Wie demokratisch ist die Kulturvermittlung? | #ErikaMann

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Das einzige ‚Prinzip‘, an das ich mich halte, ist mein hartnäckiger Glaube an einige grundlegende moralische Ideale – Wahrheit, Ehre, Anstand, Freiheit, Toleranz.

Erika Mann, 1943

Erika Mann. Kabarettistin – Kriegsreporterin – Politische Rednerin – so heißt die Sonderausstellung der Monacensia im Hildebrandhaus, die noch bis Mitte Juli in München, dann ab Oktober in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt zu sehen ist. Die bislang einmalige Einzelausstellung zur ältesten Tochter von Katia und Thomas Mann sowie das dazugehörende Vermittlungskonzept – vor allem hier die Vernetzungsaktion der Kulturinstitutionen – ist Ausgangspunkt für den Beitrag von Anke Buettner. Das Eingangszitat leitet die nachfolgenden Überlegungen.

Wie demokratisch sind wir? 

Gedanken zur Verteilungsgerechtigkeit in Kulturinstitutionen

Der Fokus auf digitale Angebote änderte sich als die Kulturinstitutionen wegen des Corona-Virus geschlossen wurden. Binnen kürzester Zeit ist offensichtlich geworden, wie zufällig, wie wenig strategisch verankert und personell aufgefangen digitale Kulturvermittlung in fast allen öffentlichen Häusern zu sein scheint. In diesem Text soll es nun also um Demokratie gehen, um Beteiligung, um Verteilungsgerechtigkeit. 

Zurück zur Kulturvermittlung. Warum soll digitale Kulturvermittlung im Sinne einer niederschwelligen Öffnung der Häuser nach so kurzer Zeitspanne in den Institutionen gelebt werden können? Arbeiten sich doch Expert*innen der nichtdigitalen Kulturvermittlung seit Jahren an denselben Hürden ab. Sie fordern von Politiker*innen, Kulturvermittlung nicht als nettes Begleitprogramm für Kinder, sondern als demokratische Haltung und Praxis altersübergreifend zu betrachten. Die Strategiepapiere und Stellenpläne liegen schon lange ausformuliert, aber wenig beachtet, in den Schubladen von politischen Entscheider*innen. 

Kulturvermittlung als Motor für Öffnungsprozesse

Eine „grundsätzlich neugierige, breite Besucher*innenschaft“ findet nach wie vor nicht automatisch ihren Weg in die Kulturinstitutionen. Zu elitär wirken die Einrichtungen, zu eindeutig ist das Programm auf das klassische Bildungsbürgertum westeuropäischer Prägung ausgerichtet. Dieses lässt, selbstgewiss und dominant, den Neuen und den Neugierigen kaum Platz für eigene Deutungen und Aktivitäten.

Wer Literatur, Kunst und Kultur als geschlossene Angelegenheit für ein forschendes Fachpublikum sowie für ein Publikum zelebriert, das seinen tradierten westlichen Bildungskanon bestens kennt, oder den Erhalt kulturellen Erbes überspitzt formuliert mit Erstausgaben, Vernissagen und Denkmalschutz verbindet, negiert Chancengerechtigkeit und riskiert den sozialen Frieden. 

Kulturinstitutionen müssen neben ihren Inhalten gesellschaftliche Werte wie Solidarität und Demokratie vermitteln. Eine Voraussetzung dafür ist Selbstkritik. Dazu müssen sie:

  • ihr Programm ändern, 
  • kritisch auf ihre Inhalte und ihre Kooperationen blicken, 
  • grundsätzlich ihre Arbeitsweisen nach innen und außen hinterfragen und 
  • Mitarbeiter*innen wie Publikum ernsthaft als gleichwertige Gegenüber in ihre Veränderungsprozesse einbinden. 

Die Kulturinstitutionen müssen offen mit den Fragen umgehen:

  • Welche Gruppen fehlen uns? 
  • Wen haben wir nicht gesehen? 
  • Wen nicht eingeladen?

Birgit Mandel, Professorin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, geht in ihrem Artikel Kulturvermittlung in klassischen Kultureinrichtungen: Ambivalenzen, Widersprüche und Impulse für Veränderungen auf diese Situation ausführlich ein. Kulturvermittlung hilft ihrer Ansicht nach den Blick für die heterogene Gesellschaft zu weiten und kann gleichzeitig zum Motor für Öffnungsprozesse klassischer Kulturinstitutionen werden. 

Monacensia Lesegarten Copyright Münchner Stadtbibliothek/Eva Jünger
Monacensia Lesegarten Copyright Münchner Stadtbibliothek/Eva Jünger

Deutschsprachig, netzaffin und technisch gut ausgerüstet

Digitale Kulturvermittlung ist ein zentraler Bestandteil dieses Öffnungsprozesses. In Theorie und Praxis wird meines Erachtens noch zu wenig Augenmerk daraufgelegt, dass das Kulturpublikum im Netz für die meisten Angebote und Auftritte deutschsprachig, webaffin, medienkompetent und technisch gut ausgerüstet sein muss, um teilzuhaben. 

Geht es in der Politik um Stellen wird manchmal klein geredet, manchmal ausgeblendet, wie wichtig die kontinuierliche Pflege des persönlichen und des lokalen Austauschs mit unterschiedlichsten Einzelpersonen und Communities ist. Besonders natürlich dann, wenn neue Gruppen und Nichtbesucher*innen für Kulturangebote geworben werden sollen. Auch im Netz baut man Vertrauen und Kontakte über längere Zeit intensiv auf, auch im Netz streut man Informationen nicht nach dem Gießkannenprinzip. 

Vielschichtig und für ein breites Publikum stellt sich hier etwa die Münchner Stadtbibliothek auf. Sie bietet auch vor Ort digitale Einführungen etwa für kleine Gruppen an oder nimmt umgekehrt lokale Impulse aus den Bibliotheken mit ins Netz. 

Noch nah an der klassischen Publikumsansprache, dafür bewusst nachhaltig mit möglichst wenig Schranken zwischen nicht/digitaler Welt gedacht, ist das „digitale Kulturvermittlungsprogramm“ zur Erika Mann-Ausstellung. Ein Pilotprojekt, das fortlaufend im MON_Mag dokumentiert, verfolgt und kommentiert werden kann. Genauso wie die Teilnahme am Kulturhackathon Coding Da Vinci Süd haben beide Vermittlungsprogramme gemein, dass sie alle Monacensia-Mitarbeiter*innen einbeziehen und praktisch im laufenden Projekt digital schulen.

BloggerWalk #ErikaMann - Teilnehmende lauschen gebannt
BloggerWalk #ErikaMann – Teilnehmende lauschen gebannt Sylvia Schütz‘ Ausführungen und entdecken Erika Mann für sich. Kulturvermittlung analog und digital.

Digi to go

Da Deutschland aufgrund seiner […] Geschichte und föderalen Strukturen über eine weltweit einzigartige Dichte institutionalisierter und etatisierter öffentlicher Einrichtungen verfügt, besteht kulturpolitisch die besondere Herausforderung darin, diese zu erhalten, aber auch zukunftsfähig zu machen, damit sie […] als meritorische, Orientierung und Zusammenhalt stiftende künstlerisch-kulturelle Orte angenommen werden.

Birgit Mandel, 2018
Tour de Textes - Arbeitstreffen junger deutschsprachiger Theaterautor*innen in der Monacensia Copyright Mario Steigerwald
Tour de Textes – Arbeitstreffen junger deutschsprachiger Theaterautor*innen in der Monacensia Copyright Mario Steigerwald

Hier möchte ich ergänzen, dass diese Herausforderung zudem darin besteht, die Einrichtungen als nichtkommerzielle und öffentlich zugängliche Orte zu stärken, um möglichst viele Menschen mit Kultur als bereichernde Dimension ihres Lebens in Berührung zu bringen (vgl. Birgit Mandel, 2018). Dafür sind unerlässlich:

  • die maximale Ausweitung der Öffnungszeiten, 
  • der Verzicht auf Eintrittsgelder,
  • die gemeinsame Weiterentwicklung des Programms und der Sammlungsprofile etwa mit freien Trägern, kulturpädagogischen Vereinen und internationalen Communities,
  • das radikale Zusammendenken von analogem und digitalem Raum.

Auf desillusionierende Weise manifestieren die „Corona-Schließungen“ wie wenig die öffentlichen Museen, Sammlungen, Archive und Bibliotheken mit all ihren Kulturgütern, offen gedachte Institutionen sind. Gerade die digitalen Angebote, schnell aus dem Boden als Hintergrundberichte, Backstage-Besuche oder Rundgänge mit Direktor*innen inszeniert, zeigen dies paradoxerweise klar und deutlich. Es werden Codes verwendet, die für eine akademisch geschulte Gruppe von Museums- und Theatergänger*innen gleichermaßen locker wie originell sind und für diese kaum einer Erklärung bedürfen. Digitale Kulturhäppchen lassen sich für sie über die abonnierten Social-Media-Kanäle leicht konsumieren. Gleichgesinnte bleiben hier – auch wenn sie sich nicht kennen – gerne unter sich. 

Mit anderen Gruppen ins Gespräch zu kommen, deren Anregungen zu hören und zu diskutieren, dafür ist bislang in der digitalen Kommunikation der Kulturinstitutionen kein Raum und keine Ressource vorhanden. Das würde aber den feinen Unterschied ausmachen, wenn Verteilungsgerechtigkeit eine größere Rolle spielen soll.

Nicht im Club

Weniger Privilegierte verstehen binnen Sekunden, dass sie nicht zum engeren Freundeskreis gehören. Schlicht, weil ihr Geschmack in der genannten Gruppe, kaum eine Rolle spielt oder ihre Bildungsinteressen unbekannt bleiben. Unfreiwillig vollziehen im Digitalen, so meine These, nicht wenige Kulturinstitutionen das, was sie dank einer kulturvermittelnden Praxis in ihren Häusern schon länger und sehr ernsthaft zu überwinden suchen: Sie errichten neue Barrieren.

Vom digitalen Schaufensterbummel ausgeschlossen bleiben im Digitalen viele ältere Menschen, die eigentlich von dem grundsätzlich inklusiven Online-Kulturangebot besonders profitieren könnten. Digitale Mitmachaktionen, Links, Videoschnipsel und Blogbeiträge sind Vermittlungsformate, die verteilt über verschiedene Social-Media-Kanäle und Webseiten für Ungeübte einer undurchschaubaren Logik und Kommunikationsstruktur folgen. Die Erzählformate haben sich in den letzten zehn Jahren radikal geändert.

SocialWall zur digitalen Adaption der #ErikaMann-Ausstellung
SocialWall zur Erika Mann-Ausstellung. Alle Facebook-Postings der Monacensia sowie sämtliche Tweets mit dem Hashtag #ErikaMann werden hier aufgenommen – Dokumentation der digitalen Kulturvermittlung. Foto: Eva Jünger.

Ungeübte brauchen deshalb fachliche Unterstützung und Ermutigung, damit sie lernen sich im Netz zu bewegen und dort kompetent zu kommunizieren. Beides können die meisten Institutionen in ihrer jetzigen Form nicht leisten. Öffentliche Bibliotheken sind hier mittlerweile Vorreiter und bauen die digitale Bildung in den Institutions- und Veranstaltungsalltag ein. 

Ausgeschlossen von digitalen Angeboten bleiben häufig auch Menschen mit wenig Geld. Digitale Teilhabe ist nicht umsonst. Ohne Smartphone, Tablet, Notebook, Computer kann man weder Accounts anlegen, durch Bildergalerien scrollen, zum Treppenhausfreitag beitragen, an Blogparaden teilnehmen oder beim digitalen Literaturtreff mitreden. Das freie WLAN in vielen Institutionen ist ein erster Schritt, gleicht jedoch nicht den Mangel an technischer Ausstattung aus. Denkt man digitale Kulturvermittlung sozial, muss hierfür eine Lösung gefunden werden.

Engagierte Politik für Solidarität und kulturelle Teilhabe

Die Corona-Schließung der Kulturinstitutionen macht klar, dass Kulturvermittlung, wie es Birgit Mandel nennt, zum „Kerngeschäft der klassischen Kulturinstitutionen“ gehört. Für ihre zeitgemäße Verankerung und Erweiterung um das Digitale und das Soziale muss viel investiert werden. Der Förderung kultureller Teilhabe und von Diversity-Perspektiven auf Kulturgüter muss als wichtige Basis für eine solidarische demokratische Gesellschaft hohe Bedeutung beigemessen werden. 

Es braucht dafür überzeugte, beherzte politische Entscheider*innen, die verhindern, dass digitale Präsenz der Kulturinstitutionen auf einer elitären Verteilungsordnung aufbauen und die gegenwärtigen Zugänge zu den öffentlich finanzierten Häusern ohne grundsätzliche Kritik des Bestehenden und nur oberflächlich auf den schnellen Effekt hin ins Netz verlängert werden. 

Für eine gelungene digitale Strategie braucht es Expert*innen für digitale Kommunikation und für Kulturvermittlung. Es braucht Moderation und nachhaltig verankerte Partizipation. Vor allem bislang unerreichte Communities können so ihren Weg in die öffentlichen Kulturinstitutionen und ins kulturelle Gedächtnis der Stadt finden. 

Das ist unser Haus, das sind unsere Perspektiven

Der öffentliche Kulturraum wird durch Partizipation als gesellschaftlicher Raum verstanden, der allen gehört und allen gehören soll, den sich alle aneignen und gestalten dürfen. Digitale Kommunikationspraxis in engem Zusammenspiel mit individuell angepassten Vermittlungsformaten bis hin zu Kultur-Streetwork vor Ort birgt die große Chance, eine Perspektivenvielfalt in die Kulturinstitutionen zu bringen, die bislang noch so augenscheinlich fehlt. 

Hier sind die politischen Entscheider*innen in der Pflicht endlich zu handeln und die Grundlage für demokratischere Strukturen in öffentlichen Einrichtungen zu schaffen. Menschen mit unterschiedlichsten Bildungsvoraussetzungen sollen offene Türen vorfinden können und Inklusion soll in den Institutionen als Haltung und als Praxis dauerhaft verankert werden. (vgl. Anke Buettner. Alles verändert sich. Ein Monacensia-Werkstattbericht über den Versuch, entspannt mit der Zeit zu gehen)

Attraktiver werden die Kulturinstitutionen, wenn sich Kulturschaffende und Publikum selbst engagieren können allemal. Die Impulse von außen dienen der Vielstimmigkeit von Sammlungen und einer objektiveren Abbildung von Gegenwart und, wo notwendig, der Vergangenheit. Am Ziel der Kulturinstitutionen, der Wahrung, Pflege und Vermittlung von kulturellem Erbe, ändert sich damit nichts. 

Der Blick auf die lokale Bevölkerung scheint im digitalen Zeitalter zunächst etwas widersinnig, dient aber der Profilschärfung der Kulturinstitutionen und ihrer demokratischen Aufgabe, Kulturvermittlung für und mit allen zu befördern. Selbstverständlich ist und bleibt das Netz trotzdem für Kulturinstitutionen Schaufenster zur Welt und wichtiger Ort für Präsentation, Fachaustausch und Forschung. 


Vernetzungsaktion #ErikaMann (16. – 27. März 2020)

Ihr könnt bei der Vernetzungsaktion mitlesen und Euch mit den Teilnehmenden vernetzen und austauschen, gerne auch mitdiskutieren. Die Aktion dokumentieren wir mehrfach:

Gastbeiträge im Blog zum Thema:

Autor*innen-Info

Profilbild Anke Buettner

Anke Buettner

Anke Buettner leitet seit 2019 die Monacensia im Hildebrandhaus. Ihr Fokus liegt auf Digitalität und OpenGLAM. Als Kuratorin beschäftigt sie sich intensiv mit der Neudefinition des Literaturmuseums und einer Erinnerungskultur der Vielen. Sie engagiert sich im Kuratorium des Deutschen Literaturfonds, der Stiftungskommission des Archivs der deutschen Frauenbewegung und bei Thomas Mann International. Sie ist Initiatorin des Forschungsprojekts #FemaleHeritage und des Netzwerks FEMale*Society, einer Kooperation von Monacensia und Münchner Kammerspiele. 2023 erhielt sie die Karl-Preusker-Medaille. Foto: © Eva Jünger.

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