Wie erlebte Hans Pleschinski den Mauerfall von München aus? Als junger Mann entscheidet er sich für das überschaubare München als Lebensmittelpunkt – und beobachtet im Laufe der 1980er Jahre argwöhnisch die Entwicklung seiner „Heimlichen Hauptstadt“ und die einer anderen, damals noch geteilten Stadt im Osten Deutschlands. Für unsere Artikel-Serie* zur Ausstellung #PopPunkPolitik blickt Hans Pleschinski zurück auf ein Münchner Leben zwischen Uni, Theatern, Kunstgalerien, Kneipenbesuchen mit Rainer Werner Fassbinder, Konzerten in Live aus dem Alabama und langen Nächten am Schreibtisch. Bis in Berlin die Mauer fällt …
„Mauerfall“ von Hans Pleschinski
Ich habe nichts gegen Berlin. – Was der Stadt, dem Land und der Welt übrigens gleichgültig sein könnte.
Im Gegenteil. Von Kindesbeinen an hat die große Stadt an der Spree mich beeindruckt, angeregt, sogar begeistert. Während Besuchen bei vielen Verwandten in ihrem Ost-Teil spielte ich um 1965 mit meinen gleichaltrigen DDR-Kusins und Kusinen im Pionierpark von Karlshorst. Als Begleiter meiner Tanten reihte ich mich in die Warteschlangen vor Ostberliner Fleischereien und Gemüseläden ein. In Köpenick ließ ich mich von Tante Hilde vom Fenster zurückreißen, nachdem ich meiner Schwester auf der Straße laut zugerufen hatte: „Komm! Gleich fängt Bonanza an!“ Noch eine Stunde lang saß Hilde bleich auf einem Stuhl und erwartete wegen des unerlaubten Empfangs von Westfernsehen das Eintreffen der Volkspolizei, ihre Verhaftung und die Entlassung ihres Mannes aus dem Schuldienst.
Die DDR, die schwerer für die deutsche Kriegsschuld zu zahlen hatte als der Westen, machte mich sensibel für das gebremste Leben in einer Diktatur. Die Fernsehbilder vom Mauerbau waren die ersten, die ich als Fünfjähriger sah.
Neben dem grauen, in seiner Weise spannenden Ostberlin lockte später der Westen der Stadt. Auf der obligatorischen Klassenfahrt besichtigten wir das Reichstagsgebäude, feierten uns durch die Berliner Nächte ohne Sperrstunde, sahen grandiose Theateraufführungen und waren hingerissen vom Film Cabaret mit seinen Songs und mit Liza Minelli. Berlin belebte; schrille Gestalten kreuzten den Weg, überall war immer etwas los. Auch jede spätere Reise zu Freunden verhieß Tamtam, Party, exotische und wüste Kneipen, einen Opernbesuch mit Joint in der Pause und Sex in Kellerlokalen. In Schöneberg fand ich mich auf einer Silvesterfeier wieder, auf der sämtliche Gäste als Telefone, Telefonzellen, gar Telefonbücher verkleidet waren. Berlin, in dem teilweise auch studiert und gearbeitet wurde, wirkte dermaßen befeuernd, dass man als junger Mensch, der alles erfahren wollte, unbedingt dort leben musste.
Heimliche Hauptstadt: München
Doch – Berlin war eine geteilte Stadt. Ihr Osten lag gefesselt im misslingenden Sozialismus, ihr Westen leuchtete durch Subventionen aus der Bundesrepublik und wurde von ihnen in Gang gehalten. So großartig, geschichtsträchtig, kulturreich Berlin sich auch darbot: Welche Zukunft hatte die Inselstadt? Womöglich keine.
Aber im Süden Deutschlands hatte sich in aller Stille ein anderer Ort zur Metropole, zur Alternaive für das frühere Zentrum Deutschlands entwickelt, zur Heimlichen Hauptstadt: München.
Dorthin, ins ferne Bayern, an die Ufer der Isar, zog es mich aus der Lüneburger Heide. Warum? München war erheblich kleiner, überschaubarer als Berlin. München war eher eine Randstadt Deutschlands. Es hatte selten Kultur und Politik in großem Maßstab beeinflusst. Dennoch. Für einen Achtzehnjährigen Mitte der 1970er Jahre schien München ein Tor in eine vielfältige, erlebnisreiche und kreative Zukunft zu sein. Angesichts schöner Bauten hatte auf einer Durchreise ein Pariser Freund gesagt, wie zuvor schon Charles de Gaulle bei einem Münchenbesuch: „Voilà une capitale!“ – während über Berliner Gebäuden weiterhin der Nachkriegsdunst hing.
In der süddeutschen Kapitale, die in Kunst, Mode, Filmindustrie, die mitsamt ihrer Bohème zunehmend tonangebend wurde, wollte ich leben und mitmachen. Zudem lagen Italien, Österreich, die Alpen vor der Haustür, was verlockender wirkte als die Ebenen Polens, die sich bis Sibirien erstrecken.
Unfreiwillig hatte München vom deutschen Bankrott 1945 profitiert. Schauspieler, Schriftsteller, die sonst wahrscheinlich in der Reichshauptstadt gelebt hätten, von Hans Albers bis Erich Kästner, hatte es in den Süden verschlagen. Nach der künstlerisch fulminanten Prinzregentenzeit wurde München abermals zum Sammelpunkt für Künste und Künstler, die offenbar eine Ersatzmetropole brauchten, in der man sich traf, sich mied, in der ein Neubeginn möglich war. Bereits in meinen Kinderjahren war München bundesweit erheblich präsenter geworden.
Die weltweit erfolgreichen Krimiserien Der Kommissar, später Derrick und andere spielten eine große Rolle für einen Münchner Lebensstil. Das Zivile, das Verständnisvolle, das dezent Bundesrepublikanische stand in diesen Serien obenan: Die Verbrecher in München waren keine Unmenschen mehr, sie hatten nur psychologische Defekte. Die Ermittlungsbeamten vertieften sich in die komplexen Charaktere, und am Schluss wurde eben jemand verhaftet. Die neuen TV-Schauplätze Schwabing, Grünwald, Haidhausen – nicht Berlin-Mitte, Wilmersdorf, Neukölln – prägten sich jedem Bundesbürger ein. Auch so entstanden die Heimliche Hauptstadt und ihr Nimbus.
Lebenstheater Stadt
Als ich 1976 mit meinem VW-Käfer, einer Matratze und reichlich Lebensmut in München eintraf und ein Zimmer, mit Toilette auf dem Gang und Dusche im Keller, bezog, war die Hauptstadtfunktion Münchens ziemlich fraglos. Die Olympischen Spiele vier Jahre zuvor hatten die Stadt enorm aufgewertet, U-Bahnstrecken wurden gebaut und die Vororte wuchsen. Ich hatte bereits Romanmanuskripte im Gepäck und glaubte, dass ich in einer dynamischen Stadt dynamisch über das Wichtige im Leben erzählen konnte. Wo der große Wirbel stattfindet, dort werden auch die Kunst, die Literatur neuartig, funkensprühend und gleichzeitig tiefgründig sein, im großen Lebenstheater München.
Mit anderen Zugereisten studierte ich Theaterwissenschaft, ich stellte mich im Gärtnerplatztheater vor und konnte als Komparse in Opern und Musicals passabel dazuverdienen. Daneben putzte ich in einer Kunstgalerie, wo sich mir die Avantgarde der Malerei erschloss: „Über dieser grauen Linie noch der Punkt, mehr nicht, man muss sich in die Spannung vertiefen.“ Aus Bekanntschaften wurden Freundschaften, und von einem Stammtischgespräch mit Rainer Werner Fassbinder ging es bald als Statist zu den Dreharbeiten von Berlin Alexanderplatz. In München drehten ebenfalls Klaus Lemke und Ingmar Bergman, bei denen ich einen arabischen Kellner und den Insassen einer Irrenanstalt mimen durfte.
Richard III. und Live aus dem Alabama
Woher die nötigen Kräfte stammten, weiß ich nicht. Wahrscheinlich aus dem gemeinsamen Experiment München. Vormittags besuchte ich die Universität, nachmittags saß ich in der Generalprobe von Richard III. im Residenztheater, abends tanzte ich in Gigi, nachts schrieb ich meine Literatur. Die für mich fetzigste Musik genoss ich in den Konzerten Live aus dem Alabama, moderiert von Günther Jauch oder Sandra Maischberger. Erotische Genüsse, vor Aids, waren an jeder Ecke zu haben. Mein erstes Buch wurde 1984 veröffentlicht, schließlich nahm mich noch der Bayerische Rundfunk in seiner Kulturabteilung auf.
Was sollte da Berlin?
Ich kann mich an keinen Impuls aus der allmählich wie in sich selbst versinkenden Stadt erinnern oder nahm ihn nicht wahr.
Das Neue Deutschland erschien zwar als Zeitung in Ostberlin, aber das lebendige neue Deutschland, international, oft beschwingt, ohne größere Geldnöte, lag, mitsamt Oktoberfest, an der Isar. Junge Menschen aus Schwaben, aus Friesland, die Lebensträume verwirklichen wollten, machten sich in den Süden auf.
München leuchtete. Das angestammt Bajuwarische wurde vom Europäischen durchdrungen und überflügelt.
Bonn seinerseits war der Regierungssitz einer bereits gewohnten und funktionstüchtigen Republik. Die Formel bei Nachrichtenmeldungen: „Bonn. Das Bundeskabinett hat in seiner gestrigen Sitzung beschlossen … Bonn … “ war das Übliche.
Begeistert und voller Hoffnung auf eine gemeinsame und solidarische Zukunft verfolgte auch ich die mutige Rebellion großer Teile der ostdeutschen Bevölkerung gegen die Tyrannei ihres Staats. Eine friedliche Revolution in Deutschland – eines der schönsten Wunder. Zum ersten Mal bereute ich es, im fernen München zu sein anstatt hautnah die epochalen Ereignisse zu erleben, mit einem freien Europa am Horizont.
Mauerfall und Stillstand 1989
Im Herbst 1989 wich ich kaum vom Fernseher, zu viel Einmaliges ereignete sich in Leipzig, Erfurt, in Ostberlin.
Während in München nichts geschah.
„Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen beantragt werden …“, verkündete am 9. November in Ostberlin der SED-Funktionär Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz, „… ab sofort, unverzüglich.“
Ich saß wie versteinert im Sessel.
Die Grenzöffnung.
Der Mauerfall.
Wer konnte es fassen? Ich war bis zum Weinen überwältigt. Und im selben Moment war mir klar: Aus! München! Wo ich bin. Aus. Wo mein Leben mit jedem Tag und Stein verwoben ist. Vorbei mit Heimlicher Hauptstadt. – Berlin wird kommen. Wiederkommen. Ab jetzt lebe ich in der Provinz. Was mache ich, wenn ich meine, das Leben ist dort am intensivsten, wo jetzt am intensivsten gelebt wird? In Berlin!
In Windeseile, während im Fernseher die Mauer gestürmt wurde, ahnte ich das Kommende. Schriftstellerkollegen, Regisseure, Schauspieler würden abwandern. Maler, Fotografen fänden in Berlin bezahlbare und größere Ateliers als in München.
Zur Selbstverwirklichung würden junge Menschen nicht mehr in die bayerische Landeshauptstadt ziehen. Sämtliche Berichterstattung würde sich nun fortwährend auf Berlin beziehen: „Berlin. Der Bundespräsident …“ Die Berliner Theater würden hauptstädtisch in Schwung gebracht und Baudenkmäler herausgeputzt werden. Alle Staatskraft an die Spree. Innerlich pochte ich auf den Föderalismus und darauf, dass Hannover, Dresden, Mainz, München für das Land ebenso bedeutend zu sein hatten wie möglicherweise Berlin als Bundeshauptstadt.
Ich hatte aufs falsche Pferd gesetzt. Ich war in München hängen geblieben.
Es hat sich alles beruhigt.
Eine Frage des Herzens
Längst glaube ich nicht mehr, dass man dort am gehaltvollsten schreibt, wo die meisten Menschen leben. Goethe diktierte in Weimar, Flaubert grübelte in Rouen. München ist schön und einmalig geblieben; wenn es auch nicht mehr brodelt. Den Verlust vieler Kollegen, die an die Spree gezogen sind, bedauere ich sehr. Ich finde es beneidenswert ungut, dass in Berlin ein neues Museum nach dem anderen gegründet und finanziert wird, während anderorts der Ist-Zustand vorherrscht. Doch man kann nach Berlin reisen und sich an der Vielfalt der Stadt erfreuen. München hat weiterhin die Alpen und Berlin das Oderbruch. Oper und Orchester im Süden genießen Weltruhm. Allerdings ärgert mich weiterhin die bornierte Ankündigung in Radio und Fernsehen: „Hauptstadtstudio Berlin.“ Die Hauptstadt ist im Grunde genommen für jeden der Ort, an dem er lebt. Ich liebe München, ich liebe Berlin.
Wahrscheinlich leide ich an einem Syndrom, das der portugiesische Romancier Fernando Pessoa auf den Punkt gebracht hat:
Ich möchte jeder Mensch an jedem Ort zu jeder Zeit sein..
Hauptsache, so möchte ich den Befund noch einschränken, es gibt dort einen guten Zahnarzt, Aspirin und angenehme, am besten sogar anregende und hilfsbereite Zeitgenossen. Einen Wein, zumindest passables Essen und einiges zu entdecken. Dann ist jeder Ort eine Attraktion: Rostock, Prag, Syrakus, Wien, Boston, Omsk, Marrakesch, Celle an der Aller.
Weitere Artikel von und mit Hans Pleschinski bei uns im Blog:
- Hans Pleschinski – Lesung und Gespräch zu seinem Roman „Am Götterbaum“ (21.4.2021)
- Hans Pleschinski: „Der Wind frischte auf.“ – Erster Satz | #monliest (28.4.2020)
* Die Artikel-Serie zu #PopPunkPolitik verlängert die Ausstellung in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft Themen der 1980er Jahre aus literarischer und heutiger Perspektive.
Dieser Beitrag wird gefördert von der Ludwig-Delp-Stiftung