Der berühmte Schriftsteller Lion Feuchtwanger hätte am 7. Juli 2024 seinen 140. Geburtstag, würde er noch leben. Anlässlich dieses Jubiläums fragt Tanja Kinkel, Autorin und Präsidentin der Internationalen Lion Feuchtwanger Gesellschaft, nach der Bedeutung Feuchtwangers für die Gegenwart. Sind seine Themen, Charaktere, Schauplätze und Frauenfiguren heute noch relevant oder nicht?
Tanja Kinkel über Lion Feuchtwanger: von Fehlbarkeiten, Schreiben, München und Frauenfiguren
In Lion Feuchtwangers Romanen wird über Bücher gestritten. Leidenschaftlich. Auch über Theaterstücke, Lieder und Filme, um von Gemälden ganz zu schweigen, aber Bücher sind immer ein Quell für Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Perspektiven, ganz gleich, ob Feuchtwanger den jeweiligen Roman in seiner Gegenwart oder in der Vergangenheit ansiedelt. Diskurse über Bücher sind ein konsistentes Merkmal von Feuchtwangers Romanen, aber da er der Kritik als populärer Autor seiner Zeit gilt, gibt es kaum Kommentare darüber Er konnte glaubwürdige Charaktere erschaffen, die von Ideen motiviert werden, durch Fiktion, durch Kunst, und dabei gleichzeitig alles andere als fleischlose Geschöpfe sind, meistens sehr sinnesfroh, und ganz und gar nicht zur spontanen Heldenhaftigkeit neigend.
Hier haben wir einen Autor, der während einer der übelsten Epochen der Menschheitsgeschichte – dem NS-Regime – lebte, die unter anderem das Resultat einer bösartigen Ideologie war: Er war mit der negativen Seite der Menschen allzu vertraut und baute einige der furchteinflößendsten Beschreibungen von Lynchjustiz und Mobmentalität in seine Romane ein. Aber dieser Autor drückte in seinen Werken die stete Überzeugung aus, dass Ideen und Kunst positive und nicht nur negative Veränderungen in der menschlichen Geschichte bewirken können. Darin ist er zutiefst ein Schüler der Aufklärer Lessing und Moses Mendelssohns, die er verehrte.
Gleichzeitig sind Feuchtwangers Charaktere niemals Idealgestalten; es gibt keinen „Nathan den Weisen“ in seinen Romanen. Seine Idealisten können gleichzeitig kleinlich und egoistisch sein, seine Reaktionäre und Erzkapitalisten ihre menschlichen, großzügigen Seiten haben. Der typische Protagonist eines Feuchtwangerschen Romans ist oft eher ein Antiheld, voll Eitelkeit, Ehrgeiz und Gier, aber eben auch voll von Neugier und Hunger nach Veränderung. (Auf die Protagonistinnen komme ich noch.) Es sind rundum fehlbare Menschen, die bei ihm über Ideen streiten, und just das macht seine Werke für mich so fesselnd.
Vom Streiten und Schreiben übers Schreiben: „Die Geschwister Oppermann“ und die „Josephus-Triologie“
Selbst in einem durch die Zeitumstände hastig verfassten und sehr düsteren Roman wie „Die Geschwister Oppermann“, seine erste schriftstellerische Reaktion auf das Dritte Reich, noch 1933 veröffentlicht, spiegelt sich das wider. Der Schüler Berthold Oppermann muss einen Aufsatz über Hermann den Cherusker (oder, wie ihn sein Lehrer nun nennt, „Hermann den Deutschen“) schreiben, doch er bringt es nicht über sich, aus diesem Aufsatz die Unterwürfigkeitsgeste zu machen, die verlangt wird. Nicht nur, weil die ständig wachsende Unterdrückung zu Beginn des Dritten Reiches zu viel für ihn wird, sondern, weil Berthold beginnt, sich für das Thema wirklich zu interessieren. Aus dem Aufsatz wird daher eine echte gedankliche Auseinandersetzung.
Über das Schreiben zu schreiben, die Aufregung, Abneigung oder leidenschaftliche Zustimmung, die ein Kunstwerk hervorrufen kann, auf fiktive Weise zu vermitteln, ohne seine Leser zu langweilen, ist teuflisch schwer, wie ich als Romanautorin nur allzu gut weiß, aber Feuchtwanger schafft es jedes Mal.
Wenn in seiner Josephus-Trilogie die Hauptfigur, Josef, versucht, gleichzeitig ein jüdischer und ein römischer Schriftsteller zu sein, wenn er erst als Nationalist einen Krieg mit anzettelt und dann versucht, im Gegenteil als Weltbürger zwischen den Kulturen zu vermitteln, dann ist an diesem roten Faden durch die Trilogie hindurch nichts Theoretisch-Trockenes. Man riecht den Angstschweiß des Romanhelden, und trinkt die glühende Vielfalt der antiken Romanwelt in sich hinein, die nicht nur Feuchtwangers, sondern mehr und mehr auch unsere eigene Gegenwart widerspiegelt. Josefs Streitgespräche mit seinem Rivalen, Gegenpol und Freund Justus drehen sich genauso um seine Bücher wie um sein Leben Die Aufführung eines Theaterstückes oder die Interpretation einer Rolle durch einen Schauspieler kann sowohl eine mutige Geste als auch eine demütigende Unterwerfung sein, aber in beiden Fällen gelingt es Feuchtwanger, das Theaterstück, die Darsteller und die Ideen, die von ihnen ausgedrückt werden, ungeheuer lebendig zu machen.
Feuchtwangers München und andere Schauplätze
Diese Lebendigkeit, diese Gleichzeitigkeit von Gegensätzen gilt auch für die (meisten) Orte, an denen seine Romane angesiedelt sind, und für keinen mehr als seine Heimatstadt München. Das geliebte und gehasste Bayern wird im Roman „Erfolg“ hellsichtig und scharfzüngig auseinander genommen und im Roman „Exil“ in einer trunkenen Stunde der Hauptfigur Sepp Trautwein sehnsüchtig und liebevoll heraufbeschworen. Feuchtwanger hat München und seine Bewohner so gewitzt und akkurat beschrieben wie kaum ein zweiter, und es soll keine Beleidigung von Franz Seitz sein, wenn ich mir wünsche, Helmut Dietl hätte „Erfolg“ ebenfalls verfilmt – es sind nun mal Dietls Filme und Fernsehserien, die eine ähnliche Melange aus Witz, Kritik und Vitalität bieten.
Das Spanien, das Feuchtwanger durch die Augen Goyas beschreibt, ist so plastisch, dass Konrad Wolf nicht widerstehen konnte und eine kongeniale Verfilmung schuf. Die Beschreibungen des antiken Judäa in der Josephus-Trilogie, für die Feuchtwanger neben Büchern nur die Briefe seines Freundes Arnold Zweig als Quelle hatte, stecken voll der Sehnsucht eines Mannes im Exil, und sind gleichzeitig scharf gestochen wie heutige Nachrichtenbilder.
„Ich muss die ganze Zeit an Gaza denken“, sagten mir gleich drei der amerikanischen und englischen Mitglieder des Feuchtwanger-Buchclubs, mit denen ich in diesem Jahr per Zoom den Roman „Der jüdische Krieg“ las, als wir bei der Schilderung des belagerten Jerusalem durch das überlegene römische Militär angekommen waren – besonders die einsetzende Hungersnot und die Grausamkeiten auf beiden Seiten erinnerten an die aktuelle Situation. (Alle drei der Betreffenden sind selbst Enkel der Geschwister Lion Feuchtwangers, deren Großeltern ihr Leben nur durch das Exil retten konnten.) „Den Heutigen zur Erinnerung, den Späteren zur Warnung“, mit diesen Worten endet Feuchtwangers Roman.
Feuchtwangers Frauenfiguren
Dabei war er selbst durchaus Sohn seiner Zeit. Bei Feuchtwanger gibt es faszinierende, vielschichtige weibliche Hauptfiguren, ob nun Johanna Krain in „Erfolg“, deren Versuch, den zu Unrecht verurteilten Martin Krüger zu retten, die Handlung vorantreibt, oder Margarete Maultasch, die „Häßliche Herzogin“ und kluge Regentin von Tirol, und wichtige weibliche Nebenfiguren, die oft genug zu den vitalsten Gestalten der jeweiligen Romane gehören, wie etwa Lucia in „Der Tag wird kommen“, oder Cayetana, die Herzogin von Alba, in „Goya“.
Anders als noch so mancher Zeitgenosse leidet Feuchtwanger auch nicht an der Unart, seine weiblichen Figuren für ausgelebte Sexualität zu bestrafen, indem er sie entweder umbringt oder gesellschaftlich ruinieren lässt. Johanna Krain hat während der Handlungszeit von „Erfolg“ sexuelle Beziehungen zu vier verschiedenen Männern, ohne dies bereuen zu müssen, oder deswegen von anderen Figuren oder dem Autor beschämt zu werden.
Aber, und das ist eben auch unübersehbar: die Figuren, die über Bücher und Ideen disputieren, sind fast immer Männer. Die eigentliche Hauptfigur der „Jüdin von Toledo“ ist denn auch nicht die Titelheldin Rahel, sondern ihr Vater Jehuda. Die Idee das Friedensprojekt zwischen den drei Religionen ist die seinige, und selbst Johanna Krain hört gelangweilt weg, wenn Jacques Tüverlin und Kaspar Pröckl miteinander über Marxismus streiten. Als Mensch förderte Feuchtwanger die junge Marieluise Fleißer; bei ihm als Autor kommen Künstlerinnen, Autorinnen, Philosophinnen jedoch entweder nur tot vor („Erfolg“) oder gar nicht („Die Füchse im Weinberg“, wo das historische Paris kurz vor der französischen Revolution Frauen in allen drei Kategorien geboten hätte).
Leicht überspitzt möchte ich sagen: Feuchtwangers weibliche Figuren sind oft wichtig, und meist mehrdimensional – nur ebenbürtig sind sie nicht.
Feuchtwangers Fehlbarkeit
Zum politischen Propheten taugt Feuchtwanger ebenfalls nicht. So hellsichtig er der Gefahr des Faschismus gegenüber war, so absichtlich blind war er, was die Verbrechen Stalins anging: „Moskau 37“ ist eine Schauprozessapologie erster Güte. Auch „Narrenweisheit“, der Roman über Rousseaus Anhänger und die Französische Revolution, hat ein paar Frösteln auslösende Passagen, was die Rechtfertigung von Todesurteilen betrifft. Für mich macht das Feuchtwanger nicht weniger, sondern noch mehr lesbar. Gerade hier und heute, wo wir dazu neigen, Unfehlbarkeit von kreativen Köpfen genauso wie von Wissenschaftlern oder überhaupt öffentlichen Personen zu erwarten, und mit der grundsätzlichen Verdammung so überaus schnell bei der Hand sind, tut es gut, daran erinnert zu werden, dass die klugen Köpfe der Vergangenheit genauso oft irren wie rechthaben konnten.
Lion Feuchtwanger war als Autor und Mensch so fehlbar wie seine Hauptfiguren; doch wie sie hörte er nie auf, Mensch zu sein. Seine Bücher zu lesen, wird immer nicht nur Zuspruch und Erkenntnis, sondern auch Widerspruch und Frustration auslösen. Nur eines nie: Gleichgültigkeit. Noch Jahrzehnte und in manchen Fällen gar ein Jahrhundert nach ihrem Erscheinen sind sie lebendig, spannend– und ideal, um leidenschaftlich über sie zu streiten.