Die jüdischen Schwestern Nini (1884–1943?) und Carry Hess (1889–1957) fotografierten in ihrem Frankfurter Atelier Berühmtheiten der Weimarer Republik. Sie schufen beeindruckende Porträts sowie Theater- und Tanzfotografien. Wieso sind die bis heute so modern anmutenden Aufnahmen fast ausschließlich Fotohistoriker*innen bekannt? Ein Beitrag des Museums Giersch der Goethe-Universität zur Blogparade #femaleheritage.
In Frankfurt am Main erinnern an der grauen Außenmauer des Alten Jüdischen Friedhofs 11.908 schlichte Metallblöcke mit Namen und Lebensdaten an die bisher bekannten Oper der NS-Vernichtungspolitik aus der Stadt. Ein Gedenkblock ist Nini S. Hess gewidmet. Bei ihr schließt sich an das Geburtsdatum 21.8.1884 ein langer Strich und dann der Ort Auschwitz an. Die genauen Todesumstände sind bis heute unbekannt. Ihre Schwester Carry Hess überlebte im französischen Exil. Ihren demütigenden Kampf mit den deutschen Behörden um Wiedergutmachung kann man bis heute anhand einer dicken Korrespondenzmappe mit Briefen im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden nachverfolgen. Als Carry Hess 12 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs endlich die erste umfangreiche Ausgleichszahlung erhalten sollte, verstarb sie kurz darauf im Kuraufenthalt in der Schweiz.
Von der Idee über „kriminologische“ Recherchearbeit zur Ausstellung
Wer waren Nini und Carry Hess? Vor drei Jahren erreichte das Team des Museum Giersch der Goethe-Universität in Frankfurt am Main ein Projektvorschlag von Prof. em. Eckhardt Köhn. Der Wissenschaftler beschäftigt sich seit langer Zeit mit der Fotografie der Weimarer Republik. Er war im Rahmen seiner fotohistorischen Forschungsarbeit am Institut für Theater-, Film und Medienwissenschaft der Goethe-Universität auf das Leben und Werk von Nini und Carry Hess gestoßen. Köhn schlug dem Museum die „längst überfällige“ erste umfassende Präsentation des Werks der Fotografinnen in ihrer Heimatstadt vor. Ein ambitioniertes Vorhaben, denn in der Reichspogromnacht 1938 wurde das Atelier der Schwestern inklusive Bildarchiv komplett zerstört. Auch persönliche Dokumente der Schwestern sind nicht überliefert.
Das Museum griff den Vorschlag umgehend auf, obwohl aufwändige Recherchen notwendig sind. Das Ausstellungshaus, das sich in der Vergangenheit einen Namen mit der Präsentation in Vergessenheit geratener Künstler*innen aus der Rhein-Main-Region gemacht hat, möchte das Schicksal wie Werk der beiden beeindruckenden Fotografinnen einem größeren Publikum bekannt machen. Dazu ist viel mühsame Detailrecherche notwendig, berichtet Susanne Wartenberg. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Museum Giersch betreut sie das Projekt zusammen mit Eckhardt Köhn. Digitale Datenbanken erleichtern die Recherche. Ansonsten besteht die Arbeit des Kuratorenteams auch darin, Archivanfragen zu stellen, und dicke Jahrgangsbände von Zeitungen und Zeitschriften systematisch zu sichten.
Oft führt der in einem Zeitungsartikel gefundene Hinweis, wie zum Beispiel auf ein Porträt von dem Schriftsteller, Kabarettisten und Maler Joachim Ringelnatz, dann zu einer weiteren Recherche in dessen Nachlass. Ist das Foto dort bekannt und als Leihgabe für die Ausstellung zu bekommen? Viele von den Schwestern Porträtierte kennt man heute noch:
- Schriftsteller wie Thomas Mann und Alfred Döblin,
- Musiker wie Paul Hindemith oder Wilhelm Furtwängler,
- Schauspieler wie Heinrich George oder Albert Bassermann,
- Tänzerinnen wie Mary Wigman oder Anna Pawlowa.
- Besonders eindrucksvoll sind die Porträts des Malers Max Beckmann.
Das Foto-Atelier von Nini und Carry Hess in Frankfurt: gemäßigt moderner Blick
Das an prominentester Stelle unweit der Alten Oper in Frankfurt am Main in der Börsenstraße gelegene Atelier der Schwestern besaß in den 1920er Jahren überregionale Bekanntheit. In ihrer Ästhetik sprechen die Aufnahmen die Betrachter*innen auch 100 Jahre später noch an. Statt extreme Perspektiven auszuprobieren, wie es der Avantgarde der Zeit entsprach, wählten die beiden Frankfurter Fotografinnen einen gemäßigt modernen Blick. Einzigartig war die Fähigkeit der Künstlerinnen, in den Porträtaufnahmen einfühlsam die individuelle Persönlichkeit der Fotografierten herauszuarbeiten. Dies gelang ihnen weniger mit technischen Raffinessen als mit einer besonderen Hinwendung zu den Porträtierten.
Ihre Arbeitsweise schilderte Carry Hess 1952 der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ am Beispiel der russischen Primaballerina Anna Pawlowa:
Die Pawlowa zum Beispiel wollte zuerst absolut nicht das, was ich wollte. Sie stellte sich in ihre gewohnte Pose auf Spitzen und dachte, damit würde ich mich abfinden. Ich fand mich aber nicht damit ab. Ich wollte etwas Originelles. Ich brachte sie dahin, daß sie sich nach der Vorstellung in ihrer Garderobe von mir aufnehmen ließ, und als sie die Bilder dann sah, war sie so davon angetan, daß sie zu uns ins Atelier kam und mich Privataufnahmen von ihr machen ließ. Jedesmal, wenn ich mit Prominenten derart um eine echte Darstellung kämpfen mußte, habe ich mir gesagt: schließlich sind sie ja auch Menschen wie wir und putzen sich die Nase genau so wie unsereiner. [1]
Carry Hess, 1952
So wie zu Anna Pawlowa gelang es Nini und Carry Hess offenkundig auch zu anderen Berühmtheiten eine gewisse Nähe herzustellen. Prominente fühlten sich wohl vor ihrer Kamera. Auch privat pflegten die Fotografinnen weitreichende Kontakte; in ihre Wohnung luden sie zu beliebten gesellschaftlichen Treffen ein. Zu ihrem Bekannten- und Freundeskreis zählten unter anderen Schauspieler*innen und Tänzer*innen. Theaterfotografie war neben Porträtfotografie ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit.
Dank eines Generalvertrages mit der Stadt Frankfurt machten die Schwestern Aufnahmen von Theaterszenen und Rollenporträts für Theaterprospekte der Städtischen Bühnen. Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen fragten ihre Fotografien an. Sie bedienten die Bildredaktionen mit allen geforderten Bildmotiven und prägten damit das visuelle Erscheinungsbild wichtiger Publikationsorgane der Weimarer Republik entscheidend mit. Generell boten diese Arbeiten für die illustrierte Presse auch eine wichtige Einnahmequelle. In ihrem Antrag auf Wiedergutmachung vom 15. März 1950 schreibt Carry Hess im Nachtrag:
Unser Unternehmen war zur Hälfte auf Zeitungen und Zeitschriften aufgebaut.
Carry Hess, 1950
Die Fotos sind meist mit dem schön geschwungenen Schriftzug „Hess“ oder mit „Nini und Carry Hess“ signiert. So warb das Atelier für „echte Lichtbildkunst“ auch in Anzeigen. Carry Hess signierte einige Fotografien nur mit ihrem Namen, Nini Hess nicht. Lässt das auf Arbeitsteilung schließen? War Carry Hess die Künstlerin und Nini Hess eher für das Kaufmännische zuständig? Auch dieser Frage wird das Kuratorenteam noch weiter nachgehen.
Nini und Carry Hess – Werdegang und Spurensuche
Bisher war kein einziges Foto bekannt, das die Schwestern zeigt. Es existiert lediglich eine Porträtmedaille von Carry Hess. Viel mehr als das Profil und der typische Kurzhaarschnitt der 1920er Jahre lassen sich auf ihr nicht erkennen. Eine spannende Entdeckung wird in der Ausstellung präsentiert werden: Eine Fotografie, auf der Nini Hess zu sehen ist, jedoch nicht im Einzelporträt, sondern in einer Gruppenaufnahme eines Kostümfestes, an dem sie teilnahm.
Trotz der spärlichen Quellenlage hinsichtlich der Biografien der Fotografinnen muss man sich immer den erstaunlichen Werdegang der beiden jungen Frauen vor Augen halten. Es ließen sich bislang keine Hinweise auf ihre fotografische Ausbildung finden. Sie kamen aus einem gut situierten liberalen großbürgerlichen Elternhaus. Der Vater war Unternehmer und starb bereits 1924.
Als die Schwestern 1913 ihr Atelier eröffneten, waren sie 24 und 29 Jahre alt. Sie gaben sich moderne Namen wie Nini statt Stefanie Sara und Carry statt Cornelia Hess. Für ihre Aufnahmen gewannen sie zahlreiche Preise von Berufsverbänden. Eines ihrer erfolgreichsten Bildsujets war das der modernen „neuen Frau“ der 1920er Jahre: selbstbewusst und emanzipiert. Nini und Carry Hess prägten nicht nur in ihren Werken dieses Bild. Sie lebten es auch. Solange es ihnen möglich war. Der Erinnerung an die nach 1933 durch die nationalsozialistische Verfolgung zerstörten beruflichen wie privaten Existenzen der Schwestern kommt gerade in der heutigen Gegenwart angesichts wachsenden Antisemitismus und Populismus eine entscheidende Bedeutung zu.
Museum Giersch der Goethe-Universität
Das Museum Giersch der Goethe-Universität ist ein Ausstellungshaus in Frankfurt am Main. In wechselnden Präsentationen widmet es sich vielfältigen Themen aus Kunst, Kultur und Wissenschaft – mit besonderem Fokus auf der Rhein-Main-Region. Das Museum wurde im Jahr 2000 von der Stiftung Giersch eröffnet und gehört seit 2015 zur Frankfurter Goethe-Universität. Mit seinen Ausstellungen, Publikationen sowie Bildungs- und Vermittlungsangeboten wendet es sich an ein breites Publikum. Als universitäre Einrichtung kooperiert das Haus mit Partnern aus Forschung und Lehre sowie den Sammlungen der Goethe-Universität. Die Sonderausstellung zu Nini und Carry Hess knüpft an erfolgreiche Fotoausstellungen des Museums an – zum Beispiel zur frühen Fotografie im Rhein-Main-Gebiet oder zum fotografischen Schaffen von Laura J. Padgett oder von Inge Werth.
Adresse
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[1] ft: Anna Pawlowa war ihre Kundin. Die Photographin Carry Heß ist wieder in Frankfurt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.1.1952