Lena Christ aus der Theater-Perspektive – das haben wir hier im Blog zum ersten Mal. Pia Kolb, Schauspielerin, schickte uns diesen Beitrag zu #femaleheritage! Sie beschreibt, wie der Zufall zur Entstehung eines Theaterstücks führte, basierend auf Lena Christs „Lausdirndlgeschichten“ – ein prima Blick hinter die Theater-Kulissen und ein persönlicher und fragender Zugang zu einer faszinierenden Schriftstellerin mit traurigem Schicksal.
Lena Christ – Erinnerungen einer Unbekannten?
Ich stehe in einem überfüllten Antiquariat am Rindermarkt, auf der Suche nach einem neuen Stück. Ein unmotivierter Griff in einen Stapel: „Lena Christ – Lausdirndlgeschichten“. Von 1913. Wie? Christ, statt Thoma? Für Dirndl? Wieso wusste ich nichts davon?
Von Lena Christ kenne ich bisher Filme und ihre Autobiografie “Erinnerungen einer Überflüssigen“. Das Buch ging mir unter die Haut. Ich fand es so schockierend wie modern: Offen und schonungslos schrieb sie über ihre Gewalterfahrungen, ihren emotionalen und körperlichen Missbrauch. Damals. Als Frau. Woher nahm sie bloß den Mut damit an die Öffentlichkeit zu gehen? Außerdem war sie eine völlig Unbekannte und fast wie zufällig zum Schreiben gekommen.
Sie war 30 Jahre alt, Mutter von drei Kindern, geschieden und hatte bereits Entsetzliches erlebt. Sie schlug sich mit Prostitution durch und hauste mit ihren beiden Töchtern Neubauten „trocken“, bis der Autor Peter Benedix sie ermunterte ihre Geschichte aufzuschreiben. So entstanden in nur acht Jahren ganze zehn Bücher. Die Lausdirndlgeschichten hier sind also erst der Anfang…
Hart und Zart – ein Lausdirndlleben vor über 100 Jahren
Nach ein paar Zeilen stehe ich mitten in Lausdirndl Lenis Welt: Kuhställe und Kirschbäume bei Oma und Opa, wo es ihr „furchtbar guad“ geht. Ganz sachlich und furchtbar bairisch erzählt die Bandenchefin aus ihrem Kinderleben. Wie zu erwarten, kommen die Erwachsenen nicht gut weg. Mit dem „Schloßerflorian“ und dem „Neuwirtshubertl“ ärgert sie Pfarrer, Lehrer und die komische Baronesse, die sich über den „Fidong“ beschwert. Meist hagelt es Watschen, aber „des macht nix“, weil die Rache auf dem Fuß folgt.
Ich weiß, Lena Christ hatte neben vielen schlimmen auch ein paar schöne Jahre. Die besten davon halte ich wohl gerade in der Hand. Und obwohl gut hundert Jahre her, erinnert mich vieles an meine eigene Kindheit. Dort wo man das „R“ rollt. Wo es nach erstem Schnee und Misthaufen gerochen hat. Und ich dem Franzä den „Kuascheißekuacha“ gebacken habe. Fast hätte er ihn gegessen! …
Aber obwohl ich mich dort immer noch zuhause fühle, war meine Kindheit nicht nur schön. Leni erzählt weiter, wie die Mutter sie nach München ins Wirtshaus holt. Hier bekommt sie viel Arbeit und Prügel. Sie versucht, ihren für tot erklärten Vater zu finden. Erfolglos. Aber trotz aller Widrigkeiten gibt Leni die Hoffnung auf ein besseres Leben nie auf.
Es reizt mich, dieses schlaue und unverzagte Lausdirndl auf die Bühne zu bringen. Diese bittersüßen und wohl noch relativ unbekannten Kindheitserinnerungen und all das Wilde, Derbe, Harte, Zarte, Traurige, Kritische und Witzige, das aus ihnen spricht. Es reizt mich ein unverfälschtes Dialekt-Stück zu machen. Ein „Stück-Heimat“, wenn man so will. Und ein Stück Leben, das berührt. Und es reizt mich umso mehr, weil es eine weibliche Heldin hat. Die „Grande Dame“ der bayerischen Literatur! En personne!
Bloß nicht heile Heimat! – ein Einblick in die Theaterwerkstatt
Meine Kollegin Angela Hundsdorfer und ich treffen uns für die Dramatisierung des Textes. – Angela kommt auch aus dem Oberland und kann das „R“ rollen. Unklar ist, wie wir zu zweit eine Leni spielen und ein ganzes Dorf zum Leben erwecken. Außerdem: Wie werden wir dieser Sprache gerecht? Wie diese dichten Erinnerungen und Atmosphären filtern? Wie eine Zeit beschreiben, die nur noch aus Erzählungen bekannt ist? Wie die Komik und gleichzeitig die Dramatik hinter diesen kindlichen Worten umsetzen?
Lena Christs Sprache ist eine Herausforderung für sich: Ein bairischer Schatz! Sperrig und so echt, dass wir Verständnisprobleme befürchten. Aber wir verändern nur wenig. Es tut manchmal weh, Lenis kindlich-knappe und urkomische Erzählweise in Dialoge umzuwandeln. Aber auf der Bühne muss einfach anders erzählt werden.
Wir beginnen mit den heiteren Episoden im Dorf, gebrochen durch die Verpflanzung der Siebenjährigen nach München. Die vielen unsympathischen Erwachsenen werden ein paar überschaubare Archetypen: die alte Dorfratschen, der bigotte Meßmer, die verhasste Petze, etc. Die Bösartigkeit der Mutter ist der Tiefpunkt des Stückes. Hauptschauplatz bleibt die Stadt, die die inzwischen Dreizehnjährige erst am Schluss wieder verlässt. Um München und die Mutter greifbarer zu machen, flechten wir Textpassagen aus den „Erinnerungen einer Überflüssigen“ mit ein.
Das Thema Gewalt klammern wir bewusst nicht aus. Bloß nicht heile „Heimat-Welt“ spielen! Das wäre nicht Lena Christ! Doch unser Schluss bleibt im Vergleich zum Original versöhnlich, aus Rücksicht auf die Kinder im Publikum. Aber – werden überhaupt Kinder im Publikum sitzen?
Vorhang auf für echte Originale
Ein gutes Jahr später feiern wir Premiere im Münchner Fraunhofer Theater.
Auf der Bühne steht eine schwarze Torwand, bemalbar mit Tafelkreide, dahinter ein weißes Alpenpanorama. Die Torwand ist Tafel, Haus, Picknickdecke, Beichtstuhl, etc. Nichts erinnert vorerst an das vorvorige Jahrhundert. Lena Christ war eine gute Zeichnerin. Das Ritual des Malens zieht sich durch das Stück. Genauso wie Beten, Tafelwischen und Ohrfeigen bekommen.
Die Bühne ist modern und schlicht. Wir fokussieren uns auf das Spiel, die Energie und Lebendigkeit des Lausdirndls. Auf das Zeitlose in den Lausdirndlgeschichten. Vieles in unserer Umsetzung erinnert an kindliche Rollenspiele wie sie die Autorin beschreibt: Lenis Kumpanen werden mit unseren vier Händen dargestellt und die meisten Charaktere formen sich mit einem schnellen Griff zum Accessoire.
Auch Lena Christs kritisch-ironischer Blick auf ihre Zeitgenossen fehlt nicht: Die ungeliebte Verwandtschaft besetzen wir mit gräulichen Fundstücken aus einem Bayern-Souvenir-Shop. „Echte Originale“ sind dagegen die altbairischen Lieder und Gstanzl, die wir singen und natürlich – der Dialekt.
Ich bin gespannt: Die Uraufführung der „Lausdirndlgeschichten“, eine Art weibliches Pendant zu Thomas´ „Lausbubengeschichten“ findet doch in München und Umland sicherlich großen Anklang. Oder nicht?
Eine Nische für Lena Christ?
Wir spielen in Stadt und Land vor erlesenem Publikum. Meist ist es weiblich, belesen, oft hochbetagt oder sehr jung. Es ist meist begeistert, bleibt aber immer überschaubar. In Glonn, wo sich das Lausdirndl einst herumtrieb, sorgt der Kulturverein für Publikumsrekord. Im Museum hegt man schließlich noch ein paar Utensilien aus Lena Christs Nachlass. Die Waldorfschule dagegen ignoriert unser Angebot dort aufzutreten komplett.
Nach zwei Jahren Gastspielen in und um München, kommt endlich auch die Presse. Ein Erfolg, aber auch ein Wehrmutstropfen. Warum so spät? Das macht es sehr schwer an die „Grande Dame“ zu erinnern.
In meiner Branche – das ist die freie Theaterszene in und um München, habe ich gelernt, alles selbst zu machen und mich in Bescheidenheit zu üben. Dort kleines aber feines Publikum zu haben, ist sehr gut. Kontakte zu Theatern wie zum Beispiel dem kleinen und feinen „Mathilde Westend“ und das „Zimmertheater Uffing“ sind essentiell und wir haben unsere Nische gefunden. Trotzdem wünsche ich mir für meinen Beitrag zur Heimatpflege mehr als ein Nischendasein.
Das wünsche ich auch Lena Christ. Sicher ist sie nicht „massentauglich“ und „Bauerntum“ ist auch in Oberbayern nicht jedermanns Sache. Theater ist das ja auch nicht. Aber hier wird „Heimat“ so großgeschrieben wie nirgendwo in Deutschland. Hier wird auch gefühlt alles gehypet, was bairisch spricht. Warum ist es dann so schwer hier auf ein Lena Christ Stück namens „Lausdirndlgeschichten“ aufmerksam zu machen?
Oder ist Lena Christ, die als das „rein dichterisch vielleicht neben Annette Droste größte, stärkste, sinnlichste Talent unserer ganzen Literatur“, [1] beschrieben wird, wirklich sogar in ihrer Heimat vergessen?
Um was man bei Lena Christ nicht herumkommt
Warum wurden mir früher statt den Lausbuben – nicht die Lausdirndlgeschichten vorgelesen? Warum sind sie nicht schon längst ein Klassiker und bekannt über Bayerns Grenzen hinaus?
Ich lese immer wieder das Argument ihres frühen Todes. Aber gibt es nicht Leute, die nur ein Werk verfasst haben und unsterblich geworden sind?
In den Lausdirndlgeschichten zeichnet sich schon ab, dass Lenis späteres Leben nicht glücklich verlaufen wird. Das ist vielleicht nicht Kinderzimmer tauglich. Es ist eben die Wahrheit, um die man bei Lena Christ einfach nicht herumkommt.
Sind und waren vielleicht in Bayern die Streiche immer noch den Buben vorbehalten? Rollenklischees halten sich hier ja bekannter Weise besonders hartnäckig.
Mir kommt ein anderer Gedanke: Ludwig Thoma – übrigens ein Freund von Lena Christ, trug neben einem falschen Doktortitel, einen dicken Bauch und meist ein Gewehr über der Schulter. Sicher – auch bei ihm lief nicht alles rund im Leben. Aber verkörperte er nicht ein bayerisches Klischee und verkauft sich deshalb bis heute in der Sparte „Heimatliteratur“?
Und Lena Christ? War eine Frau. Das macht ja bis heute leider einen Unterschied. Sie verkörperte auch keine rosig-dralle und quietschfidele Dirndlschönheit. Sie litt zeitlebens an einer posttraumatischen Belastungsstörung und an Tuberkulose. Zuletzt schrieb sie wohl nur noch im Bett. Und ich finde es erstaunlich, wieviel Großartiges sie trotz allem zu Wege brachte. Bis sie sich vor genau einhundert Jahren das Leben nahm.
Der letzte Akt
Ihr Selbstmord liest sich wie eine griechische Tragödie – nur in Bayern:
Vor ihrer Heirat prophezeit die Mutter ihr „keine glückliche Stunde“ mehr zu haben. Ihr Ehemann misshandelt sie, die Ehe scheitert. Eine Wahrsagerin behauptet, sie würde so berühmt, dass sie ein König zu Tisch bittet. Ludwig der III. lädt sie nach dem Erfolg ihres Bändchens „Unsere Bayern anno 14“ in die Residenz zum Essen ein.
Mit 39 Jahren lebt sie getrennt von ihrem zweiten Mann wieder in Armut und bringt sich durch Kunstfälschungen in Schwierigkeiten. Es droht eine Haftstrafe. Sie schreibt ein paar Abschiedsbriefe, u.a. einen an Ludwig Thoma, weist ihre Kinder an, die Sonntagskleider schwarz zu färben und bittet ihren Mann Zyankali zu besorgen. Er tut es. Die beiden fahren zum Münchner Waldfriedhof, dort legt sie sich auf ein Grab und nimmt das Gift.
Leider ist das kein Theaterstück. Es ist verrückt, zynisch, unfassbar traurig und leider wahr.
Bayerns große Dichterin war lebensmüde. Das Lausdirndl hatte einfach zu viel mitgemacht. Sie hat bestimmt versucht dagegen anzuschreiben, aber sie konnte sich nicht retten.
Ist es das, warum Lena Christ auch nach ihrem Tod nicht entsprechend beachtet und gewürdigt wurde?
Erinnerungen überflüssig?
Ich denke, so ein beispiellos brutales Schicksal sieht nicht schön aus. Es passt nicht in eine heile Heimat-Welt. So ein Selbstmord auch nicht. Im katholischen Bayern des letzten Jahrhunderts erst recht nicht. Das machte sich vermutlich nicht gut, um bayerische Vorzeige-Schriftstellerin zu werden. Und – ist es nicht ein zeitloses Phänomen unserer Gesellschaft, dass Opfer von Gewalt gerne ignoriert werden. Vor Allem Frauen?
Wie steht es also um Lena Christs offizielles Gedenken? Laut Wikipedia gibt es von ihr in Bayern ganze zwei Büsten und vier Tafeln. Eine Büste steht in Glonn, die andere in der Ruhmeshalle an der Bavaria. – Ein fragwürdiger Gedenkort, seitdem die Münchner Künstlerin Aneta Steck 2007 dort heimlich eine Büste von sich aufgestellt hatte, die ein halbes Jahr lang unbemerkt blieb. Lena Christ steht hier unter vier Frauen inmitten von etwa achtzig Männern. Und das erst seit dem Jahr 2000! – Noch fragwürdiger!
Theater versus Vergessen
Mir scheint es allerhöchste Zeit an Lena Christ zu erinnern. Und ich kann sagen, unser Stück ist dazu ein sehr lebendiger Beitrag. Theater ist lebendig. Es rezitiert nicht nur gedruckte Buchstaben. Es kann Tote erwecken. Und ich bin überzeugt, dass Theater deshalb dem Vergessen allgemein viel entgegenzusetzen hat.
Wie es aussieht, gibt es auch viel zu tun: Mädchen haben noch immer brav und angepasst zu sein, familiäre Gewalt ist an der Tagesordnung und Bairisch steht seit 2009 auf der UNESCO-Liste der gefährdeten Sprachen.
Autorin: Pia Kolb
Homepage
Vielen herzlichen Dank für die Theater-Perspektive auf Lena Christ ausgehend von den Lausdirndlgeschichten! Es freut uns enorm, dass wir neben Gisela Elsner noch einen weiteren Beitrag zu #femaleheritage aus dem Theater-Bereich erhielten – eine große Bereicherung, gerade hier die praktische Perspektive auf die Entstehung eines Theaterstückes!
Lena Christ und die Monacensia
- Die Monacensia verwahrt den Nachlass von Lena Christ.
- Gerne erinnern wir hier an unsere viel besuchte Ausstellung „Lena Christ – Die Glückssucherin. Die Bayerische Schrifstellerin Lena Christ“ (Juli 2012 – April 2013), die Gunna Wendt kuratierte.
- Unser Blogbeitrag: „Das schlimmste Lausdrindl vom Dorf“. Zum 100. Todestag von Lena Christ“ (29.5.2020)
[1] MUH – Bayerische Aspekte, Ausgabe 37, 2020, Dominik Baur: Madam Dichterin – Zum 100. Todestag von Lena Christ, Seite 55