Wie nutzte die Frauenbewegung die Presse und Kongresse zur „Frauen-Frage“? Welche Aktivistinnen äußerten sich wie zu Sexualität und Sittlichkeit? Und wie beteiligten sich der Abolitionismus und andere frauenbewegte Zusammenschlüsse an diesen Diskussionen? Mette Bartels vom AddF gibt für das Online-Magazin mon_boheme einen Überblick über das Presse- und Kongresswesen und seine Vermittlungsfunktionen für frauenbewegte Öffentlichkeiten.
Presse der Frauenbewegung
Die Presse der Frauenbewegung war eines der zentralen Artikulationsmittel und diente den Aktivistinnen der Frauenbewegung als wichtige Austauschplattform. Nach ersten Vorläufern während der Revolution 1848/49 begann mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF) 1865 die Zeit des organisierten frauenbewegten Pressewesens. Um 1900 erschienen zahlreiche Periodika unter frauenbewegter Ägide. Sie hatten die Aufgabe, Informations- und Aufklärungsarbeit zu leisten und Raum für Diskussion und Austausch zu bieten.[1]
Parallel zu den großen Verbandsorganen (Neue Bahnen, Die Frauenbewegung, Centralblatt Bund Deutscher Frauenvereine) existierten weitere (Vereins-)Zeitschriften, die meist thematisch ausgerichtet waren. Neben weiblicher Bildung und Berufstätigkeit sowie politischer Partizipation und Frauenstimmrecht war dies der Bereich Sexualität und Sittlichkeit. Verhandelt wurden Themen wie:
- Prostitution
- Ehe
- freie Liebe
- Mutterschutz
- weibliche Gesundheit
- die Debatte um den § 218 (Schwangerschaftsabbruch)
Frauenbewegte Aktivistinnen schrieben analog zu Zeitschriftenartikeln auch Bücher und Broschüren. In diesem Zusammenhang kristallisierten sich Expertinnenkreise heraus, d. h., es gab Frauen, die sich dezidiert mit bestimmten Themen auseinandersetzten und Kennerinnen der Materie waren.
Sexualität und Sittlichkeit: Abolitionismus und Frauenrechtlerinnen
Eine wichtige Expertin für Sexualität und Sittlichkeit war Anna Pappritz. Sie befasste sich intensiv mit der Prostitutionsfrage. Im Zentrum dieser Debatte stand der Umgang mit staatlichen Reglementierungspraktiken wie:
- gynäkologische Zwangsuntersuchungen
- Einschränkung von Freiheitsrechten
- Registrierung in Dirnenlisten
Prostituierte waren diesen Praktiken ausgesetzt, während ihre männlichen Kunden davon verschont blieben. Diese Doppelmoral wurde insbesondere von den sogenannten AbolitionistInnen angeprangert.[2] Der auf die britische Frauenrechtlerin Josephine Butler zurückgehende Abolitionismus fand auch in der deutschen Frauenbewegung Anklang: 1899 wurden in Berlin und Hamburg die ersten abolitionistischen Zweigvereine gegründet und deren Ideen in den Grundsatzkanon des Bundes deutscher Frauenvereine (BDF) aufgenommen.[3]
Publikationsorgan der Bewegung war die 1902 von Katharina Scheven gegründete Zeitschrift Der Abolitionist. Aufgrund des vergleichsweise geringen Bezugspreises von 1,50 Mark für ein Jahresabonnement[4] lässt sich vermuten, dass die Zeitschrift nicht nur innerhalb der Frauenbewegung zirkulierte. Vielmehr ist wahrscheinlich, dass die Prostituierten selbst, die überwiegend den unteren Gesellschaftsschichten entstammten, angesprochen werden sollten. Darüber hinaus erschienen zahlreiche Schriften, die sich mit dem Thema befassten, darunter
- Anna Pappritzʼ satirische Abhandlung Herrenmoral oder auch
- Katharina Schevens „Denkschrift über das deutsche Bordellwesen“.[5]
Die frauenbewegten Aktivistinnen publizierten jedoch nicht nur in ihrer eigenen Presselandschaft. So existierten Kommunikationsnetze mit anderen Zusammenschlüssen, unter anderem mit der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (DGBG), die der Frauenbewegung in ihren Periodika Raum zur Mitsprache bot.[7]
Kongresse und Versammlungen – Stimmen der Frauenbewegung
Neben dem Pressewesen stellten Kongresse und Versammlungen eine weitere Interaktionsform der Frauenrechtlerinnen dar. Hier zeigt sich, dass die Stimmen der Frauenbewegung nicht ungehört blieben und wie eng die frauenbewegten Netzwerke geknüpft waren. So fanden regelmäßig in verschiedenen europäischen Städten die Kongresse der Internationalen Abolitionistischen Föderation statt. Zu den Rednerinnen gehörten beispielsweise Minna Cauer, Käthe Schirmacher, Marie Lang, Katharina Scheven und Marie Stritt. Über die Inhalte der Kongresse wurde wiederum in der frauenbewegten Presse berichtet.[8]
In ähnlicher Weise wurde die Zusammenarbeit mit der DGBG gepflegt, indem Vertreterinnen der Frauenbewegung auf deren öffentlichen Kongressen auftraten.[9] Eng mit der Thematik der Prostitution verbunden war der Kampf gegen den internationalen Mädchenhandel, dem sich das Deutsche Nationalkomitee ab 1899 verschrieb. Mitglied des Komitees war die Vorsitzende des Deutsch-Evangelischen Frauenbunds (DEF), Paula Müller-Otfried, die in dessen Namen regelmäßig an Kongressen zur Bekämpfung des Mädchenhandels teilnahm.[10]
1904 fand in Berlin unter der Schirmherrschaft der deutschen Frauenbewegung mit dem dritten Treffen des International Council of Women (ICW) ein wichtiges Ereignis statt. Mehrere Hundert Delegierte aus sechzehn Mitgliedsländern trafen sich, um in verschiedenen Sektionen über die „Frauen-Frage“ zu diskutieren.[11] In der Sektion „Bestrebungen zur Hebung der Sittlichkeit“ tauschten sich die Frauenrechtlerinnen und ihre männliche Unterstützer über Prostitution, Mädchenhandel, Rechtsverhältnisse und Schutzmaßnahmen aus.[12]
Die Presse der Frauenbewegung sowie die Versammlungen und Kongresse, an denen die Frauenrechtlerinnen sowohl als Delegierte als auch als Gastgeberinnen teilnahmen, waren wichtige Kommunikationsmöglichkeiten mit bedeutenden Vermittlungsfunktionen. Dabei wirkten die frauenbewegten Medien grundlegend in die Bewegung hinein und aus ihr heraus: Sie dienten
- dem internen Austausch,
- der Mobilisierung und Rekrutierung
und beteiligten sich an aktuellen politischen, gesellschaftlichen und sozialen Diskussionen.
Zudem wirkten sie als Sprachrohr der Bewegung und boten Frauen die Möglichkeit, sich öffentlich zu artikulieren und Einfluss zu nehmen. Diese Rezeption erzeugte Gegenöffentlichkeiten, die wiederum dazu beitrugen, dass frauenbewegte Themen nicht nur in den eigenen Reihen, sondern auch im öffentlichen Diskurs Gehör fanden.
Autorin: Mette Bartels
Literaturempfehlungen:
- Barbara Duttenhöfer, Das Geschlecht der Öffentlichkeit. Deutsche und russische Frauenzeitschriften und ihr Publikum im frühen 20. Jahrhundert, Saarbrücken 2013.
- Bettina Kretzschmar: „Gleiche Moral und gleiches Recht für Mann und Frau“. Der deutsche Zweig der Internationalen abolitionistischen Bewegung (1899–1933), Sulzbach/Taunus 2014.
- Reinhold Lütgemeier-Davin/Kerstin Wolff (Hg.), Helene Stöcker. Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin (L’Homme Archiv. Quellen zur Feministischen Geschichtswissenschaft, Bd. 5), Köln 2015.
- Eva Schöck-Quinteros u. a. (Hg.): Politische Netzwerkerinnen. Internationale Zusammenarbeit von Frauen 1830–1960, Berlin 2007.
- Sylvia Schraut: Internationale Konferenzen, Publikationen und die Stiftung von Erinnerung, in: Feministische Studien 35 (2017), S. 61–75.
- Themenheft der Ariadne (2020): Der Kongress tanzt – Nicht! Frauenkongresse als Orte der Kommunikation, Politik und Vernetzung.
- Ulla Wischermann: Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900. Netzwerke, Gegenöffentlichkeiten, Protestinszenierungen, Königstein/Taunus 2003.
- Kerstin Wolff: Anna Pappritz (1861–1939). Die Rittergutstochter und die Prostitution, Sulzbach/Taunus 2017.
[1] Ulla Wischermann: Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900. Netzwerke, Gegenöffentlichkeiten, Protestinszenierungen, Königstein/Taunus 2003.
[2] Bettina Kretzschmar: „Gleiche Moral und gleiches Recht für Mann und Frau“. Der deutsche Zweig der Internationalen abolitionistischen Bewegung (1899–1933), Sulzbach/Taunus 2014.
[3] Kerstin Wolff: Anna Pappritz (1861–1939). Die Rittergutstochter und die Prostitution, Sulubach/Taunus 2017.
[4] Der Abolitionist 1 (1907), S. 1.
[5] Anna Pappritz: Herrenmoral, Leipzig [1903]; Katharina Scheven: Denkschrift über die in Deutschland bestehenden Verhältnisse in Bezug auf das Bordellwesen und über seine sittlichen, sozialen, und hygienischen Gefahren, Dresden 1904.
[6] Marie Raschke: Die Vernichtung des keimenden Lebens, Berlin 1905; Agnes Bluhm: Die Strafbarkeit der Vernichtung des keimenden Lebens (§ 218 R.St.G.B.) vom Standpunkte des Mediziners, Dresden 1909; Camilla Jellinek: Die Strafrechtsreform und die §§ 218 und 219 St.G.B., Heidelberg 1909.
[7] Anna Pappritz: Welchen Schutz können Bordellstraßen gewähren?, in: Zeitschrift für die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 3. Bd., 1904/05, Nr. 11, Sonderdruck, Leipzig 1905.
[8] Die Frauenbewegung 7 (1901), S. 89–91; Die Frauenbewegung 10 (1904), S. 147–148; Frauen-Reich. Deutsche Hausfrauen-Zeitung 25 (1898), S. 383–386.
[9] Centralblatt Bund Deutscher Frauenvereine 5 (1903), S. 4–5; Frauen-Rundschau 6 (1905), S. 412–413.
[10] Siehe den Aktenbestand des DEF im AddF (NL-K-16; H-389).
[11] Siehe das Themenheft der Ariadne (2020): Der Kongress tanzt – Nicht! Frauenkongresse als Orte der Kommunikation, Politik und Vernetzung.
[12] Gesammelte Reden vom Berliner Internationalen Frauen-Kongreß, in: Neues Frauenblatt 8 (1904), S. 9–11, hier S. 10–11.
* Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.