Schreibheimaten und Geheimfächer – «Von der Bohème zum Exil» und ins digitale Zeitalter | #LiterarischesMünchen

Blick auf zwei Schreibtische in der Ausstellung Literarisches MÜnchen zur Zeit von Thomas Mann. Monacensia, Ausstellung «Von der Bohème zum Exil»

Von verschlossenen Fächern bis zu offenen Gedankenwelten: Tina Rauschs Blick auf die Ausstellung «Von der Bohème zum Exil» in der Monacensia schlägt eine Brücke von den Schreibtischen Frank Wedekinds und Oskar Maria Grafs bis zu den heutigen Arbeitsplätzen Münchner Autor*innen. Wo und wie wurde – und wird – in München geschrieben? Ein Streifzug durch Schreiborte und literarische Erinnerungsräume.

Schreibtisch mit Schreibtischstuhl und Guitarre von Frank Wedekind in der Ausstellung «Von der Bohème zum Exil» in der Monacensia, #LiterarischesMünchen
Schreibtisch von Frank Wedekind, Ausstellung «Von der Bohème zum Exil» in der Monacensia. © Tina Rausch. #LiterarischesMünchen

Schön Wo hat er seine Papiere?
Lulu Im Schreibtisch.
Schön am Schreibtisch Wo?
Lulu Rechts unten. Kniet vor dem Schreibtisch nieder, öffnet eine Schublade und leert die Papiere auf den Boden.
Hier. Es ist nichts zu fürchten. Er hatte keine Geheimnisse.

Frank Wedekind, Erdgeist1

Literarisches München: Die Ausstellung «Von der Bohème zum Exil» in der Monacensia

Frank Wedekinds Schreibtisch: Ein Zentrum kreativen Schaffens

Ob Frank Wedekind (1864–1918) in seinem Schreibtisch Geheimnisse aufbewahrte? Zumindest gab es abschließbare Fächer – sicher nicht verkehrt in einer vierköpfigen Familie mit Personal.

Das robuste Möbelstück bildete den Dreh- und Angelpunkt in Wedekinds Arbeitszimmer in der Prinzregentenstraße 50. Wedekind zog mit seiner Frau Tilly nach der Geburt der Tochter Pamela im Dezember 1906 in die geräumige Acht-Zimmer-Wohnung. 1911 folgte Tochter Kadidja. Wann genau der Schreibtisch einzog, ist nicht bekannt. Sein 1895 publiziertes Stück «Erdgeist» schrieb Wedekind wahrscheinlich woanders. Das daraus hervorgegangene Drama «Lulu»(1913) dürfte an diesem Möbel entstanden sein.

1983 hat der Schreibtisch nur 700 Meter von seiner einstigen Heimat entfernt eine neue Bleibe gefunden: Wedekinds Töchter schenkten ihn der Stadt München für die Handschriftensammlung der Monacensia – inklusive Drehstuhl.

1997 überließ Pamela Wedekinds Sohn Anatol Regnier die Laute seines Großvaters der Monacensia zudem als Dauerleihgabe. Dass der Dichter zuweilen auf dieser spielte, belegt ein Foto, das ihn, Pamela und Kadidja zeigt, sowie die Erinnerung seines Freundes und Kollegen:

Gegen den Schreibtisch gelehnt die Laute, zu deren Tönen er den Töchtern seine alten Lieder sang.

Heinrich Mann, 1927

Wedekinds Schreibtisch fungiert als Einstieg in die Dauerausstellung «Von der Bohème zum Exil. Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann» – und steht im spannenden Kontrast zu einem weiteren: Das Ende des kleinen Rundgangs bildet der Schreibtisch von Oskar Maria Graf (1894–1967).

Oskar Maria Graf und sein Exil-Schreibtisch

Das Möbel hatte eine deutlich weitere Anreise. Der bayerische Schriftsteller erwarb den Tisch im New Yorker Exil, wo er ab 1938 lebte. Graf bezog mit seiner Frau Mirjam Sachs ein kleines Appartement im Norden Manhattans. Sein Freund Heinrich Kirchmeier, ein emigrierter Schreiner vom Chiemsee, baute ihm eigens dafür eine platzsparende Arbeitsstätte. Die Schreibfläche lässt sich durch Seitenflügel vergrößern, die Schreibmaschine unter der mittleren Schublade verstauen, es gibt mehrere abschließbare Fächer. 

Schreibtisch, Holz, beklebt, auch mit Postkarten und Schreibtischstuhl davor, Ausstellung "Von der Bohème zum Exil". Oskar Maria Graf, Monacensia.
Schreibtisch von Oskar Maria Graf in der Ausstellung «Von der Boheème zum Exil» in der Monacensia. © Tina Rausch. #LiterarischesMünchen

Für Graf, der in New York stets Lederhosen trug, wurde der Tisch zur Schreibheimat – und zur Erinnerung an seine verlorene Heimat. Postkarten und Fotos mit bayerischen Landschaften im Blick, verfasste er daran sein Hauptwerk «Das Leben meiner Mutter».

1984 übergab Grafs dritte Ehefrau Gisela den Schreibtisch ebenfalls der Handschriftensammlung der Monacensia. Nach dem Tod ihres Mannes 1967 hatte sie jahrelang kaum etwas in der New Yorker Wohnung verändert.

Ich bin sehr glücklich, dass der treue Schreibtisch meines Mannes, Oskar Maria Graf, eine so schöne Heimat gefunden hat.

Gisela Graf, 1984

Der Schreibtisch als Erinnerungsort

Beim Nachdenken über die beiden Schriftsteller, deren Schreibtische die Ausstellung zum literarischen München vor gut hundert Jahren umrahmen, ploppen drei Fragen auf:  

  • Wo befindet sich der Schreibtisch des in Lübeck geborenen Schriftstellers, dem München zur Heimat wurde und der sogar Teil des Ausstellungstitels ist?
  • Wo schrieben die Frauen der Münchner Boheme? Besaßen Erika Mann, Franziska zu Reventlow oder Emmy Hennings eigene Schreibtische?
  • Wo schreiben Münchner Autor*innen heute, im digitalen Zeitalter?

Die erste Frage ist rasch recherchiert: Thomas Mann (1875–1955) erwarb Ende der 1920er-Jahre über die Münchner Antiquitätenhandlung Bernheimer einen Schreibtisch, der ihn durchs gesamte Exil begleiten sollte. Seit März 2023 bildet das noble Mahagoni-Möbel das Zentrum der Dauerausstellung Im Schreiben eingerichtet des Thomas-Mann-Archivs der ETH Zürich.2

Arbeitszimmer mit Regalen und Büchern mit Schreibtisch und Stuhl, Thomas Mann, Kilchberg. #LiterarischesMünchen
Nachbildung des letzten Arbeitszimmers von Thomas Mann in Kilchberg im Thomas-Mann-Archiv. ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Frank Blaser / TMA_D-00035.

Thomas Manns Schreibtisch: Ein Möbelstück auf Reisen  

Sein Schreibtisch war für Mann geradezu (über-)lebensnotwendig, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Inge Jens:

An fremden Orten war es ihm noch nie gelungen, Dauerhaftes zu Papier zu bringen. Er brauchte seinen festen Platz und die gewohnte Ordnung, um schreiben zu können: den eigenen Schreibtisch – samt den vertrauten Utensilien, die ihm das Gefühl von Sicherheit und Kontinuität vermittelten. […] Undenkbar, dass Thomas Mann an Café-Tischchen oder Sekretären seiner teuren Hotels seine Romane hätte entscheidend fördern können.3

Dass ihm der Schreibtisch aus NS-Deutschland ins Schweizer Exil folgte, erfüllte Mann mit Hoffnung, wie er 1933 in einem Brief an René Schickele bekundet:

[…] und morgen werde ich tatsächlich wieder an meinem Schreibtisch sitzen. Ich hätte es nicht gedacht, daß er den Weg finden werde. Da er es getan, bin ich nicht weit davon, zu glauben, daß er ihn auch wieder zurückfindet – eines Tages.4

Es sollte fast 20 Jahre dauern, bis der Tisch nach Stationen in Princeton und Pacific Palisades 1952 wie Mann in die Schweiz zurückkehrte – nie mehr nach Deutschland oder gar München.

Schreiben im digitalen Zeitalter: Wo arbeiten Münchner Autor*innen heute?

Wo und vor allem wie Schreibende zu Beginn des digitalen Zeitalters ihre Gedanken zu Papier brachten, zeigte die Monacensia 2004 in der Ausstellung «Dichter Hand Schrift».5 Thomas Palzer machte dafür Inventur:

Das Fenster blickt auf die Isar. Im rechten Winkel dazu: Zwei Arbeitsplatten, zusammengeschoben. Mein Schreibtisch (trägt meine Handschrift): Ein Abreißblock vom SWR. Bleistift von Faber-Castell, HB. Bleistift von Staedtler-Noris, HB. Roller Pen von Faber-Castell, Tinte blau. Buntstift blau. Pelikan Füller, vielleicht 50er Jahre, eingraviertes ,F‘, Tinte rot (auf irgendeinem Flohmarkt gekauft). Parker Duofold Füller, Tinte blau. Palm. Powerbook. Filofax. Spechermedien wie Zip- und Diskettenlaufwerk. Wechselplatte von LaCie. Drucker.6

Seine alte Arbeitsplatte hat Palzer der Monacensia überlassen, notiert Kuratorin Marietta Piepenbrock:

Im Treppenhaus lehnt eine Art Marterholz, 70 cm x 120 cm, Buche stabverleimt. Die Oberfläche zeigt den Grundriss angestrengten Denkens. Rechts neben den Konturlinien des Computers eine graue, fleckige Kumulus-Wolke aus Asche und Schweiß. Auch wenn der Autor tippt und klickt: Schreiben bleibt Handarbeit.7

Abbildung aus einem Buch mit Manuskript und Arbeitsplatte von Thomas Palzer, #LiterarischeMünchen
Rechts: Abbildung von Thomas Palzers Arbeitsplatte 1995–2003 in Dichter Hand Schrift, S. 153. Foto: Tina Rausch. #LiterarischesMünchen

Im Begleitbuch zur Ausstellung bilden Männer die Mehrheit. 28 Autorenporträts stehen gerade mal neun von Autorinnen gegenüber, darunter Kerstin Specht, Asta Scheib, Gunna Wendt und Dagmar Leupold und Keto von Waberer. Das wäre heute anders. So schließe ich mit einer unrepräsentativen Stichprobe bei zwei Münchner Autorinnen der jüngeren Generation.

Schreibtische von Autorinnen: Kreativität zwischen Küchentisch und Geheimfach

Fabienne Imlinger ist in ihrer ersten Literarischen Erkundung der Monacensia fürs Literaturportal Bayern fasziniert von Grafs ordentlichem Schreibtisch und präsentiert schuldbewusst ihren eigenen:

Mein Schreibtisch sieht nämlich meistens so aus, als würde ich niemals auch nur eine Sekunde an meinen Tod denken.

unordentlicher Schreibtisch von Fabienne Imlinger, LiterarischesMünchen
Fabienne Imlingers Schreibtisch außer Dienst. Foto: Fabienne Imlinger. #LiterarischesMünchen

Sie schreibe eher selten an ihm, da sie lieber außer Haus arbeitet, sagt Imlinger im Gespräch. In der Corona-Zeit habe er ihr aber unschätzbare Dienste geleistet, und sie habe Teile ihres mit dem Münchner Literaturstipendium 2021 geförderten Roman-Manuskripts daran geschrieben. Der Schreibtisch ist das Schreiner-Gesellenstück ihres Schwiegervaters und ein Erbstück – mit einem Unterbau voller Schubladen. Ohne Geheimfach.

Anna Job ist Teil des Künstler*innen Kollektivs turtle magazin(e). Ende 2023 postete sie auf Instagram «serious Fotos», die sie an einem überladenen Tisch sitzend zeigen. Auf meine Nachfrage bezeichnet sie sich als «Schreibtisch-Nomadin» mit gleich drei Optionen. An dem kleinen Küchentisch ist ihr im Frühjahr 2024 beim Kunstanstifter Verlag erschienenes Debüt «Salzige Milch» entstanden. «Meist nachts, nahe der Kaffeemaschine.»

Frau Kaffee trinkend am Schreibtisch mit Büchern, Laptop und in Küche
Hauptsache, die Kaffeemaschine ist in der Nähe: Anna Job an ihrem Küchen(schreib)tisch. Foto: Priscillia Grubo @priscilliagrubo. #LiterarischesMünchen

Einen Couchtisch unterm Dach nutzt Job auf dem Boden sitzend fürs kreative Schreiben, «keine Finanz/Orga oder so was Nerviges». Und den von ihrem Mann für sie gebauten Schreibtisch darf zurzeit vor allem er nutzen, da dieser in einem Zimmer mit Tür steht. Der Tisch hat eine kleine Schublade – Jobs Geheimfach befindet sich im Kleiderschrank. «Geheimfächer wandern bei uns mit der Reichweite der Kinder, also immer höher.» Personal hat die vierköpfige Familie keines.

PS: Der noch offenen großen zweiten Frage gehe ich in weiteren Blogbeiträgen nach..

Lesetipps:

  1. Nach dem Wortlaut der zweiten Auflage (1903). Quelle: www.projekt-gutenberg.org/wedekind/erdgeist/erdgst26.html ↩︎
  2. Das Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich ist Teil des Netzwerks Thomas Mann International, zu dem fünf Häuser aus vier Ländern gehören, darunter auch die Monacensia im Hildebrandhaus. Mehr Infos unter www.thomasmanninternational.com  ↩︎
  3. Inge Jens, Am Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt, Rowohlt 2013, Quelle: www.book2look.com/book/9783644034716 ↩︎
  4. Thomas Mann, Brief an René Schickele, 24. November 1933, Quelle: www.kuenste-im-exil.de/KIE/Content/DE/Objekte/mann-thomas-schreibtisch.html?single=1 ↩︎
  5. Das von der damaligen Monacensia-Leiterin Elisabeth Tworek und Kuratorin Marietta Piepenbrock herausgegebene Begleitbuch ist 2004 beim Blumenbar Verlag erschienen. Es kann in der Münchner Stadtbibliothek ausgeliehen werden und ist antiquarisch erhältlich. ↩︎
  6. Ebd., S. 56. ↩︎
  7. Ebd., S. 94. ↩︎

Autor*innen-Info

Profilbild Tina Rausch

Dies ist ein Gastbeitrag von Tina Rausch

Tina Rausch, 1970 in München geboren, studierte Neuere Deutsche Literatur und Erziehungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität. Ihre interdisziplinäre Magisterarbeit schrieb sie über die pädagogische Rezeption der bildungskritischen Schülerromane um die Jahrhundertwende am besonderen Beispiel von Thomas Manns „Buddenbrooks“ und Robert Musils „Törleß“. Seit ihrem Abschluss ist sie als freie Redakteurin, Lektorin und Literaturvermittlerin tätig. Sie schreibt für verschiedene Medien, organisiert und moderiert Veranstaltungen, erstellt Unterrichtsmaterialien und publizierte mit Ulrich Kirstein die „Allgemeinbildung deutsche Literatur für Dummies“ (Wiley-VCH). Die von ihr konzipierten und geleiteten literarischen Workshops und Fortbildungen für Jugendliche und Erwachsene fokussieren unter anderem Schnittstellen zur Kunst sowie verschiedene Präsentationsformen. www.tina-rausch.de

Foto: © privat

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