Thomas Mann – Auf dem Zauberberg in Lübeck | #LiterarischesMünchen

Mann sitzt am Schreibtisch und schreibt. Blick in die Ausstellung zu Thomas Mann in Lübeck.

«Der Zauberberg» feiert im November 2024 sein 100. Jubiläum. Verfasst hat Thomas Mann sein «Gipfelwerk der Weltliteratur» zwischen 1913 und 1924 in München – mitten in der Epoche, die die Dauerausstellung «Von der Bohème zum Exil. Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann» umspannt. In München selbst führen kaum direkte (Schnee-)Spuren zum Roman. Daher geht Tina Rausch auf Reisen: durch Texte, Zeiten, Orte.

Schreibtisch mit Fotos und Stapel Manuskripte: Zauberberg von Thomas Mann.
Manuskript vom «Zauberberg», aufgenommen im Haus der Familie Mann in der Poschingerstraße 1. ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_4356 #LiterarischesMünchen

‹Wird jetzt alles wieder gut?›, fragte ich mit brüchiger Stimme.
‹Aber natürlich›, sagte er und lachte. ‹Es wird doch immer alles wieder gut. Weißt du nicht mehr?›.1

Thomas Mann und «Der Zauberberg»

Eine von der Dauerausstellung «Von der Bohème zum Exil» ausgehende mediale und reale Erkundung.

Im Frühjahr 2024 veröffentlichte Timon Karl Kaleyta den Roman «Heilung». Darin begibt sich ein von der Gegenwart erschöpfter Mann in ein Sanatorium in den Dolomiten. Der oben zitierte Dialog beendet den ersten Teil, in dem sich der namenlose Icherzähler heillos in einem Schneesturm verirrt.

Im Herbst 2024 veröffentlichte Norman Ohler die literarische Reportage «Der Zauberberg, die ganze Geschichte». Darin begibt sich der von Liebeskummer gebeutelte Autor nach Davos. Um die Reise steuerlich absetzen zu können, recherchiert er zum «Zauberberg» – und verirrt sich heillos in einem Schneesturm.

Anders als Thomas Mann, der seinen Hans Castorp ja nur erfunden hatte, begab sich die Hauptfigur meines Zauberbergs offenbar tatsächlich in Gefahr, denn ich war es ja selbst. Hatte ich komplett den Verstand verloren?2

Fast zeitgleich veröffentlichte Andreas Lesti in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» eine Reise-Reportage über Davos. Darin beschreibt er seinen Versuch, die von Mann im Schneekapitel geschilderte Route nachzugehen. Sie ahnen es: Lesti verirrt sich heillos in einem Schneesturm.

Auch 100 Jahre nach Erscheinen des Buches kann man hier wirklich vortrefflich im Kreis gehen. Und es bleibt dabei immer 14.30 Uhr.3

Liegt Davos an der Trave?

Ich reise im Oktober 2024 nach Lübeck, um den «Zauberberg» zu besteigen – in der Ausstellung «Fiebertraum und Höhenrausch» sowie irgendwo in Manns Geburtsstadt: «Davos liegt an der Trave», verspricht ein geführter literarischer Spaziergang.4

Diesmal verirrt sich die Deutsche Bahn heillos, wenn auch nicht im Schneesturm. Von München nach Hamburg geht es in einem Rutsch. Dann folgen ein ausgedehnter Halt, zwei Zugwechsel und eine Trödelei in der Regionalbahn über Kiel nach Lübeck. Meine Fahrt wird über neun Stunden dauern, dreieinhalb Stunden länger als geplant. Fast fühle ich mich wie Hans Castorp, der aus seiner Vaterstadt Hamburg mit dem Zug einst in die entgegengesetzte Richtung nach Davos aufgebrochen war.   

Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise; zu weit eigentlich im Verhältnis zu einem so kurzen Aufenthalt. […]
Von da an verzettelt sich die Reise, die solange großzügig, in direkter Linie vonstatten ging. Es gibt Aufenthalte und Umständlichkeiten.5

Mich stören die Umständlichkeiten kaum, vielmehr genieße ich die geschenkte Lesezeit. Neben den oben genannten Büchern habe ich die «Neue Rundschau» dabei. Zum Titelthema «100 Jahre Zauberberg» unternehmen unter anderem fünf Autor*innen den Versuch, «den Roman aus der Gegenwart, aber in seiner Zeit neu zu lesen, und zwar ausdrücklich essayistisch».6 Es geht um Aspekte des Raumes, Clawdia Chauchat als Pädagogin oder die Bedeutung des Films für den Roman.

Noch mehr fasziniert mich der Beitrag von Uwe Neumann: In «Der Wille zum Zauberberg. Zur produktiven Rezeption eines Jahrhundertromans» widerlegt er die jahrzehntelang behauptete Wirkungslosigkeit des Werks.7 Angefangen bei James Joyce, der sich 1939 in «Finnegans Wake» wortspielerisch auf den «Magic Mountain» bezog,8 zeigt Naumann an zahlreichen Beispielen, wie der in 36 Sprachen übersetzte «Global Player» die Literatur bis heute beeinflusst.

So erklärte die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk 2019, «dass sie vor allem vom ‹Zauberberg› sehr geprägt worden sei, den sie sechsmal gelesen habe».9 Ihr Roman «Empusion» bildete 2023 den Auftakt für eine Reihe literarischer Repliken auf das «Gipfelwerk der Weltliteratur»10 zum Jubiläum.11 Tokarczuk verlegt das Sanatorium nach Niederschlesien. Sie verwendet Motive des Schauerromans und tritt mit ihrem feministisch geprägten Text in einen originellen Dialog mit Manns Original.

Bücher von Thomas Mann mit dem Zauberberg
Mit der richtigen Lektüre wird jede noch so lange Zugfahrt zum Katzensprung. Foto: Tina Rausch #LiterarischesMünchen

Zaubersprüche und Zauberflüche zum Zauberberg

Zudem versammelt Naumann 49 «Zaubersprüche und Zauberflüche» – sprich Zitate – von Autor*innen aus hundert Jahren. Darunter Susan Sontag, die 2003 in ihrer Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels dem Werk ihre große Verehrung aussprach:

Kein anderes Buch war in meinem Leben so wichtig wie ‹Der Zauberberg› – der ja von nichts anderem als dem Zusammenstoß unterschiedlicher Ideale im Innersten der europäischen Zivilisation handelt.12

Ehe ich mich‘s verseh, erreichen wir Lübeck. Eine weitere Parallele zum «Zauberberg» drängt sich auf: Dort geht es um die Diskrepanz zwischen der erzählten Zeit im Roman (sieben Jahre!) und Castorps individuellem Zeitgefühl respektive seinem Verlust desselben.

Tags drauf empfängt mich im ersten Ausstellungsraum ein überlebensgroßes Foto von Thomas Mann in der Münchner Poschingerstraße. «Hier und in seinem Ferienhaus in Feldafing arbeitete er an seinem neuen Romanprojekt Der Zauberberg», steht im Begleittext.

Mann sitzt am Schreibtisch und schreibt. Blick in die Ausstellung zu Thomas Mann in Lübeck.
Thomas Mann 1930 an seinem Schreibtisch in der Poschingerstraße, aufgenommen in der Ausstellung in Lübeck. ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf:in: Keystone View Company / TMA_0163. Ausstellungsfoto: Tina Rausch #LiterarischesMünchen

Mein Rundgang weckt noch eine Assoziation zu der Stadt, in der das Werk entstand: Das Literaturhaus München widmete dem «Zauberberg» 2016 eine Einzelausstellung. Der damalige Titel «Tod und Amüsement»13 korrespondiert mit «Fiebertraum und Höhenrausch», und einzelne Exponate kenne ich bereits. Hier wie dort bildet das Schneekapitel eine Zäsur – bevor der Roman (und mit ihm Castorp) auf sein verheerendes Ende zuschlingert.

Der Zauberberg aus sportlicher Perspektive

Angesichts einer Skiausrüstung von 1900 kommt mir Michael Groß in den Sinn. Der ehemalige Spitzenschwimmer hat den «Zauberberg» so oft gelesen wie Olga Tokarczuk: fünf- oder sogar sechsmal, erzählte er im Gespräch mit Jagoda Marinić in der Arte-Sendung «Das Buch meines Lebens».14 Das Schneekapitel sei für ihn «der Höhepunkt des Buches, danach geht es auch mit dem Protagonisten bergab, bis er dann irgendwann untergeht». Groß analysiert den literarisch-philosophischen Text aus sportlicher Perspektive.

An Wand gelehnte Skier, Skistöcke und Skibrille in Vitrine. Blick in die Thomas Mann-Ausstellung in Lübeck
Skier, Skistöcke und Schneebrille um 1900 in der Ausstellung in Lübeck.
Foto: Tina Rausch #LiterarischesMünchen

Im Schneekapitel gehe es ja darum, die symbolische Mitte zwischen Emotio und Ratio zu finden, so Groß. Interessant sei, dass Mann seinen Protagonisten dies beim Skifahren in einer alpinen Extremsituation erfahren lässt. Denn jeder, der Ski oder Snowboard fahre, wüsste, dass man dort auch ganz real die Mitte im Sinne der Balance nach vorne und hinten finden müsse.

Frau auf Skiern in Winterlandschaft, schwarz-weiß-Fotografie
Katia Mann. Beim Skifahren, aus der Ferne aufgenommen. ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_1076 #LiterarischesMünchen

Mit diesem gedanklichen Rüstzeug bin ich perfekt austariert, um Davos an der Trave zu erkunden. Auf dem zweistündigen Spaziergang besucht die Gruppe (sieben Teilnehmende!) markante Orte in Lübeck, die Thomas Mann inspiriert haben (könnten) und sich verfremdet im «Zauberberg» wiederfinden, darunter

  • Straßenzüge rund ums Buddenbrookhaus,
  • das Katharineum,
  • die Marienkirche und
  • das Heiligen-Geist-Hospital.

Statt eines Berges erklimmen wir am Ende eine Terrasse und blicken auf den Lübecker Hafen Richtung Travemünde, Thomas Manns Sehnsuchtsort. Unterwegs sind wir weder in einen Schneesturm geraten, noch haben wir uns verirrt.

Auf der Rückfahrt nach München lese ich zum x-ten Male die finalen Sätze des «Zauberbergs». Im Schlusskapitel «Donnerschlag» zieht Hans Castorp in den Ersten Weltkrieg und gerät seinem Autor langsam aus den Augen. Ob alles wieder gut wird («wie doch immer», wird in Kaleytas «Heilung» behauptet, Sie erinnern sich), steht bei Thomas Mann infrage:

Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?15

Literaturhinweise

  • Thomas Mann, «Der Zauberberg», S. Fischer 1990.
  • Timon Karl Kaleyta, «Heilung», Piper 2024.
  • Norman Ohler, «Der Zauberberg, die ganze Geschichte», Diogenes 2024.
  • Jan Schomburg, «Die Möglichkeit eines Wunders», dtv 2024.
  • Heinz Strunk, «Zauberberg 2», Rowohlt 2024.
  • Olga Tokarczuk, «Empusion», Kampa Zürich, 2023.
  • Barbara Eschenburg, Caren Heuer (Hrsg.), «Thomas Manns Der Zauberberg.
  • Fiebertraum und Höhenrausch», Königshausen & Neumann 2024.
  • Kai Sina und Lektor*innen des S. Fischer Verlags (Hrsg.), 100 Jahre Zauberberg.
  • Neue Rundschau, Band 2024/3, S. Fischer 2024.
  • Reinhard G. Wittmann (Hrsg.), Thomas Mann, Der Zauberberg. Tod und Amüsement, Münchner Hefte 8/2016, Literaturhaus München 2016.
  1. Timon Karl Kaleyta, S. 110. ↩︎
  2. Norman Ohler, S. 239. ↩︎
  3. Andreas Lesti, «Tour de Schnee», in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 43, 27. Oktober 2024, S. 36f. Online unter dem Titel «Was Thomas Mann in den Schneeflocken fand» unter www.faz.net/aktuell/reise/100-jahre-thomas-manns-zauberberg-in-davos-110068319.html ↩︎
  4. Alle Infos zur Ausstellung und zum Rahmenprogramm unter www.derzauberberg.de. Das (sich zurzeit im Umbau befindliche) Buddenbrookhaus in Lübeck ist Teil des Netzwerks Thomas Mann International, zu dem fünf Häuser aus vier Ländern gehören, darunter die Monacensia im Hildebrandhaus. Mehr Infos unter www.thomasmanninternational.com ↩︎
  5. Thomas Mann, S. 7. ↩︎
  6. Kai Sina, «Wer als Erster schießt», in: «100 Jahre Zauberberg. Neue Rundschau», S. 6. ↩︎
  7. Der Artikel ist eine Art Preview auf eine größere Studie, deren Veröffentlichung Uwe Neumann für 2025 plant: «Die goldene Spur. Zur produktiven Rezeption von Thomas Manns Roman ‹Der Zauberberg›». Vgl. Uwe Neumann, «Der Wille zum Zauberberg. Zur produktiven Rezeption eines Jahrhundertromans», in: «100 Jahre Zauberberg. Neue Rundschau», FN 4 auf S. 91. ↩︎
  8. Das Wort «castorrap» verweise auf Castorp, und in «magic moning“ (ohne r, und zu Deutsch: «Zauber Berg-Morgen») schwinge der englische Romantitel mit, vgl. ebd., S. 78. ↩︎
  9. Ebd., S. 90. ↩︎
  10. Vgl. 100 Jahre «Der Zauberberg»: Wir feiern mit Ihnen, auf www.tma.ethz.ch/news-und-veranstaltungen/zauberberg.html ↩︎
  11. Eine Auswahl findet sich im Literaturverzeichnis. ↩︎
  12. www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/2000-2009/susan-sontag ↩︎
  13. Vgl. www.literaturhaus-muenchen.de/ausstellung/tod-und-amuesement-thomas-mann-der-zauberberg ↩︎
  14. Jagoda Marinić trifft Michael Groß. Das Buch meines Lebens, 28.7.2024, www.arte.tv/de/videos/118865-004-A/jagoda-marinic-trifft-michael-gross ↩︎
  15. Thomas Mann, S. 757. ↩︎

Autor*innen-Info

Profilbild Tina Rausch

Dies ist ein Gastbeitrag von Tina Rausch

Tina Rausch, 1970 in München geboren, studierte Neuere Deutsche Literatur und Erziehungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität. Ihre interdisziplinäre Magisterarbeit schrieb sie über die pädagogische Rezeption der bildungskritischen Schülerromane um die Jahrhundertwende am besonderen Beispiel von Thomas Manns „Buddenbrooks“ und Robert Musils „Törleß“. Seit ihrem Abschluss ist sie als freie Redakteurin, Lektorin und Literaturvermittlerin tätig. Sie schreibt für verschiedene Medien, organisiert und moderiert Veranstaltungen, erstellt Unterrichtsmaterialien und publizierte mit Ulrich Kirstein die „Allgemeinbildung deutsche Literatur für Dummies“ (Wiley-VCH). Die von ihr konzipierten und geleiteten literarischen Workshops und Fortbildungen für Jugendliche und Erwachsene fokussieren unter anderem Schnittstellen zur Kunst sowie verschiedene Präsentationsformen. www.tina-rausch.de

Foto: © Julia Giordano

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