Eine Reise in eine faszinierend fremde Welt: Unsere Praktikantin Lora macht sich im Literaturarchiv auf Entdeckungstour im Nachlass der bildenden Münchner Künstler_in Rabe perplexum, eine schillernde Persönlichkeit, mehr Kunstfigur als Individuum und Teil der Münchner Kunstszene der 1980er und 1990er Jahre. Ein persönlicher Blick auf einen außergewöhnlichen Nachlass zur Blogparade #femaleheritage.
RABE perplexum – Annäherung an ein Gesamtkunstwerk
„Nicht Mann, Nicht Frau, nur RABE“
Raben fand ich schon immer unheimlich. Schon als ich in der heimatlichen Grundschule ein Gedicht aufsagte und mir der Vers: „Ein Rabe kräht hässlich, unheilverkündend“ im Halse stecken blieb. Ich sah den Raben am Galgenbalken hocken, dort, wo im nächsten Moment der größte Apostel der Freiheitsbewegung seinen Tod finden würde.
Mit stockendem Atem stehe ich vor dem ersten von neunzehn Kartons, die den Nachlass von RABE perplexum enthalten. Eine Menge Lebenszeit – längst verflossen und doch konserviert und in Kisten verpackt. Ein Leben in neunzehn Kisten. Unheimlich.
Ich schüttle meine Bestürzung ab. Ich bin hier, um den Nachlass von RABE perplexum für die nächste Sonderausstellung der Monacensia im Hildbebrandhaus zu sichten. Ich bin hier, um Vergessenes zu entriegeln. Die Relikte aus einem Leben auszugraben. Längst vergangene Zeiten zu schnuppern.
Entschlossen schlage ich die vier Einstecklaschen des Kartons auf. Der Geruch nach dem Staub der Zeit kommt mir entgegen. Ich kenne ihn, er ist immer gleich.
Der Inhalt ist schwarz. Wie hätte es anders sein können?
Ich nehme einen Ordner aus schwarzem Lackkarton heraus und klappe den Deckel auf. Da haben wir es: Handschriftliche Recherche-Ergebnisse zur Etymologie und Symbolik der Spezies namens Corvus, weißer Text auf schwarzer Seite. Offenbar befand auch Manuela Margarete Paula-Hahn Raben für unheimlich, aber auch klug, faszinierend, besonders. Und am Ende einer schwarzen DIN-A4-Seite erfand sie sich neu – als RABE perplexum.
„The Best of RABE perplexum”
Ich blättere um und stelle fest, dass dieser Ordner „The Best of RABE perplexum“ sein muss. Es sind jede Menge schwarz-weiß gestaltete Blätter mit Visitenkarten, Logos und Texten da, die mich in RABEs Welt hineintauchen lassen, weiterhin mehrere an RABE adressierte Briefe – meistens Lob, aber auch hübsch geschminkter Tadel, von bedeutenden Münchner Institutionen wie Kulturreferat, Akademie der Bildenden Künste, Gasteig, sogar ein paar Zeilen eines Verlegers sind dabei.
Ich lese elegische Texte, die RABEs ambivalentes Verhältnis zur Welt erahnen lassen. Bereits hier begegne ich Gedanken der Künstlerin an die Zeit, wenn sie einmal nicht mehr auf der Erde spazieren würde. RABE dachte über Vieles viel nach. Und wie ein heller Kopf oder der Volksmund selbst es gesagt hat: „Das Leben ist schwer für die Denkenden.“ Unter all den aufgeschriebenen Seufzern einer zerrissenen Seele berührt mich dieser besonders: „Ich bleibe dabei – unterirdische Eindrücke sind die besten und spiegeln die Alltäglichkeit ohne Schminke.“
„Ach, RABE, RABE…“, seufze ich, setze mich und fange an. Jetzt hat mich RABE in ihren Bann gezogen, nicht durch schwarze Rabenmagie, vielmehr durch Spitzzüngigkeit. Denn spitzzüngig sein zu können, wenn man leidet, ist eine Kunst für sich.
RABE perplexum ist die Personifizierung der Künstlerseele. Was sie nicht alles war:
Schauspieler – Maler – Schmuckdesigner – Computergrafik – Animation – Video – Schreiber – Regie – Ausstattung – Performer – Bild – Hauer – Konzeptbrachialanalytiker etc. – deut. Wert – Arbeit – nicht schlächter (A. d. A.) als ein Industrieprodukt – systemkompartibel – mit – UP-DATE SERVICE – R.p. Standart – Version 3.0 – Entwicklungsstufe 9 – Förderpreisträger der Stadt München – Expressiver Realexpander.
Wohlgemerkt, alle Selbstbezeichnungen sind maskulin, weil: RABE. An dieser Stelle frage ich mich, wie RABE bei den damaligen Feministinnen ankam und bei den heutigen ankäme. Bei der Spezies des Raben gibt es natürlich Weibchen und Männchen. Und RABE liebte Männer, schon bald tauchen private Fotos mit dem Mann an RABEs Seite auf. Stellte RABE das männliche Geschlecht höher als das weibliche? Jedoch schaffen es all die Briefe, die mit „Lieber Rabe“ beginnen, einen Schalter in mir umzulegen.
„Nicht Mann, nicht Frau, nur Rabe“, wie es in einem Filmporträt von 1984 heißt.
Archivdepot: Recherchen zu RABEs Leben
Ein paar Tage vergehen, bevor ich mich den restlichen achtzehn Kartons mit RABEs Leben widmen kann. Sie befinden sich nicht in Hildebrandhaus, sondern im großen auswärtigen Archivdepot.
Jetzt stehe ich höchstpersönlich vor einem beeindruckenden Stapel Hexaeder. Eine grobe Aufteilung ihres Inhalts hat jemand bereits vorgenommen. Ich bin dankbar, denn ich weiß sofort, welche fünf Kartons ich auf die Schubkarre laden und ins Zimmer nebenan rollen werde. Dort in der Ecke werde ich es mir gemütlich machen.
Zuvor will ich RABEs Gemälde, die Vorder- und Rückseite einer beweglichen Wand zieren, katalogisieren. Ich vergebe provisorische Titel und messe sie aus. Zierlich sind sie nicht, zum Zieren sind sie nicht geschaffen. Aber eindrucksvoll, einnehmend. Und meistens autobiografisch und autoporträtierend:
- RABE in verschiedenen Posen und Formaten,
- RABE mit verschiedenen Attributen,
- RABE vollbeladen mit Supermarkttüten,
- RABE, ein Skelett jagend,
- RABE in Gesellschaft eines Mannes,
- unverkennbar RABE .
M.H. (Manuela Hahn, A. d. A.) hängt dort ebenfalls. Das Selbst, das mehrere Jahre Malen und Zeichnen studierte, das Selbst vor dem Selbst RABE. Auch später, während der Betrachtung von Manuela Hahns akademisch wirkenden Arbeiten, werde ich mich wundern. Genauso, wenn ich noch ein kleines Mäppchen mit bunten Kinderzeichnungen auspacken werde, mit viel Sonne, Gras und Blumen, darunter auch in perfektionierter kindlicher Handschrift ausgefüllte Deutsch- und Mathematikblätter. Manuela Hahns bunte, dekorativ gestaltete Arbeiten aus der Teenagerzeit werden in mir das Bild einer zarten Jugendlichen hervorrufen, die gern an Alices Stelle im Wunderland Abenteuer erlebt hätte. So gar nicht schwarz, so gar nicht RABE.
Nach den Bildern folgen die Kartons mit den Tagebüchern. Ich hole mehrere Dutzend Hefte heraus – die meisten in derselben Optik, DIN A4 groß, der weiße Hardcovereinband vollgekritzelt oder mit schwarz-weißen geometrischen Formen beklebt.
In den aktivsten Jahren, den 1980ern, schrieb und zeichnete RABE bis zu vier Tagebücher von zweihundert Seiten pro Jahr voll. Offenbar fand in dieser Zeit die größte Verschmelzung von RABE privat und RABE perplexum statt, denn Schilderungen über das eigene tägliche Befinden vermischen sich mit Zeichnungen und Drehbüchern zu Performances, Regieskripten und Kostümplanungen, Korrespondenz, Pressespiegeln etc. Alles Zeugnisse eines reichen Innenlebens und eines unermüdlich kreativen Geistes.
Ich sichte mehrere tausend Fotos, die Mehrzahl von Kunstaktionen und Performances, aber auch Fotoaktionen an sich und private Fotos. Viele sind schockierend, weniger durch Nacktheit und Blut, vielmehr durch die durchdringende Offenlegung einer Seele. Nicht auf einem einzigen Foto ist RABE still, abwesend, ausdruckslos. RABE rezipierte, verarbeitete und drückte das Leben aus durch jede Faser ihres Körpers, jedes Accessoire an RABEs äußerlicher Erscheinung lese ich als Statement.
Umso mehr wühlt es mich auf, aus einem Karton RABEs Lederjacke, Rabenmaske und Nietenarmband auszupacken. Ich lege die Besitztümer auf den Tisch und fotografiere sie ab. Sie versprühen noch immer Funken, wie frisch abgelegte Haut. Unter den persönlichen Gegenständen findet sich ein Plüschrabe neben einer klobigen Hunde-Statuette, Puppen mit unheimlichen Gesichtern neben einem durchsichtig gedeckelten Zierteller mit konservierter echter Tarantel darin. In einem dritten Karton stoße ich auf etliche medizinische Instrumente mit künstlichem Blut daran sowie auf zwei Degen.
Als ich den letzten Karton mit 3D-Objekten aufschlage, verschlägt mir der Anblick den Atem. Darin ist ein Neugeborenensarg aus weiß gestrichenem Holz mit goldenen Einlegearbeiten: florale Ranken und auf dem Deckel der Gekreuzigte. Ein Kollege aus dem Archivdepot beobachtet meine erneute Bestürzung trotz meines eng anliegenden Mund-Nasen-Schutzes. Er öffnet den Sarg für mich.
Wir stoßen gleichzeitig ein Ach! hervor. Im Sarg liegt der hohle Puppenkopf eines Mannes mit fest zusammengepressten Augenlidern, einem absurd schmollenden, dunkelbraun angemalten Mund und dünnem Schnurrbart, sein Gehirn liegt in drei Teilen daneben. „Für RABE muss der Tod wohl in Weiß gekleidet sein“, murmle ich und wir schließen mit vereinten Kräften Sarg und Einstecklaschen darüber.
Und dann kommen jene Tagebücher ans Licht, die meine Augen schwimmen lassen – die aus den 1990ern, aus den letzten Jahren vor RABEs Freitod. Aus ihren Seiten spricht Manuela, die nicht RABE, nicht Mann, bloß eine Frau ist, die geliebt werden möchte. Viele Seiten in diesen Tagebüchern sind leer, weiß geblieben. RABEs Videokassetten werde ich ein anderes Mal sichten. Hier und heute habe ich viel von RABE und nicht wenig von Manuela erfahren.
Ich klappe den letzten Karton zu, stelle ihn zurück auf den Stapel und tauche von unter der Erde auf. In der Sonne blinzle ich. Nach den vielen Stunden im Depot sind meine Augen empfindlich geworden. Und plötzlich erinnere ich mich an etwas. Auf jener DIN-A4-Seite mit der Rabensymbolik, die ich als Erstes angesehen habe, las ich, ein erlöster Rabe sei weiß. Ich schreite in den Tag und lächle. Vor meinem geistigen Auge – RABE perplexum in leuchtend weißem Federgewand.
Autorin: Lora Lalova
Lora Lalova (München) ist Kunsthistorikerin & Kunstpädagogin. Sie schreibt Prosa für Kinder und Erwachsene und studiert erneut. Eine ihrer Kurzgeschichten erreichte die zweite Runde des renommierten Münchner Kurzgeschichtenwettbewerbs und wurde auf StoryApp publiziert.
WER WAR RABE PERPLEXUM?
Rabe Perplexum (1956 bis 1996 in München), bürgerlicher Name: Manuela Margarete Paula-Hahn, war eine bildende Künstler_in mit Schwerpunkt Performance- und Videokunst. Als Rabe Perplexum schuf sie sich selbst eine queere Künstleridentität jenseits binärer Kategorien. Rabe inszenierte sich als Gesamtkunswerk, irritierte und faszinierte, brach Tabus und eckte an. 1986 erhielt sie den Kulturförderpreis der LH München. 1996 nahm sie sich im Alter von 39 Jahren in München das Leben.