Für #femaleheritage berichten Lisa Jeschke und Theresa Seraphin ausgehend von ihrer Arbeit an „Erika & Therese GAY AGAIN“ in zwei Blogbeiträgen über historische Hintergründe und Ungereimtheiten, Archivlücken und Leerstellen im kulturellen Gedächtnis. Lisa Jeschke zeigt am Beispiel von Therese Giehse auf, wie widersprüchlich unzureichend das Frauen- und Männerbild der 1930er Jahre war und appelliert für einen neuen diversen Genderbegriff.
„Therese-Giehse-Erika-Trans-Mann”. Arbeitsnotizen zu Gender und Archiv
Am schönsten finde ich das Bild, auf dem Klaus und Erika Mann beide Hemd und Krawatte tragen, er eine Zigarette im Mund, sie eine Zigarette in der Hand, beide mit nach hinten gekämmtem Kurzhaarschnitt und hochgekrempelten Ärmeln – und das Bild einer butch Therese Giehse im Exil. Dass Erika Mann und Therese Giehse GAY waren, ist so bekannt, wie verdrängt. Visible und verdrängt gilt aber auch für das Spiel der beiden mit nicht-normativen Genderpräsentationen. Was können wir neu sehen, rückwärts vorwärts? Auch in transgender Hinsicht, auch mit neuen Begriffen, auch mit Bezug aufs Archiv? Über Gender wird nicht zu viel geredet, sondern zu wenig!
Bevor ich hauptsächlich über Therese Giehse schreiben werde, zunächst zu einem Vorfall, der Erika Mann betrifft: Am 13. Januar 1932 trat sie auf der Großen Öffentlichen Frauenversammlung in München auf. Gunna Wendt schreibt in ihrer Doppelbiografie Erika und Therese (Piper, 2018), dass der Völkische Beobachter nicht nur gegen die „Pazifistische[n] Frechheiten der Internationalen Frauenliga“ polemisierte, sondern auch gegen Erika Manns Genderpräsentation: „In Haltung und Gebärde ein blasierter Lebejüngling“. Die Zeitung setzte nach: „Das Kapitel ‚Familie Mann‘ erweitert sich nachgerade zu einem Münchner Skandal, der auch zu gegebener Zeit seine Liquidierung finden muss“ (Wendt, 183). Eine genozidale Schlussfolgerung, die anzeigt, wie bedrohlich der aufkeimende Faschismus sowohl Zusammenkünfte militanter Frauen wie nicht-normative Geschlechtspräsentationen von Frauen als (Lebe-)Jünglinge empfand. Beide Akte sind anti-patriarchal: Erika Manns Auftreten als Frau und Erika Manns Auftreten als Nicht-Frau.
Etwa zur selben Zeit, zu der Erika Manns Genderpräsentation bei den Nationalsozialisten (ihnen gönne ich keine gender-diverse Form) offensichtliche Irritationen hervorrief, bejubelte der Völkische Beobachter absurderweise die – lesbische, jüdische, sozialistische – Schauspielerin der Kammerspiele Therese Giehse so: „Endlich ein deutsches Weib in diesem verjudeten Haus“ (Wendt, 187). Wenig später, 1933, musste Therese Giehse ins Exil. Der Nazi-Satz ist aber genau deswegen so interessant, weil er auf allen Ebenen falsch liegt. Nation und Geschlecht sind offenbar ein nationalsozialistisches Samen-Eizellen-Konglomerat: Was Therese Giehse als urdeutsch erscheinen lässt, ist ihre idealisierte Weiblichkeit. Im Nachhinein liest sich die der eigenen Logik nach fehlerhafte Zuschreibung, wäre sie nicht so grausam, beinahe als lachhaft, offenbart sie doch die Leere im Zentrum nationalsozialistischer „Geschlechts“- und „Rassen“-Ideologien. Deutlich wird an dem Konstrukt dennoch der enge Zusammenhang zwischen binärem Geschlechtsbiologismus und rassifiziertem Nationalismus. Perfekte Weiblichkeit und perfektes Deutschtum treffen offenbar im Geschlecht des deutschen Weibs zusammen – als das wohl noch niemand zur Welt kam.
“There was something queer about her” – Warum Therese Giehse nicht als junge Frau wahrgenommen wurde
Dass bei Therese Giehse paradoxerweise gerade das Übererfüllen dessen, was in pseudo-empirischer Körperbeschreibung als erwachsene Weiblichkeit wahrgenommen wurde, normative Genderrollen letztendlich twisten sollte, hatte sich eigentlich schon in den 1920ern angedeutet. Wendt beschreibt den Beginn von Giehses Karriere wie folgt:
Ende 1924 wurde sie von Paul Barnay, dem Intendanten der Vereinigten Theater, nach Breslau geholt. […] In Breslau spielte sie zum ersten Mal die Marthe Rull in Heinrich Kleists Lustspiel „Der zerbrochene Krug“. Weitere Rollen waren die Amme in William Shakespeares „Romeo und Julia“ und die Mutter in August Strindbergs „Die Kronbraut“. Damals war sie erst sechsundzwanzig Jahre alt, verkörperte jedoch Frauen, die beinahe doppelt so alt waren wie sie. Ein außergewöhnliches Phänomen: Strebte doch so gut wie jede Schauspielerin an, jüngere Frauen zu verkörpern. Nicht so Therese. Bei ihr war eben alles anders.
Wendt, 99.
There was something queer about her, about her “Geschlechtspräsentation”. Therese Giehse konnte im heteronormativen Dispositiv der deutschen Dramatik nicht als junge Frau wahrgenommen werden. Eine
- nicht-normative Alterserscheinung verbunden mit
- der Wahrnehmung als „immer zu dick“ erscheint
- als abweichende Genderpräsentation, welche sie
- im heteronormativen Spektrum nicht als jung und daher nicht als hetero-erotisch begehrenswert erkennbar werden lässt, was sie
- von bestimmten Rollen ausschließt.
Andersherum könnte man sagen: Hätte Giehse Gretchen sein können, wäre das alles nie passiert, wäre Goethe nie passiert!
Alt und entsexualisiert: Wie eine lesbische Frau zum Gesicht der Mutter im deutschen Theater wurde
Mit Ausnahme von gleichzeitig unschuldigen und sexy Töchtern erscheinen im deutschen Theater Frauen kulturell als alt und entsexualisiert codiert, sobald auf sie ein Verwandtschaftsbegriff angewendet wird: Mutter, Tante, Oma. Tatsächlich zählten auch später Mutter- und Großmutterrollen zu Therese Giehses Paraderollen: in Inszenierungen von Bertolt Brechts Mutter Courage (1941, Regie: Leopold Lindtberg) und Die Mutter (1971, Regie: Peter Stein); als Oma Anna Häusler in Helmut Dietls Fernsehserie Münchner Geschichten (1974). So sehr es sich dabei jeweils um brecht’sche, kritische, unkonventionelle Setzungen handelte: Auf einer gewissen Ebene führt all das die Rollenvergabe, mit der sich Giehse schon als junge Schauspielerin auseinandersetzen musste, weiter. Und doch liegt ein subversives Moment in der Tatsache, dass eine Schauspielerin, die nicht-heterosexuell lebte und damals damit auch explizit Nicht-Mutter war, zum Gesicht der Mutter in der deutschsprachigen Dramatik im 20. Jahrhundert werden sollte – ein wirklicher Verfremdungseffekt.
In der kulturellen Imagination noch stärker entsexualisiert als Mutter oder Oma ist die alte Jungfer: Dürrenmatt widmete Therese Giehse sein Stück Die Physiker (Peter Schifferli Verlag, 1962, 5) und noch spezifischer die Rolle des Fräulein Dr. h.c. Dr. med. Doktor Mathilde von Zahnd, Irrenärztin. Wie eine BR-Dokumentation zeigt (18′15″–23′30″), empfand Giehse die ursprünglich für einen Mann konzipierte Rolle von Zahnds als die aufregendste und wählte sie, im Austausch mit Dürrenmatt, selbst. Die Tatsache, dass Dürrenmatt die Rolle nach dem Umschreiben, nun auf Therese Giehse gemünzt, als „bucklige Jungfer“ (Dürrenmatt, 10) einführt, fühlt sich auf Konstruktionsebene wieder einen Tick misogyn an. Wenn man die Figur auf Handlungsebene jedoch nicht, wie so oft der Fall, den Fragestellungen einer Schulunterrichtsethik unterwirft, könnte man sich Therese Giehse als von Zahnd, ganz gemäß ihrer eigenen Begeisterung für die Figur, allerdings auch als trans-queeren, popkulturellen evil hero wieder aneignen. Immerhin beschreibt sich von Zahnd mit so tollen Sätzen wie: „Das Ende. Unfruchtbar, nur noch zur Nächstenliebe geeignet“, und: „Nun werde ich mächtiger sein als meine Väter“ (Dürrenmatt, 72). Oder ins heute übersetzt: „Werd ich mal zum alten weißen Mann, sind alte weiße Männer nicht mehr, was sie sind.“
Trans & proto-trans: Therese Giehse neu lesen
Es gibt also Möglichkeiten, das Giehse-Archiv neu zu lesen und auf großartige Weise hat damit der homosexuell-kommunistische Autor Ronald M. Schernikau in seinem Roman Legende begonnen (1983-1991; Erstveröffentlichung 1999), in seiner wilden, analytischen Vorstellungskraft die bisher sorgfältigste wissenschaftlich-archivarische Auseinandersetzung mit Therese Giehse. Unter dem Namen „kafau“ wird sie hier zum geschlechtsumwandelnden Superhero:
nachdem also kafau längst nicht mehr therese heißt und auch keiner mehr frau giehse zu ihr sagt, besitzt kafau auch eine supergeschwindigkeit und superstärke. mit ihrer supergeschwindigkeit und ihrer superstärke kann sie, die wir ab jetzt als er bezeichnen, ganz schnell laufen und alles umhauen.
Schernikau, Legende, Verbecher Verlag, 2019, 52/53.
Schernikaus schnelles, trashiges Spiel, das Therese Giehse aus gewohnten Fixierungen und Essentialismen herauslöst – sie ist ein „gott“, nicht fetischisierte Schauspielgöttin („die Giehse“) –, Schernikaus Spiel erscheint so sorgfältig und hellsichtig, weil es im Gegensatz zu traditionell-biografischen Materialien Therese Giehses Spiel mit diverser Genderidentität voll erkennt. Also: Therese Giehse ist proto-trans! Therese Giehse ist trans! Laden wir auch Erika Mann wieder mit ein, sind beide zusammen der Superhero Therese-Giehse-Erika-Trans-Mann! Und, um zum Doppel des berühmten Fotos von Klaus und Erika als Lebejünglinge, als fake Zwillinge zurückzukehren, in Schernikau gelingt neben Therese Giehse auch Klaus Mann (der hier endlich nicht mehr Mann heißen muss, sondern zu „tete“ wird) die Geschlechtsumwandlung, Namensänderung, Pronomensänderung, „gott“-Werdung. Vielleicht gibt es ja doch noch Glück, Schönheit und das Gute auf dieser Welt:
nachdem also tete längst nicht mehr klaus heißt und auch keiner mehr herr mann zu ihm sagt, besitzt tete auch eine unverwundbarkeit und ein supergehör. mit seiner unverwundbarkeit und seinem supergehör kann er, den wir ab jetzt als sie bezeichnen, sich allem aussetzen und alles alles hören.
Schernikau, Legende, Verbecher Verlag, 2019, 65.
Im Auftrag der Monacensia arbeiteten Theresa Seraphin und Lisa Jeschke begleitend zur Ausstellung „Erika Mann. Kabarettistin – Kriegsreporterin – Politische Rednerin“ zum Thema Queerness bei Erika Mann. Es entstand unter anderem die Audio–Performance „Erika & Therese GAY AGAIN“. Ausgehend hiervon schrieben Theresa Seraphin und Lisa Jeschke im Rahmen von #femaleheritage über die Problematik des Umgangs mit Erika Manns ebenso geheimen wie politisch belasteten Liebesleben. Lest hier Theresa Seraphins Artikel Mit dem Schweigen sprechen. How Erika can queer us.
Lest hier das Interview mit Lisa Jeschke und Theresa Seraphin bei uns im Blog: GAY AGAIN – Theresa Seraphin und Lisa Jeschke im Interview