Wie entstehen Gedichte – und was hat nächtliches Schreiben in der Küche damit zu tun? Die Lyrikerin Karin Fellner spricht im Interview über ihre Freude am Sprachspiel, ihre Arbeit als Schreibcoach und die Münchner Lyrikszene. Sie erzählt, wie eigene Erfahrungen als Aussteigerin ihre Poesie prägen – und warum das Schreiben manchmal besser gelingt, wenn man sich ihm von der Seite annähert. Folge 13 der #AtelierMonaco-Szene der Monacensia.*
Karin Fellner ist Lyrikerin und Lektorin. Sie wurde 1970 in München geboren, studierte Psychologie in Konstanz und machte ihren Magister in Literaturwissenschaften in München. Als Schreibcoach berät sie seit 1999 Schreibende und leitet Kurse für das Lyrik Kabinett. Zudem entwickelt sie didaktische Handreichungen für Gegenwartslyrik und war Mitherausgeberin des «Jahrbuchs der Lyrik 2024/25». Für ihre Gedichte erhielt Karin Fellner eine Vielzahl von Preisen. Sie publiziert in Zeitschriften und Anthologien. Bislang sind von ihr sechs Einzelbände erschienen, zuletzt 2024 «Polle und Fu. Gedichte» bei der Kölner parasitenpresse.
Andere Weltwahrnehmungen: Karin Fellner über Sprachspiele, Kinderreime und Schreiborte
Wir sitzen im Café im Jüdischen Museum am Jakobsplatz. Warum hast du diesen Ort gewählt?
Ich mag den Ort als Ort, ich finde ihn vor dem Hintergrund unserer Geschichte wichtig. Um heute differenziert denken zu können, muss ich die Vergangenheit mitdenken, finde ich. Irgendwann habe ich begonnen, mich hier mit Menschen aus dem Literaturbetrieb zu treffen. Ich saß hier schon mit meinem Verleger Adrian Kasnitz, mit dem Dichter und Übersetzer Zane Johnson oder mit der Lyrikerin Sasha Lavrenchuk. Und es gibt eine tolle Buchhandlung. Ich muss nur aufpassen, nicht mit zu viel Kohle herzukommen, weil ich dazu tendiere, viele Bücher zu kaufen. Eins nehme ich dann doch meistens mit.

Schreibst du auch im Café?
Nein, ich bin keine Kaffeehausschreiberin. Ich schreibe viel in unserer Küche und auch nicht unbedingt zu üblichen Arbeitszeiten. Oft stehe ich nachts auf und scribbel, ohne das Licht anzumachen, in so einem komischen Halbdämmer vor mich hin. Dadurch schaffe ich es besser, die innere Zensorin auszuschalten und das Schreiben ins Assoziative zu öffnen. So entstehen oft die ersten Versionen.
Komm Herz, komm herzu, Herzugekommene, komm,
im Striezizimmer darf das und dies verwachsen
abgebogen von der Quetschung in den Quatsch
ändern sich die Pronomen und Formatvorlagen
ungebührlich sakral liegt ein Nasa-Bohrer
am prophylaktischen Lacktisch
sei mein Flabbergast, sehn wir an: einander
in wundervoll alterndem Fleisch und
schlafen wir darin zusämmchen
heben das Deck, rezitieren:
Der Kranich, der Kranich,
der kriecht keine Panich!
(aus: Karin Fellner, «eins: zum andern», parasitenpresse, Köln 2019)
Das merkt man deinen Gedichten auch an. Deine Sprache scheint zu tasten und zu probieren.
Genau, die Sprache ist für mich die Handlungsträgerin. Ich empfinde mich nicht so sehr als diejenige, die die Zügel in der Hand hält. Stattdessen ist es eben die Sprache, die auch Schlenker macht und sich selbst arrangiert.
Was passiert, wenn die Sprache Schlenker machen darf?
Vorhin ist eine Wanze bei uns am Küchenfenster gelandet, und ich dachte an den Kinderreim: «Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ‘ne kleine Wanze.» Der Beginn hat etwas leicht Bedrohliches, und eine Wanze ist auch kein Kuscheltier. Aber dann fängt diese Wanze zu tanzen an, und das passiert nur wegen der Klangähnlichkeit. Man springt damit aus konventionellen Denkbahnen heraus, das ist unglaublich befreiend. Diese Art des Poetischen ist für mich eine Form von Selbsterhaltung und auch eine Form von Widerständigkeit.

Unfug im Alltag und poetische Qualität: Wie bei Karin Fellner aus Ideen Gedichte werden
Du hast mir erzählt, dass dein Mann eine wichtige Rolle für dein Schreiben spielt.
Ja, mein Mann ist mein Erstleser und gibt mir superwertvolles Feedback, obwohl oder gerade weil er selbst nicht schreibt. Meine Gedichte sind auch gefüttert von unserer gemeinsamen Art, im Alltag Unfug zu fabrizieren. Das hat für mich immer auch eine poetische Qualität. Beispielsweise kann man einen Weg entlangmarschieren, weil man von A nach B kommen will. Man kann aber auch in einen Pferdchenschritt verfallen. Und wenn man das gemeinsam macht und dazu rhythmische Geräusche von sich gibt, kann das unglaublich lustig sein. Die Qualitäten von solchen Momenten lassen sich auch in die Lyrik übertragen.
Wie sieht dein weiterer Arbeitsprozess aus, sobald du die ersten Entwürfe hast?
Der findet am Computer statt. Da kann ich nicht nur den Text leichter bearbeiten, sondern gleichzeitig recherchieren. Das Stöbern und Befragen von Wörtern gehört für mich zum Schreibprozess. Du kommst dabei vom Hundertsten ins Tausendste. Und wenn du im Tausendsten angelangt bist, führt dich etwas, das zwei Bahnen neben dem ursprünglichen Ausgangspunkt lag, zurück ins Gedicht. Genau das kann diese kleine Differenz, diesen kleinen Sprung ausmachen, der dem Gedicht dann Leben einhaucht.
Überlegst du dir davor Themen, oder finden die sich während des Schreibens?
Bei mir funktioniert es nicht, Themen zu planen. Die Gedichte, die mir im Schreiben passieren, wehren sich dagegen. Ich nähere mich ihnen nicht frontal mit einem zugespitzten Blick, sondern eher von der Seite. Ähnlich funktioniert ja auch unser Auge, wenn wir in den Sternenhimmel gucken. Wenn du einen Stern fixierst, siehst du ihn oft gar nicht, weil wir diesen blinden Fleck im Auge haben. Du kannst ihn erst erkennen, wenn du leicht daneben schaust. Diesen Gap gibt es auch beim poetischen Schreiben.
Gibt es Themen, die in deinen Gedichten immer wiederkehren?
In meine Gedichte fließt sicher ein, was mich als Person beschäftigt, nämlich die Möglichkeiten, aus nicht guttuenden gesellschaftlichen Konventionen herauszutreten. Mich interessiert dabei, wie Menschen aufeinander bezogen sind. Das dichotome Denkmodell von Subjekt und Objekt finde ich nicht sonderlich hilfreich. Ich mag den Blick auf das Dazwischen – auf das, was uns erst im Austausch möglich wird. Und mich interessiert das Abweichende in einem poetischen oder auch punkigen Sinne. Ich empfinde das, was gern als randständig bezeichnet wird, als befreiend und befruchtend. Jede Gesellschaft sollte das als Teil von sich selbst mitdenken.
Lang sei der Mut, wenn die Zustände wechseln!
Angelehnt sind wir nur, so endlich wie wellenförmig
sich fortbewegende Tiere, Fadenwürmer zum Beispiel
stehn mathematisch der Schrödingergleichung nah.
Wie wird dieses Papier wirbeln um Zersprengtes,
wie gehen Drehimpulse durch unsere Zellen?
Beharrlich rascheln die Toten,
beginnen erneut die Umschichtung der Laute:
lać, late, latte, leite ... laisser passer.
Hier legt sich deine Hand in meine, werden wir lang-
sam und hören die Würmer leise husten
(aus: Karin Fellner, «Polle und Fu», parasitenpresse, Köln 2024)
Vom Leben auf der Straße und von Poesiealben
In einem Interview hast du von eigenen Erfahrungen als Aussteigerin und deinem zeitweisen Leben auf der Straße erzählt. Inwiefern hat sich das auf dein Schreiben ausgewirkt?
Mein Mann und ich hatten damals den Wunsch, aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten auszubrechen. Diese Erfahrungen prägen einen natürlich und helfen vielleicht auch, den Perspektivwechsel zu vollziehen, wenn du jemanden bettelnd auf der Straße sitzen siehst. Verhandelt habe ich diese Erlebnisse in meinem Gedichtzyklus «futter», mit dem ich zehn Jahre später den Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis beim Leonce-und-Lena-Wettbewerb gewonnen habe.
Aber geschrieben hattest du schon davor?
Ich habe mit zwölf angefangen, in diese Kladden zu schreiben, die die Form von verschließbaren Poesiealben haben. Kürzlich habe ich einen Text einer meiner Schreibkursschülerinnen gelesen, in dem sie davon erzählt, dass für sie das Schreiben in ihrer Kladde der Ort ist, an dem sie sich sicher fühlt. Das konnte ich gut nachvollziehen. Mit dem Schreiben von Gedichten habe ich dann in den Neunzigern begonnen.

Anfang der 2000er hast du dich als Lyrikerin selbstständig gemacht. Auf deiner Homepage steht, dass du auch als Lektorin und Schreibcoach arbeitest. Und du unterrichtest wie eben erwähnt Schüler*innen. Was genau machst du da?
Als Lektorin und Schreibcoach begleite ich Schreibende, wir sprechen über ihre literarischen Vorhaben und über Lektoratsmöglichkeiten. Inzwischen gibt es einen festen Stamm an Autor*innen, die sich regelmäßig bei mir melden. Daneben halte ich Fortbildungen für Lehrer*innen und leite zusammen mit Kolleg*innen die «Lust auf Lyrik»-Kurse des Lyrik Kabinetts. Zudem erarbeite ich seit 2020 gemeinsam mit der Didaktikerin Claudia Maaß und der Lyrikerin Saskia Warzecha die Handreichungen «Praktisch Lyrik». Dafür suchen wir im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und weiteren aus den jährlichen Lyrik-Empfehlungen sechs Gedichte aus und entwickeln dazu handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben. Damit wollen wir einerseits den Lehrpersonen Material für Gegenwartslyrik bieten und andererseits dazu anregen, sich Literatur nicht nur über den analytischen Weg, sondern auch über Kreativität zu nähern.
Warum ist das so wichtig?
Es gibt inzwischen so etwas wie eine konforme Art der Fantasie. Da ist es wichtig, die Leute zu ermutigen, Eigenes zu wagen und zu denken. Denn wenn du dich immer nur in konformen Denkmustern bewegst und dich nicht traust zu artikulieren, was vielleicht tiefer in dir brodelt, dann funktioniert die gesellschaftliche Kommunikation nicht mehr. Das hat für mich auch etwas mit Ehrlichkeit zu tun, durch die sich erst Vertrauen bilden kann. Für mich hängt beides zusammen: die Fähigkeit zur Kommunikation mit den anderen und die Artikulation von eigenen Denk-Fühl-Feldern. Außerdem kann man gut Hemmschwellen abbauen, wenn man mit einem Gedicht erst mal kreativ interagiert. Und das Analysieren fällt dann auch leichter.
Münchner Lyrikszene: Übersetzungsprojekte und Lyrikgruppe
Ein weiterer Teil deines literarischen Schaffens sind das Moderieren, Veranstalten und Übersetzen von Lyrik.
Moderiert habe ich schon länger nicht mehr, aber in der Vergangenheit habe ich beispielsweise für das Lyrik Kabinett ein paar Lesungen aus der Reihe «Zwiesprachen» moderiert. Und in den 2000ern habe ich zusammen mit Andrea Heuser, Berkan Karpat und Simone Lutz die «Lyrikoase» gegründet und über zwei Jahre lang Lyriklesungen veranstaltet. Übersetzt habe ich mehrfach für das Schamrock-Festival und einmal fürs Lenbachhaus. Bei der Reihe «VersSchmuggel» vom Haus für Poesie durfte ich bei einer Übersetzungskooperation mit kasachischen Kolleg*innen mitmachen. Aktuell übersetze ich Gedichte der Lyrikerin Sasha Lavrenchuk.
Du bist auch Teil der Lyrikgruppe Reimfrei, die sich vor rund 20 Jahren gegründet hat. Was macht ihr da?
Zu unserer Gruppe gehören momentan Ann-Kathrin Ast, Anja Bayer, Augusta Laar, Pia-Elisabeth Leuschner, Sabina Lorenz, Christel und Armin Steigenberger und Markus Breidenich. Wir treffen uns inzwischen etwa zweimal im Jahr, um gemeinsam Texte zu besprechen. Auch wenn das vielleicht nicht mehr dieselbe Priorität wie zu Beginn hat, sind wir nach wie vor im Austausch und schätzen uns sehr. Und diese lange Zeit macht sich in der Qualität der Interaktionen und Beziehungen bemerkbar.
XII
im büro der mann / prüft ihr gebrochenes wort
papiere ordnungsgemäß / letzte ausfahrt für
eine bedachte nacht
sie liegen in stockbetten roh / fiepen rohre hinter
getünchten decken sie sind / dosenfleisch, lose
zellen in einer zelle
gegen die enge stemmen
sie stimmen, halten fest.
(aus dem Gedichtzyklus «futter», in: Karin Fellner, «in belichteten wänden», yedermann Verlag, Riemerling bei München, 2007)
Welche Rolle spielen für dich die Münchner Literaturszene und ihre Vernetzungsmöglichkeiten?
Grundsätzlich fühle ich mich mehr als Einzelgängerin. Aber natürlich kenne ich viele Leute, auf die ich mich bei Veranstaltungen freue. Vor allem das Lyrik Kabinett ist ein unglaublicher Herzensort für mich. Und die Veranstaltungen der Reihe «Meine drei lyrischen Ichs» genieße ich immer sehr. In diesem Bereich des Literarischen-Kreativen triffst du Menschen, die ein bisschen anders denken und eine andere Weltwahrnehmung haben. Da ergeben sich auch andere Energien in den Gesprächen und Denkimpulse, die noch lang in mir nachwirken.

* #AtelierMonaco-Szene
Die Reihe «Atelier Monaco-Szene» erscheint alle zwei in unserem Online-Magazin MON Mag. In der ersten Staffel spricht Katrin Diehl (1–6), in der zweiten Christina Madenach (ab Folge 7) mit Autor*innen über ihre literarischen Tätigkeiten, Netzwerke, eigene Verlage und literarische Lesereihen in München – es entsteht eine Kartografie der «Atelier Monaco-Szene» in der Stadt.
- Pierre Jarawan über Schreiben als Handwerk, den Libanon und die Kunst des Geschichtenerzählens (25.6.2025) – 12
- Jonas Bokelmann: Über Bühnen, den Einfluss von Musik auf Literatur und die Lesereihe werk[statt] (16.4.2025) – 11
- Dominik Wendland: Über Comic-Tagebücher, die ArtZi-Werkstatt und die Comicszene in München und Bayern (19.2.2025) – 10
- Malva Scherer: Über Songtexte, Musikvideos, Fotos und die Münchner Musik- und Literaturszene (4.12.2024) – 9
- Daniel Graziadei: Über Lyrik und Performance, Schreibwerkstätten und die Münchner Literaturszene (8.10.2024) – 8
- Fabienne Imlinger: Über subversive Prozesse, Empowerment und eine freie Literaturszene in München (26.6.2024) – 7
- Theresa Seraphin: Experimentelles Schreiben und das richtige Maß an Ablenkung (25.4.2024) – 6
- Lisa Jeschke über Lyrik, Performance und politisches Schreiben (7.2.2024) – 5
- Jan Geiger über erste Schreibversuche, Schreiben als Beruf und Theatertexte (1.12.2023) – 4
- Annegret Liepold über die „Bayerische Akademie des Schreibens“, Schreibprozesse und „Franka“ (26.10.2023) – 3
- Christina Madenach über Schreibroutinen, Romanwerkstatt und die freie Literaturszene Münchens (9.8.2023) – 2
- Tristan Marquardt über Lyrik, literarische Netzwerke und Lesereihen in München (14.6.2023) – 1