Wer war Ingeborg Drewitz? Wofür stand sie ein? Was war ihr Vermächtnis als gesellschaftlich engagierte Frau? Was ist mit Nestwerken und kreativer Selbstermächtigung durch Mit-Wirken gemeint? Darauf geht Barbara Fischer in ihrem Gastbeitrag zur Blogparade #femaleheritage ein. Drewitz habe ihr gezeigt,
wie trefflich sich die eigene Emanzipation mit dem zugeschriebenen #femaleheritage zu gesellschaftlichem Engagement verdichten kann, um sich damit umso wirkungsvoller gegen antiemanzipatorische Widerstände zu wehren.
Barbara Fischer
In Berlin tagen über tausend Frauen an der Technischen Universität zum Thema Frauen und Schreiben. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ berichtet darüber auf Seite Zwei und das Fernsehen ist vor Ort. Es gibt Kinderbetreuung, Diskussionen und Lesungen. Männer sind nicht ausgeschlossen. Wann soll das denn gewesen sein? Klingt nach #FakeNews. Aber nein, denn wir schreiben das Jahr 1976. Die Frauenbewegung erlebte damals einen neuen Höhenflug und ebenso die Demokratisierung des kreativen Schaffens noch lange vor dem digitalen Wandel.
Zu der 2. Berliner Autorentagung unter dem Motto “Schreib das auf Frau” hatte unter anderem Ingeborg Drewitz eingeladen. Heute kennt man sie kaum noch. Dabei hat Drewitz viel veröffentlicht. Sie publizierte Romane, und Erzählungen, schrieb Theaterstücke und Hörspiele. Sie starb am 26. November 1986. An ihrem Todestag denke ich über ihr Vermächtnis nach. Was ist Drewitz’ Beitrag zum #femaleheritage?
Selbstbestimmung
Drewitz glaubte an die Macht des Wortes, an die Kraft des Schreibens, die dem Menschen den aufrechten Gang ermöglicht. Für sie selbst bedeutete das Schreiben die Emanzipation des eigenen schöpferischen Ichs. Erinnern wir uns: Drewitz wirkte in einer Zeit, als noch die meisten Frauen ihre Lebenserfüllung in der ihres Gatten sahen. Frauen idealkreiselten in der Kleinfamilie. Allein dort, so diktierte die bürgerliche Gesellschaftsordnung, fände frau ihr Glück: indem sie sich aufopferungsvoll im Familienidyll um das „bisschen Haushalt“ und die Kinder kümmerte sowie ihrem Gatten den Rücken für die Karriere in der Welt da draußen stärkte. Noch in 1970er Jahren brauchten Frauen die Erlaubnis ihres Ehemannes, um einen Arbeitsvertrag unterschreiben zu können oder um ein Bankkonto zu eröffnen.
Drewitz hingegen schrieb. Sie schrieb trotz Ehe, trotz ihrer vier Kinder, trotz finanzieller Engpässe. Und sie schrieb erfolgreich. Zwischen 1958 und 1986 veröffentlichte sie allein acht Romane. Hinzu kamen Erzählungen, Stücke für Bühne und Radio, ferner Sachbücher. Außerdem war sie Herausgeberin etlicher Werke. Zwei ihrer Bücher sind mir noch aus den 1980ern präsent: “Gestern war heute”, eine Familiensaga über drei Generationen, und ihre Biographie von Bettina von Arnim. Leider habe ich Ingeborg Drewitz nie persönlich erlebt.
Doch nicht die Autorin beschäftigt mich heute. Die Blogparade #femaleheritage motiviert mich nachzudenken, wie es Frauen gerade oder trotz ihrer sozialen Rolle gelingt, die Mechaniken der gesellschaftlichen Fesseln zu sprengen, die sie in der Geschichte und bis heute oft hindern, sie selbst zu sein und gesellschaftlich wirksam zu werden. Drewitz war emanzipiert. Sie lebte ihr eigenes schöpferisches Potential aus. Aber ihr Vermächtnis lbeinhaltet noch etwas anderes: Mich interessiert ihr Vermächtnis als gesellschaftlich engagierte Frau. Mir scheint, gerade in ihrem ganzen gesellschaftlichen Wirken in ihrer sozialen Rolle als Frau ist sie bis heute relevant.
Die soziale Rolle der Frau war tief in Drewitz‘ Denken und Handeln verankert: das Kümmern, die Empathie und das Nestwerken. Nein, nestwerken mit “s” ist kein Tippfehler. Mit diesem Wort will ich die Idee des Netzwerkens mit der Einsicht, dass Beziehungen nur auf der Basis von Vertrauen Bestand haben, in dem geschützten Raum gleichsam eines Nestes gedeihen, in einem Wort vereinen.
Nestwerken
“Die Zeit des konkreten Arbeitens ist angelaufen, wir fangen nicht immer wieder beim Nullpunkt an … Die Frage ist jetzt: wie machen wir uns gegenseitig Lust zum Schreiben?“, zitierte 1976 Jutta Kamke, die Autorin des “Die Zeit”-Beitrages, eine Teilnehmerin zusammenfassend zur Tagung “Schreib das auf Frau!”.
Genau um das konkrete Arbeiten ging es Drewitz. Sie setzte sich unermüdlich dafür ein, dass wie sie auch andere Menschen einen Freiraum zum Schreiben fanden. So gehörte sie neben Günter Grass, Heinrich Böll und Martin Walser 1969 zu den Gründer*innen des Verbandes Deutscher Schriftsteller, einer Gewerkschaft für professionelle Autor*innen. Sie war Vizepräsidentin der deutschen P.E.N.-Sektion. Über amnesty international engagierte sie sich für verfolgte Autor*innen und machte sich in Deutschland für Publikationsmöglichkeiten von Inhaftierten stark. Auch für die Frauen der 2. Berliner Autorentagung nestwerkte sie.
Sie glaubte wie Joseph Beuys an die demokratische Kraft des Diktums “Jeder Mensch ist ein Künstler.” In dem 1973 von Drewitz gegründeten West-Berliner Verein Neue Gesellschaft für Literatur (NGL) bekamen Autor*innen einen konstruktiven Rahmen, in dem sie sich entfalten konnten, und eine Bühne, um sich dem Publikum vorzustellen. Der Verein bot den Teilnehmerinnen der Berliner Autorentagung eine schöpferische Heimstatt. In den AGs konnten sich die Frauen im kleinen Kreis ausprobieren. Für das größere Publikum organisierte der basisdemokratische Verein Lesungen und warb dafür Fördermittel ein. Nach der Wende fusionierte die NGL mit dem Berufsverband der Schriftsteller der DDR und zählte zeitweilig über 700 Mitglieder. 1994 wurde ich als eine der ersten Berliner “Kulturmanagement”-Absolventinnen Geschäftsführerin dieses Vereins und leitete ihn vier Jahre lang.
Ingeborg Drewitz und #femaleheritage
Was mich damals faszinierte und mich bis heute in meiner Arbeit begleitet, war die Erfahrung, wie viele Menschen von dem Rahmen, für den Drewitz den Grundstein gelegt hatte, künstlerisch profitierten. Es gab damals noch keine Studiengänge für Autor*innen. Das Deutsche Literaturinstitut wurde erst 1995 in Leipzig gegründet und bot zunächst nur wenigen jungen Menschen eine Ausbildung zur Schriftsteller*in an. Das institutionell geförderte Angebot der NGL richtete sich hingegen an alle Menschen. Man musste nicht veröffentlicht haben, die Selbstzuschreibung als Autor*in genügte. Allerdings wurde die Bereitschaft erwartet, sich konstruktiv mit der Kritik der Kolleg*innen in der Arbeitsgruppe auseinanderzusetzen.
In der NGL lernte ich, wie essentiell neben dem professionellen Management, wie ich es im Studium gelernt hatte – der Erhebung von Besucherstatistiken, dem Sponsoring und der PR-Arbeit – das Nestwerken war. In den geschützten Räumen der Arbeitsgruppen entpuppten sich Menschen, die bis dahin noch keine Zeile veröffentlicht hatten und von denen man es nicht erwartet hätte, als begabte Lyriker*innen oder Märchenerzähler*innen. Ich lernte, dass mensch für diesen Rahmen stets kämpfen muss. Denn die kreative Selbstermächtigung ist ständig vom Diktat des kommerziell erfolgreichen Mainstreams bedroht. Allianzen schmieden war das Rezept der Drewitz, das auch mir den Weg wies. Und ich lernte, die fruchtbare Dynamik zwischen der Gelegenheit zur schöpferischen Teilhabe und dem Engagement von eben diesen kreativen Menschen für andere – trotz aller eitler Konkurrenz – für eine demokratische Gesellschaft und ihre Umwelt zu schätzen. Dabei war es letztlich nicht so entscheidend, wie “erfolgreich” jemand im Einzelnen war, motivierender schien mir damals das selbstaufbauende Gefühl, das aus dem Mit-Wirken erwuchs– eine Lektion, die mich bis heute antreibt. Eine demokratisch mündige Gesellschaft braucht aktive, kreative und sich einbringende Menschen.
Das Verdienst der Drewitz war es, sich um andere zu kümmern, ihnen zuzuhören, empathisch Mut zuzusprechen, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, ohne sich selbst ins Zentrum zu stellen. Metaphorisch gesprochen, ihnen ein Nest zu bauen, in dem sie flügge werden konnten. Komisch, alles Eigenschaften, die traditionell eher Frauen zugeschrieben werden. Drewitz hat mir gezeigt, wie trefflich sich die eigene Emanzipation mit dem zugeschriebenen #femaleheritage zu gesellschaftlichem Engagement verdichten kann, um sich damit umso wirkungsvoller gegen antiemanzipatorische Widerstände zu wehren. Danke Ingeborg.