Es ist so weit – unser digitales Programm zur Ausstellung POP PUNK POLITIK – Die 1980er Jahre in München startet mit einer Artikel-Serie.* Lorenz Schröter, der euch in unserer Ausstellung als James-Dean-Lookalike entgegenblickt und Leihgeber von Exponaten ist, beschreibt für uns sein persönliches Erleben der 1980er Jahre. Punks, die zu Pop pogten, Politik, die „einfach“ war, Sounds, Aufruf zur sofortigen Revolution, Filme, Drogen, Molotowcocktails: ein Stakkato der Eindrücke, äußerst lebendig, und schon ist man mittendrin in …
„Meine 1980er Jahre“ von Lorenz Schröter
Für die Generation meiner Eltern, die 68er, waren die 1980er etwas anderes als für uns, die wir in ihnen groß wurden, rebellierten, Kunst machten, uns verliebten, erwachsen wurden oder Drogen nahmen. Jeder ging dabei seinen eigenen Weg durch das Nachtleben und die Kinos, verliebte sich auf ganz eigene Weise, kämpfte mit seinen Dämonen, der Wut, seiner Herkunft.
Ich war einer von vielen schüchternen, linkischen Jungen in Cordhosen und mit langen Haaren, die jahrelang ein Mädchen anschwärmten, das nichts davon ahnte. Außerdem war ich schlecht in der Schule und hatte Pickel. Dann sagte mein Freund Ian: Hör dir mal The Clash an. Wenige Monate, ach was, Wochen, nein, Tage später hatte ich kurze, blaue Haare, las die Sounds, entdeckte die Sex Pistols, sah die Ramones, küsste gleich zwei Mädchen auf einer Party, gründete eine Band und ein Fanzine, flog von der Schule wegen zu vieler Sicherheitsnadeln in der Wange, trampte nach London, trat im Fernsehen auf, ging auf Tour, nahm Kokain, verliebte mich unglücklich, trank zu viel Gin Tonic und schrieb mein erstes Buch.
Vor vielleicht hundert Menschen spielten Blondie im Downtown in der Dachauer Straße. Es hat mich weggeblasen. Zwar stand auf der Eintrittskarte Punk oder New Wave, aber es war reiner Pop, zu dem wir Lederjacken tragenden Punks mit den crazy colours in den Haaren und den kleinen Buzzcock-Badges rumpogten, also auf und ab hüpften, den Nachbarn anrempelten, das Bier verschütteten und aufpassten, möglichst keine Nietenarmbänder ins Gesicht oder Doc Martens ans Schienbein zu bekommen. Über dieser wogenden, nach Schweiß, Leder und Bier riechenden dampfenden Masse, sozusagen die Mini-Ausgabe einer schwulen Lederparty, sirrten die Töne von Blondie, und ein Engel schwebte über allem: Debbie Harry. Wunderschön natürlich, das waren viele, sie aber war anders als alle Frauen, die ich kannte, im Minirock und eindeutig Punk.
Ich kannte das Leben aus dem Kino. Ein Desperado wie Jean-Paul Belmondo in Außer Atem sein, ein einsamer Jäger wie John Wayne in The Searchers, ein Asphaltcowboy wie Robert de Niro in Taxi Driver, dazu die herrlich schmerzhaft unerreichbaren Traumfrauen wie Claudia Cardinale in Spiel mir das Lied vom Tod oder Jean Seberg in Außer Atem oder die Frauen aus Faster, Pussycat! Kill! Kill! in einer Blade Runner-Welt mit den Abgründen des Texas Chainsaw Massacres. Ja, das Kino hat mich geformt, die Art zu stehen, mein Pokerface, welche Schuhe ich trage – die vielen Puzzleteile, aus denen sich Erfahrung und Seele bilden. Die Verlockungen, die unten an der Treppe auf einen warteten, wenn das Licht ausging, die Vorführung langsam begann, eine Frau in Technicolor erstrahlte und irgendwer erschossen wurde, dort bekam der einst Lego spielende Bub eine Gussform, in die er schlüpfen konnte.
Kitty lernte mich auf einer Vernissage kennen, wo ich James-White-mäßig in ein Saxophon blies. Sie war aus Berlin und auf ein Abenteuer aus, hatte schon gemerkt, dass das mit dem Kokain hier in Bayern schwierig sein würde, und wir zogen durch Schwabing, bis endlich keiner meiner Freunde mehr da war und sie mich zu ihrer Adresse führte und zu ihrem Sofa. Die Freundin des Wohnungsbesitzers brachte uns dann stumm und sehr vorwurfsvoll ein Laken.
Mit Molto fuhr ich durch die DDR, das Land der spießigen Aliens, vorbei an Plaste und Elaste aus Schkopau, im Kassettenspieler lief laut Ready For War von John Cale. Klar waren wir das. Die Mittelstreckenraketen hatten eine Vorwarnzeit von zehn Minuten. Von uns würde niemand mehr Enkel bekommen, so viel war schon mal klar. In Berlin quietschten die U-Bahnen fürchterlich, in den Mauern noch Hakenkreuz-Mosaike und Schussnarben vom Häuserkampf 45.
Kitty lebte in einer Erdgeschosswohnung im Wedding. Sie fragte gleich nach dem Kokain, ich hatte nur Captagon und eine Flasche Grasovka, den Wodka mit Büffelgras, aus dem Intershop. Sie machte ein Polaroid von mir und klebte es in ihr Album zu den anderen Jungs. Ich tippte auf ihrer Schreibmaschine ein paar Seiten von meinem Buch, sie kritzelte darüber Lorenz ist doof. Wir sahen tagelang kein Sonnenlicht in den windigen Straßen Kreuzbergs, irgendwo zwischen Risiko und Dschungel. Dann musste ich gehen, ihr Freund wollte sie besuchen. Mit ihm bin ich heute noch befreundet, was aus ihr wurde, weiß ich nicht.
Ich stand an Dreilinden und hielt den Daumen hoch, der Fahrer befummelte sich in der Hosentasche bis zum Hermsdorfer Kreuz, in der dortigen HO-Gaststätte gab es Gänsekeule mit Rotkohl für 3,27 Mark, zurück nach München zu den vielen Jobs als Möbelpacker, Komparse beim Film, Aktmodell oder Rundfunkredakteur.
In alternativen Stadtzeitungen verherrlichten Päderasten den Sex mit Minderjährigen. Frauen auf den Po zu hauen schien absolut okay. Wir waren frei; ich habe Grenzen verletzt und meine Grenzen wurden verletzt, das ist etwas kompliziert & privat. Die Narben spüre ich noch heute.
Als Baader, Raspe und Ensslin von der RAF in Stammheim starben, klatschten meine Klassenkameraden Applaus. In Bayern regierten Franz Josef Strauß und sein Innenminister Edmund Stoiber, genannt das blonde Fallbeil. Da war Politik ganz einfach. Wir liefen auf den Demos mit, künstlerisch gestaltete Flugblätter riefen zur sofortigen Revolution auf, wir erfanden den schwarzen Block, links den roten Blitz, rechts den schwarzen Stern, eine Flasche Bier in der Hand und die Musik war laut. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran. Um was es ging? Wohnungsnot, Wackersdorf, Bullenterror, scheißegal. In der Sammelzelle vom Polizeipräsidium in der Ettstraße – es wurde schnell festgenommen damals in Bayern – ritzten die 14-Jährigen Punk ins Holz der Pritschen und die Party ging weiter.
Manche warfen danach Molotowcocktails in die Fenster von Banken, manche landeten im Gefängnis, manche nahmen zu viele Drogen, manche kamen davon nicht los, manche sprangen vom Hochhaus.
*Digitales Programm zu #PopPunkPolitik:
Die Artikel-Serie zu #PopPunkPolitik verlängert die Ausstellung in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft Themen der 1980er Jahre aus literarischer und heutiger Perspektive.