienische Wanderziegler oft in notdürftigen Schlafstätten lebten. Der Bauboom bescherte den «Loambaronen» prächtige Villen. Heute erinnert nur noch ein erhaltenes Maschinenhaus an diese Zeit. Im letzten Erzählcafé sprechen Winfried Eckardt und Roland Krack über die Geschichte der Ziegeleiproduktion.

Eure Wohngeschichte zählt! Erzählt vor Ort oder auf Instagram unter #MeinBogenhausen – und helft mit, das Gedächtnis von Bogenhausen lebendig zu halten. Wir freuen uns auf eure Erinnerungen und Perspektiven bei den Erzählcafés!

Kurze FAQ zu den Erzählcafés in München-Bogenhausen

Was ist ein Erzählcafé?
Ein Treffpunkt, um persönliche Wohn-Geschichten zu teilen und Stadtteilgeschichte lebendig zu machen.

Wo finden die Erzählcafés statt?
An fünf Orten in Bogenhausen: Prinz-Eugen-Park, Arabellapark, Parkstadt Bogenhausen, Hildebrandhaus und Alte Ziegelei Oberföhring.

Wie kann ich mitmachen?
Anmeldung erforderlich über die Münchner Volkshochschule – Geschichten und Erinnerungen sind willkommen!

Autor*innen-Info

Profilbild Felicitas Friedrich

Felicitas Friedrich

Felicitas Friedrich ist Dramaturgin und arbeitet als Kulturvermittlerin in der Monacensia. Sie studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften in München, sowie Letras Hispanoamericanas in Santiago de Chile. Von 2021 bis 2023 arbeitete sie als Dramaturgieassistentin im künstlerischen Forschungsbereich „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“ an den Münchner Kammerspielen. Als Kulturvermittlerin in der Monacensia widmet sie sich der Öffnung von Gedächtnisinstitutionen für eine Gesellschaft der Vielen. Vertieft arbeitet sie zu Themen der jüdischen Literaturgeschichte. Foto © Stella Deborah Traub

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