Was will #femaleheritage? Zum Auftakt des mehrjährigen Kulturerbe-Projekts schreibt Anke Buettner über Archivlücken und kollektives Erinnern. Im Beitrag zur Blogparade „Frauen und Erinnerungskultur“ lädt sie ein zur Suche nach verschollenem Wissen und zum gemeinsamen Weitererzählen von Literaturgeschichte.
Wer macht das Gedächtnis?
Ein Schreibender braucht die Erinnerung. Sie gehört zu seinem Handwerkszeug, ebenso wie Phantasie und Wunsch zu gestalten. Ohne Erinnerung kein Schreiben.
Grete Weil, Generationen
„Wer zeichnet verantwortlich für die Konstruktionen des Gedächtnisses?“ fragt die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention“ und erklärt dann: „Die Antwort hängt von der Form des politischen Gemeinwesens ab. In totalitären Gesellschaften ist es der Staat, der das kollektive Gedächtnis schafft und kontrolliert; in Demokratien sind es obendrein auch die Bürger, die Künstler, die Parteien, und vor allem die Medien.“ Assmann führt im Weiteren aus, dass „Menschen in Gruppen leben, die durch Bande der kulturellen Erfahrung, der historischen Prägung und der sozialen Loyalität zusammengehalten werden“. Gleichzeitig hebt sie darauf ab, dass diese Erkenntnis ein weites neues Forschungsfeld eröffnet, nämlich „das Feld der Bindungs- und Konfliktpotentiale des Gedächtnisses“.*
Monacensia: Schmuck und Auftrag
Die Monacensia im Hildebrandhaus trägt den schönen Beinamen „das literarische Gedächtnis der Stadt“. Was heißt das? Zunächst, dass die Monacensia mit ihrer ständig wachsenden Sammlung von Vor- und Nachlässen sowie Konvoluten renommierter Schriftsteller*innen sowie von bedeutenden Volkssänger*innen und Kabarettist*innen, die individuellen Erinnerungen dieser Schreibenden und Kunstschaffenden bewahrt. Sie schafft damit die literarische Chronik einer bestimmten Zeit und mannigfaltiger Lebenswirklichkeiten in München. Im Zusammenspiel mit dem Bestand der München-Bibliothek wird allen interessierten Besucher*innen eine Grundlage geboten, immer wieder neue Erkenntnisse über die Stadt, die Gesellschaft, die Welt und vielleicht sogar sich selbst zu gewinnen.
Der Beiname „das literarische Gedächtnis der Stadt“ ist für die Monacensia also weniger Schmuck als konkreter öffentlicher Auftrag in Sachen Erinnerungskultur, Kulturgüterschutz und Bildung. In der Monacensia werden deshalb mittels einer großen Bandbreite an Literatur- und Kulturvermittlungsformaten Brücken von der Vergangenheit in die Gegenwart geschlagen. Gemeinsam mit Autor*innen, Künstler*innen und Forscher*innen gestaltet sie einen Resonanzraum, der die Wirkung von Literatur weit über die Stadt München hinaus erfahrbar macht.
Neu ist das Anliegen, künftig auch interessierte Bürger*innen in die Reflexion einzubinden und im Sinne einer offenen Wissensgesellschaft einzuladen, Archivlücken aufzuspüren und bestenfalls zu schließen.
Wer gehört ins Gedächtnis?
„Menschen leben,“ so Aleida Assmann,“[…] nicht nur als Individuen zusammen, die sie selbstverständlich immer bleiben, sondern sie leben auch in Gesellschaften, Gruppen und Kulturen, denen sie sich zugehörig fühlen und mit deren Hilfe sie sich selbst verstehen und definieren. Solche Identitäten kommen nicht ohne Rückbezüge auf die eigene Vergangenheit aus, sei es, um sich an Vorbildern zu orientieren, sei es, um sich Rechenschaft abzulegen.“ (S. 20)
Sammeln ist eine subjektive Tätigkeit, selbst wenn sie objektiven Kriterien folgt. Manche Perlen sind erst in der Rückschau als solche erkennbar, manche blinde Flecken erst in der Gegenwart sichtbar. Keineswegs lapidar ist also die Frage, an wen oder was eine öffentliche „Gedächtnisinstitution“ wie die Monacensia erinnert:
- Wer hat in dieses Gedächtnis Eingang gefunden?
- Wessen Erinnerungen zählen?
- Wem wird oder wurde kein fester Platz in unserem kollektiven Gedächtnis eingeräumt?
- Überhaupt: Wer bestimmt, wer erinnert wird?
Der Platz im „Kanon der Erinnerungen“ ist ein Statement. Wer drin ist, ist Teil unserer (Stadt)Gesellschaft, wer draußen bleibt, bleibt draußen.
Gedächtnis mit Schlagseite
Mit einem Blick auf die Archivbestände der Monacensia stellen wir fest, dass sich das literarische Gedächtnis bislang einseitig aus Erinnerungen von Männern speist. Das künstlerische Werk von Frauen ist in der Vergangenheit landauf landab als weniger relevant eingeschätzt worden. Auf die Sammelpraxis der letzten Jahrzehnte hat das wachsende Bewusstsein für diese nicht mehr neue Erkenntnis trotzdem bislang relativ wenige Auswirkungen gezeigt.
Das literarische Gedächtnis der Stadt München reproduziert so – genau wie viele Museumssammlungen, Theaterspielpläne, Verlags-, Radio- und Ausstellungsprogramm – eine unvollständige Wirklichkeit. Es produziert also sehenden Auges künftiges Vergessen und verfestigt teilweise bewusst gesteuerten, teilweise unreflektiert geschehenen Gedächtnisverlust.
#femaleheritage: Gemeinsam Weitererzählen
Die Monacensia stellt sich mit dem auf fünf Jahre angelegten Projekt #femaleheritage diesen Lücken und sucht Wege, um die literarischen Texte und Dokumente von Frauen ins literarische Gedächtnis ein- bzw. zurückzuschreiben. Folgende Fragestellungen werden uns dabei begleiten:
- Wie beziehen wir literarische Texte von Frauen sowohl rückwirkend als auch vorausschauend mit in das kollektive Gedächtnis und dessen Vermittlung aktiv mit ein?
- Wie finden wir literarische Quellen und Dokumente, wenn sie vergessen oder verschollen sind? Wie rekonstruieren wir vernichtete Erinnerungen?
- Welche Archivlücken lassen wir heute be- und entstehen? Mit welcher Begründung?
- Wie können wir die Herangehensweise auf die Erfahrungen von Emigrant*innen und Exilant*innen übertragen?
Die Blogparade „Frauen und Erinnerungskultur“ bildet einen sichtbaren und bewusst breitenwirksam aufgesetzten Auftakt für das Langzeitprojekt #femaleheritage, das sich nicht im Füllen der Archivmagazine erschöpfen soll.
Kollektives Erinnern beruht auf Ritualen und gemeinsam gepflegten Geschichten. Es geht also im Wesentlichen darum, den Rahmen des literarischen Gedächtnisses auszuweiten und von Anfang an möglichst viele Menschen über unterschiedlichste Kanäle einzuladen, sich mit dem Entstehen der Lücken zu beschäftigen, selber Erinnerung mitzugestalten, teilzuhaben an der Spurensuche und bekannte Fakten mit neuen Erkenntnissen zu verbinden und anderen davon zu erzählen.
Grete Weil: Ich biete an: meine Geschichte
Grete Weil, die ihr literarisches Schreiben immer mit ihrer historischen und persönlichen Zeugenschaft verband, schreibt in ihrem 1985 veröffentlichten Roman „Generationen“ ganz am Ende:
Ich bin ein Zeuge. Nichts anderes. Als Zeuge muß ich aussagen. Dieser Wunsch, dieser Zwang hat mir die Kraft gegeben durchzuhalten. Viele Jahre wollte es niemand hören. Das ist anders geworden. Eine Welle des Wissenwollens brandet hoch. Die junge Generation, die mich durch ihren Egoismus so oft erschreckt, ist neugierig auf das Leben anderer geworden. Ich biete an: meine Geschichte.
Grete Weil, 1985
Tatsächlich wäre es diese „Welle des Wissenwollens“, die wir mit #femaleheritage auslösen möchten. Wir hoffen am Ende, wesentlich mehr literarische Perspektiven, mehr persönliche Geschichten von Autorinnen in unserem Archiv zu haben. Gleichzeitig hoffen wir, das Bewusstsein für die Verbindung von Erinnerung und Zusammenhalt zu stärken und sind gespannt auf alles, was uns auf diesem Weg begegnet.
Grete Weils Nachlass befindet sich übrigens in der Monacensia im Hildebrandhaus. Seine neue wissenschaftliche Betrachtung wird ein weiterer Baustein des #femaleheritage-Projektes werden.
* Vgl. Assmann, Aleida. Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. 3. erweiterte und aktualisierte Auflage, München, 2020.
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