„Wie schön ist’s hier!“ – Der Salon Bruckmann

Frau rückwärts stehend am Tisch um 1900 in historischer Gewandung.

Der Salon Bruckmann entwickelte sich während der „Münchner Moderne“ zum Treffpunkt der „guten Gesellschaft“. Hier traf sich eine bunte Mischung von Kritikern und Neuerern der wilhelminischen Gesellschaft: Man glaubte an die Moderne und die zivilisierende Kraft der Ästhetik. Man war fasziniert von Édouard Manet und dem Designer Henry van de Velde, begeisterte sich aber auch für den Wagner-Adepten Houston Stewart Chamberlain, der seine Ansichten über die ‚Judenfrage‘ im Salon vorstellte – ein Beitrag von Wolfgang Martynkewicz zur Dauerausstellung „Maria Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa“.

Der Salon Bruckmann und seine Gäste

Bei Bruckmanns gefrühstückt. Nachmittags nach London ab

Das notiert Harry Graf Kessler am 17. Februar 1904 in sein Tagebuch.1 Der umtriebige Kunstsammler, Schriftsteller und Diplomat gehörte um 1900 zu den zahlreichen Persönlichkeiten, die bei Hugo und Elsa Bruckmann ein und aus gingen. Wann immer Kessler nach München kam, machte er dem Ehepaar seine Aufwartung. Mit dem Verleger Hugo Bruckmann besprach er Buchprojekte und diskutierte über moderne Kunst. Hin und wieder besuchte Kessler auch die Salonabende, zu denen Elsa Bruckmann lud. Es waren die Jahre des ästhetischen Aufbruchs, die Jahre der „Münchner Moderne“, in denen die Stadt in Kunst und Literatur eine Vorreiterrolle spielte.

Kessler wurde umworben, vor allem von Elsa Bruckmann, die den Grafen schon im April 1896 in Berlin kennengelernt hatte. Er zählte nicht zu den Intimen, zu den Habitués des Salons, sondern zu den Durchreisenden, die ab und an vorbeischauten, von neuen Projekten und interessanten Persönlichkeiten erzählten. Zu den Durchreisenden gehörte zunächst auch der Kulturphilosoph Rudolf Kassner. Anders als Kessler wurde dieser über die Jahre zum engen Freund der Bruckmanns, seine Auftritte im Salon waren legendär. Mit großer Vitalität erzählte Kassner von seinen weiten Reisen, die er trotz einer körperlichen Einschränkung unternahm. Geselligkeit war sein Element, zugleich war er ein tiefer Denker, der hermetische Texte schrieb. Sein 1900 erschienenes Erstlingswerk „Die Mystik, die Künstler und das Leben“ war schwer verdauliche Kost und wurde im Salon kontrovers diskutiert.

Zu den prominenten Gästen gehörte auch der mit Kassner eng befreundete Hermann Graf Keyserling, der später, 1920, in Darmstadt die „Schule der Weisheit“ gründete. Um 1900 saß er noch an seiner Habilitation, die er mit Hugo Bruckmann diskutierte. 1906 erschien sie in dessen Verlag unter dem Titel „Das Gefüge der Welt“. Keyserling wiederum machte im Dezember 1901 Kassner mit Hugo von Hofmannsthal bekannt – und dieser wurde eine der prägenden Persönlichkeiten im Umkreis des Salons. Elsa Bruckmann hatte Hofmannsthal bereits im November 1893 in Wien kennengelernt und ihrem damaligen Verlobten Hugo Bruckmann von dem jungen Dichtergenie vorgeschwärmt. Hofmannsthal blieb bis Anfang der 1920er-Jahre eng mit den Bruckmanns verbunden. Dann brach die Beziehung ab, nach dem Krieg hatte man sich auseinandergelebt.

Der Salon war offen für unterschiedliche Charaktere und Temperamente, offen für Originale – er war ein durchaus heterogener Zusammenhang. Zu dem Jour fixe kamen:

  • Karl und Hanna Wolfskehl,
  • der Ästhet und Literat Alfred Walter Heymel,
  • der Schriftsteller und Politiker Walther Rathenau und
  • der Historiker Friedrich Gundolf aus dem George-Kreis.

Ab September 1910 verkehrte Rainer Maria Rilke im Salon. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss, vor allem auf Elsa Bruckmann, übte der Philosoph Ludwig Klages aus. In einer zunehmend unübersichtlicheren Welt bot er mit seinen grafologischen und charakterkundlichen Vorträgen begehrtes Orientierungswissen.

Houston Stewart Chamberlain – Antisemitismus und ‚Rassebewusstsein‘

Viele dieser Gäste verstanden sich um 1900 als „unzeitgemäße Geister“, die mit ihren Theorien nach einer Bleibe suchten. Von zentraler Bedeutung war dabei Houston Stewart Chamberlain. Ein englisch-deutscher Schriftsteller und Privatgelehrter, hochgebildet, polyglott, aufgewachsen und sozialisiert in Frankreich und England, von einem deutschen Hauslehrer erzogen – ein Weltbürger. Chamberlain hatte sich mit populärwissenschaftlichen Werken international einen Namen gemacht und war eng verbunden mit dem Bayreuther Wahnfried-Zirkel um Cosima Wagner. 1899 erschien im Bruckmann Verlag sein Hauptwerk: „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“. Das voluminöse Buch wurde zum Bestseller.

Beifällig aufgenommen wurde vor allem Chamberlains Behandlung der Juden und Jüdinnen, die er als „fremdes Element“2 in der abendländischen Geschichte identifizierte. Durch Assimilation hätten sie in allen relevanten Bereichen eine führende Position in der Gesellschaft erreicht, die ihnen nicht zustehe. In Wirklichkeit seien Juden und Jüdinnen der germanischen Rasse unterlegen. Chamberlain brachte seinen Leser*innen, die sich um 1900 von Dekadenz und Niedergang umgeben sahen, eine frohe Botschaft: die Idee von der Superiorität der germanischen Rasse. Sie wurde gerade von den bildungsbürgerlichen Schichten begierig aufgenommen und bestärkte sie in dem Glauben an ihre kulturelle Mission. „Rasse“, so Chamberlain, „hebt eben einen Menschen über sich selbst hinaus, sie verleiht ihm ausserordentliche, fast möchte ich sagen übernatürliche Fähigkeiten.“3

Chamberlains Denken war in die Zukunft gerichtet, er wollte den Aufstieg einer neuen Kultur im Zeichen eines arischen Rassebewusstseins befördern. Das Gefühl der Superiorität wirkte wie ein Weckruf – auch und nicht zuletzt auf die Gäste des Salons Bruckmann.

Der Salon Bruckmann – Gegenöffentlichkeit zur wilhelminischen Gesellschaft

Der Salon war eine Einrichtung der sogenannten „guten Gesellschaft“,4 die Bruckmanns zählten dazu. Und wie schon der berühmte Salon der Marquise de Rambouillet um 1620, der sich mit seiner Preziösenkultur gegen die vulgären Sitten am französischen Hof abgrenzte, begriff man sich auch im Münchner Bruckmann-Salon als eine Art Gegenöffentlichkeit zur wilhelminischen Gesellschaft mit ihrer auf Pomp und Theatralik ausgerichteten Kultur.

Man glaubte an die geistige Welt und fühlte sich den Werten von Kunst und Literatur verpflichtet, aus denen sich die Gesellschaft erneuern sollte. Auch im Salon Bruckmann war die Geselligkeit, das Beisammensein, ein wesentliches Movens. Aber es gab doch Unterschiede zu den anderen literarischen Salons dieser Zeit. In der Geselligkeit, so hat es der Soziologe Georg Simmel ausgedrückt, ist das Reden ein „legitimer Selbstzweck“.5 Man unterhält sich, von allen Inhalten befreit, es geht um nichts als um „die Befriedigtheit dieses Momentes“.6 Die Geselligkeit kennt keine sachlichen Zwecke, sie hat keinen Inhalt und kein Resultat, wird eine „Diskussion sachlich“ oder im zu starken Maße persönlich, so Simmel, „ist sie nicht mehr gesellig“7.

Im Salon Bruckmann sah man das anders. Sachliche Zwecke waren der hier gepflegten Geselligkeit nicht fremd. Das lag auch daran, dass der Geburtsort des Salons der Verlag war. Der 1858 in Frankfurt am Main von Friedrich Bruckmann gegründete Verlag für Kunst und Wissenschaft entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einem bedeutenden Kunstverlag, bekannt vor allem für seine hochwertigen Bildreproduktionen. 1889 übernahmen die Söhne Alphons und Hugo die Verlagsleitung. Als der Vater 1898 starb, war der Verlag auf Expansionskurs: Man bezog ein repräsentatives Verlagsgebäude in der Nymphenburger Straße 86, rief die Kunstzeitschrift „Dekorative Kunst“ ins Leben, die zeitweise in deutscher und französischer Sprache erschien, ein Jahr später folgte „Die Kunst“.

Die Salonnière: Elsa Bruckmann

In diese Zeit fällt auch die Heirat Hugo und Elsa Bruckmanns im November 1898. Kurz darauf, im Januar 1899, lud das Verlegerehepaar zum ersten Salonabend. Möglicherweise war Elsa Bruckmann hier die treibende Kraft. Sie schrieb 1896 in einem Brief an ihren Verlobten, dass sie sich etwas Eigenes aufbauen und nicht von der Gnade der Verwandten abhängig sein wolle. Vielleicht war dieses Eigene der Salon.  

Elsa Bruckmann war eine selbstbewusste und kämpferische Frau mit Ambitionen. Obgleich von adliger Abkunft, war sie alles andere als vermögend: Am 23. Februar 1865 wurde sie als Prinzessin Cantacuzène in Gmunden-Traundorf als älteste Tochter des Theodor Fürst Cantacuzène und der Caroline Gräfin Deym von Střitež geboren. Sie entstammte der russisch-bayerischen Linie eines griechisch-byzantinischen Adelsgeschlechts.

Auszug aus Buch: Frau rückwärts stehend im Zimmer in historischer Gewandung um 1900
Elsa Bruckmann, um 1900. © Bayerische Staatsbibliothek München, Bruckmanniana Supplement

Auf ihre adelige Abkunft wies sie mit Stolz hin, doch der materielle Hintergrund der Familie war prekär. Elsa besuchte öffentliche Schulen; Privatunterricht konnte man sich nicht leisten. Zur Abrundung ihrer Bildung schickte man sie für zwei Jahre auf eine Höhere Schule für Mädchen nach Genf. Nach einem Aufenthalt in London trat sie 1893 eine Stelle als Gesellschaftsdame in München bei der Baronin Franziska de Worms an, einer geborenen Todesco. Aus den Briefen an ihren Verlobten geht hervor, dass sie diese „überfeinerten“ Menschen doch mit einiger Reserve betrachtete, sie hielt das Ethos der Arbeit hoch. Auch in der geistigen Welt wollte sie sich etablieren, versuchte sich an Übersetzungen, verfasste Gedichte und Prosa.    

Hedwig Pringsheim schreibt im Dezember 1908 an Maximilian Harden über Elsa Bruckmann:

Sie ist überhaupt eine ganz arme Prinzessin gewesen, war Gesellschafterin bei der Baronin Worms und mußte mir die Gummischuhe anziehen.“8

Man mochte sich nicht. Die „gute Gesellschaft“ war alles andere als homogen. Es galt, „feine Unterschiede“ zu beachten: Die Bruckmanns waren Kaufleute, die ihr Geld mit Geschäften machten. Die Pringsheims waren dem kapitalistischen Streben nach Profit enthoben: Hedwig Pringsheim residierte mit ihrem Mann, dem vermögenden Mathematikprofessor und Kunstmäzen Alfred Pringsheim, in der Nachbarschaft der Bruckmanns, in der Arcisstraße, in einem pompösen Stadtpalais, in dem sich die Hautevolee zum geselligen Gespräch traf. Der gesellschaftliche Abstand zu den Bruckmanns war beträchtlich. Doch das war nicht ausschlaggebend für die Aversionen.

Salons konkurrieren über ästhetische Einstellungen, über Geschmack, der vereint und sich gegen den Geschmack der anderen abgrenzt.9 Es war Aufgabe der Salonnière den Geschmack zu definieren. Ein wesentliches Mittel dazu war die Auswahl der Gäste, sie mussten zueinanderpassen. Elsa Bruckmann wurde in dieser Hinsicht ein besonderes Geschick nachgesagt. Der Schriftsteller Oscar A. H. Schmitz schreibt:

In dem Hause Hugo Bruckmann besaß die Gastgeberin, eine geborene Prinzessin Cantacuzène, die bei uns so überaus seltene Gabe, nicht nur Leute einzuladen und zu füttern, sondern aus ihnen Gesellschaft zu bilden.10

Schon ihre Einladung zum ersten Salonabend am 26. Januar 1899 zeugte von dieser „seltenen Gabe“.

Anwesend waren Mitglieder der Familie:

  • Marie von Hellingrath,
  • Alphons Bruckmann,
  • Eugenie und Alfred Schaeuffelen,

sowie Freunde und Bekannte:

  • der Maler Eugen Kirchner,
  • der Bildhauer Adolf von Hildebrand mit seiner Frau Irene,
  • der Dirigent Hermann Levi.

Der „Star“ des Abends aber war besagter Houston Stewart Chamberlain. Mit seiner Frau Anna aus Wien angereist, stellt er sein soeben erschienenes Buch „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ vor. Dieser „Event“ sollte als Startschuss den Erfolg des Buches einleiten. Mit Chamberlain bereiteten die Bruckmanns einem Autor die Bühne, der mit seinen rassistischen und antisemitischen Ideen in der „guten Gesellschaft“ angekommen war und dort Erfolge feierte.

Elsa Bruckmann berichtet in ihrem Tagebuch von einer lebhaften Auseinandersetzung zwischen Adolf von Hildebrand und Chamberlain, in die sich Hermann Levi einschaltete und auf Chamberlains Seite stellte. Worum sich der Streit genau drehte, ist nicht überliefert. Dass es zu einer Diskussion kam und Chamberlain mit seinen Thesen an diesem Abend nicht ins Leere lief, wird dem Gastgeberpaar sicher nicht unlieb gewesen sein.

Chamberlain, das sollte man bedenken, galt damals als respektabler Forscher und seriöser Publizist. Die Liste seiner Bewunderer ist lang und voller respektabler Namen:

  • Kaiser Wilhelm II.,
  • Winston Churchill,
  • D.H. Lawrence,
  • George Bernhard Shaw,
  • Albert Schweitzer.

Bemerkenswerterweise – und auch das zeigte sich schon am ersten Salonabend mit Levi und Hildebrand – standen auch jüdische Personen mit Chamberlain im Austausch und brachten ihm zuweilen große Sympathien entgegen, darunter: Karl Kraus, Walther Rathenau, Maximilian Harden, Otto Weininger, Martin Buber.

Chamberlain und Hitler – zwei Spielarten des Rassismus

Starre Frontenbildungen, wie man sie heute kennt, gab es damals nicht oder doch nicht in dieser Art. So konnte Elsa Bruckmann den Juden Wolfskehl und den Antisemiten Klages einladen – dass sich die beiden langjährigen Freunde und Strategen der Münchner Kosmiker irgendwann nicht mehr sehen mochten, hatte in erster Linie persönliche Gründe. Bevor das Ungeheuerliche eintrat (der Holocaust), hatte Antisemitismus noch eine andere Dimension und Bedeutung. Die Linie verläuft darum nicht geradlinig von Chamberlain zu Hitler.

Chamberlain ging es um die vermeintlich „jüdische Frage“, um ideologische Macht. So groß sein Anteil an der Hervorbringung des „Bösen“ war, von ethnischen Säuberungen ist nicht die Rede. Hitler erkannte in Chamberlain einen „Vorkämpfer“, der vieles gesehen hat, aber aus seinem Wissen keine Konsequenzen gezogen hat. Da liegen die wesentlichen Unterschiede. Wie sich denn auch am Salon Bruckmann zeigt, sind die Bewunderer Chamberlains in der Regel nicht zu Bewunderern Hitlers geworden.

Freilich gibt es Ausnahmen, und zu diesen gehören Elsa und Hugo Bruckmann. Als Hitler am 3. Februar 1921 im Circus Krone bei seiner ersten Massenveranstaltung vor über 6000 Menschen über „Zukunft oder Untergang“ redete, war Elsa Bruckmann dabei. Hitler inszenierte sich als Volkstribun und entfesselter Redner, der die Massen elektrisierte. Elsa Bruckmann ließ sich mitreißen, sie kam immer wieder zu den Veranstaltungen im Circus Krone. Nach der Schmach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg wirkten Hitlers Reden auf sie wie eine Frischzellenkur.

Dem Historiker Karl Alexander Müller zufolge, ein Freund der Bruckmanns und Habitué des Salons, habe die „Stimme Adolf Hitlers“ Elsa Bruckmann wieder „aufgerichtet“.11 Hugo Bruckmann nahm nicht an solchen Veranstaltungen teil. Wie aus Notizen hervorgeht, fürchtete er um den Ruf des Verlags. Erst spät zeigte er Flagge: 1930 wurde er Mitglied des „Kampfbundes für deutsche Kultur“, ab 1932 saß er als Abgeordneter der NSDAP im Deutschen Reichstag.

Im Mai 1924 begegnete Elsa Bruckmann Hitler erstmals persönlich: in der Festung Landsberg am Lech. Nach dem gescheiterten Putschversuch vom November 1923 wurde er dort interniert und am 1. April 1924 wegen Hochverrats zu einer fünfjährigen Festungshaftstrafe verurteilt. Elsa Bruckmann schrieb über ihren Besuch im März 1933 den Bericht „Meine erste Fahrt zum Führer!“. Ein pathetischer Rückblick, eine Huldigung an den Führer.

Mindestens noch einmal ist Elsa Bruckmann nach Landsberg gefahren, am 27. August. Bereits am 20. Dezember wurde Hitler vorzeitig entlassen. Schon drei Tage später besuchte er die Bruckmanns am Karolinenplatz. Am 14. Januar 1933, zwei Wochen vor der Machtübertragung an Hitler, erinnert sich Elsa Bruckmann an diesen für sie denkwürdigen Besuch. Als er den Salon und das bürgerliche Ambiente sah, soll er gesagt haben: „wie schön ist’s hier!“12

Hitler kam nun des Öfteren in den Salon am Karolinenplatz, hier wurde ihm eine Bühne geboten. Folgt man den Berichten der Gäste, dann verlief die Geselligkeit stets nach demselben Muster. Hitler, so erinnert sich Paul Schultze-Naumburg, sei der alles beherrschende Hauptdarsteller gewesen, er habe zunächst das Gespräch verfolgt, „dann habe er plötzlich das Wort ergriffen, um es den ganzen Abend nicht wieder herzugeben“.13 Die „gute Gesellschaft“, oder das, was von ihr nach dem Ersten Weltkrieg übriggeblieben war, ließ sich vorführen und das Heft des Handelns aus der Hand nehmen. Mit den Monologen Hitlers führte sich der Salon mit seinen Prinzipien von Geselligkeit und Austausch selbst ad absurdum.   

Die Bruckmanns hielten bis an ihr Lebensende unverdrossen an Hitler fest, sie hatten die Seiten gewechselt, vom ‚traditionellen‘ Rassismus des Bürgertums zum totalitären Rassismus der Nazis. Wie wir vor allem durch ihre Korrespondenz wissen, waren sie schon früh von antisemitischen Ressentiments erfüllt und glaubten an die Überlegenheit der arischen Rasse. Zur Erklärung ihrer Sympathien für Hitler reicht das freilich nicht aus, es kam etwas hinzu: der Hass auf die geistige Welt, auf die zaudernden intellektuellen Eliten, zu denen sie selbst gehörten und von denen sie sich enttäuscht abkehrten. Es war Selbsthass, der ihren Weg von Chamberlain zu Hitler markierte.

Festzuhalten bleibt: Rassismus und Antisemitismus, den es auch ohne Hitler gab und gibt, spielten von Anfang an im Salon Bruckmann eine bedeutende Rolle. Chamberlains Thesen wurden von der geistigen Welt beifällig aufgenommen oder galten doch zumindest als interessant und diskussionswürdig.

Anders als Chamberlain wollte Hitler aber nicht diskutieren, schon gar nicht mit den bildungsbürgerlichen Eliten, er forderte Gefolgschaft – das wiederum gefiel nicht allen aus der „diskutierenden Klasse“ (Carl Schmitt).

  1. Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Dritter Band 1897–1905. Hg. von Carina Schäfer u. Gabriele Biedermann. Unter Mitarbeit von Elea Rüstig u. Tina Schumacher. Stuttgart 2004, S. 659. ↩︎
  2. Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. 1. Hälfte. München 1909, S. 389. ↩︎
  3. Ebd., S. 320. ↩︎
  4. Vgl. dazu: Horst Turk: Diotimas Salon. In: Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons. Hg. von Roberto Simanowski, Horst Turk u. Thomas Schmidt. Göttingen 1999, S. 283. ↩︎
  5. Georg Simmel: Soziologie der Geselligkeit. Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Tübingen 1911, S. 12. ↩︎
  6. Ebd., S. 4. ↩︎
  7. Ebd., S. 11. ↩︎
  8. Hedwig Pringsheim: Meine Manns. Briefe an Maximilian Harden 1900–1922. Hg. von Helga u. Manfred Neumann. Berlin 2006, S. 90. ↩︎
  9. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt a. M. 1982, S. 104 f. ↩︎
  10. Oscar A. H. Schmitz: Dämon Welt. Jahre der Entwicklung. München 1926, S. 319. ↩︎
  11. Karl Alexander Müller zit. n. Wolfgang Martynkewicz: Salon Deutschland. Geist und Macht 1900–1945. Berlin 2009, S. 382. ↩︎
  12. Elsa Bruckmann: Zwei Episoden, Blatt 1, Bruckmanniana, Bayerische Staatsbibliothek in München. ↩︎
  13. Martynkewicz: Salon Deutschland, a.a.O., S. 412. ↩︎

Förderung

Mit freundlicher Unterstützung durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München Abt. 4 Public History.

Autor*innen-Info

Profilbild Gastautor*in

Dies ist ein Gastbeitrag von Wolfgang Martynkewicz

Wolfgang Martynkewicz ist freier Autor und Dozent für Literaturwissenschaft; zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und zur Geschichte der Psychoanalyse, u. a. „Salon Deutschland. Geist und Macht 1900–1945“. Zuletzt erschien sein Buch „Amerika erzählen“.

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