Ethel Smyth – eine musikalische Zeugin

Ethel Smyth um 1903 © wikimedia.commons gemeinfrei

Ethel Smyth – Frauenrechtlerin, Literatin und Komponistin – schätzte Adolf von Hildebrand als Mensch und Bildhauer sehr. Sie erlebte ihn und seine Familie hautnah in Italien mit allen Höhen und Tiefen. Als Komponistin erregte sie Aufsehen und lernte die musikalischen Größen ihrer Zeit wie Johannes Brahms und Komponistinnen kennen – ein Beitrag von Susanne Wosnitzka zur Dauerausstellung „Maria Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa“.

Ethel Smyth (1858–1944) war ein Kracher. Sie ließ so gut wie nichts anbrennen, war ihrer Zeit weit voraus. Sie bewegte sich in höchsten und in coolsten Kreisen, war musisch wie schriftstellerisch höchst  begabt. Sie war unglaublich mutig, stellte sich gegen gesellschaftliche Normen und Frauenhasser und schuf großartiges Neues, darunter The March of the Women. Diesen Marsch – gleich einer Hymne – verfasste sie 1910 zusammen mit der Poetin Cicely Hamilton (1872–1952) für die Treffen und Demos der britischen Frauenwahlrechtskämpferinnen (böse als „Suffragetten“ bezeichnet). In den vergangenen Jahren ist er bekannter geworden und wird – weil so wunderbar eingängig – auch gerne wieder gesungen, besonders zu Veranstaltungen rund um den Internationalen Frauentag.1

Ethel Smyth gilt heute zweifellos (und es wurde oft genug angezweifelt) als eine der einflussreichsten und bedeutendsten Komponistinnen. Welchen Bezug aber hatte die Engländerin zur Familie Hildebrand in München? Und wie schaffte sie es in deren Kreise?

Ethel Smyth – Die Rebellin

Ethel Smyth war eine Rebellin von klein auf. Sie hatte ein aus Leipzig stammendes Kindermädchen, das mit ihr Klavier spielte und ihr vielleicht auch von Clara Schumann (1819–1896) erzählte, der schon damals berühmtesten aller Pianistinnen. Das mochte in Ethel den Wunsch geweckt haben, genau dort zu studieren. Und zwar Komposition und nicht einfach Klavier wie Abertausende andere junge Frauen in dieser Zeit.

Der Musikkritiker Eduard Hanslick (1825–1904) berichtete von dieser Art der „Klavierschwemme“ als „Schwadron von Damen“, die „die Herren der Schöpfung vollständig vom Clavier verdrängt“ haben. Zugleich plädierte er für die Aufnahme von Violinistinnen in bis dato rein mit Männern besetzten Profiorchestern.2 Etwas anderes als das Klavier blieb den Frauen in dieser Zeit kaum übrig.

Offiziell Komposition zu studieren war für eine Frau etwas so Ungeheuerliches und gleichzeitig Anstößiges, dass Ethel Smyth sich Familienfeiern und Kirchgängen verweigerte, um ihrem Vater ein Studium in Leipzig förmlich abzupressen. Wir wissen das heute so genau, weil es seit ca. Mitte/Ende der 2000er-Jahre vertiefende, exzellente Forschung zu ihrem Leben und Werk gibt.3 Und wir wissen es von Ethel Smyth selbst: Im Zuge einer sich um 1913 entwickelten immer schwerwiegender gewordenen Gehörverminderung wurde sie von einer Komponistin zur Literatin. Sie verfasst ihre Lebenserfahrungen in mehreren Bänden gewitzt und brillant und veröffentlichte diese noch zu Lebzeiten.

Kreise und Sch…e

Rasch bewegte sich Ethel Smyth – aufgeweckt und begeisterungsfähig – in den interessantesten Kreisen Leipzigs. Darunter George Henschel (1850–1934), ein deutsch-britischer Sänger, der mit Johannes Brahms (1833–1897) befreundet war. Henschel erzählte Ethel Smyth im Januar 1874, dass Brahms in Leipzig seine Sinfonie in D-Dur dirigieren würde und dass dieser bei Heinrich von Herzogenberg (1843–1900) – Mitbegründer des Leipziger Bach-Vereins – leben würde. Henschel unterrichtete zudem Brahms über die Kompositionskünste Smyths und legte ihm zwei ihrer Lieder vor. Brahms behauptete nach deren Einsicht gegenüber der Violinistin und Komponistin Amanda Röntgen-Maier (1853–1894), dass Henschel diese geschrieben habe.4

Amanda Röntgen-Maier © wikimedia.commons gemeinfrei
Amanda Röntgen-Maier © wikimedia.commons gemeinfrei

Die Röntgens luden Smyth daraufhin ein, Brahms bei den Herzogenbergs persönlich kennenzulernen.5 Mit näherer Bekanntschaft bezeichnete Brahms Ethel Smyth auf diverse Wortspiele weisend und reimend als eine Schmeiß-Fliege.6 Daher wissen wir heute, wie ihr Nachname ausgesprochen wird – und was Brahms von komponierenden und emanzipierten Frauen generell hielt.

Ethel Smyth rächte sich gewitzt: In ihrem Memoir Impressions That Remained erzählte sie, dass Brahms junge Frauen – besonders wenn sie hübsch wären – anstarre „as a greedy boy stares at jam-tartlets.“ („wie ein hungriger Junge auf Marmeladentörtchen“)7. Sie bemerkte noch dazu, dass sie sich über seine Frauenwitze ärgerte. Vor allem dann, wenn Leute diese offen zur Schau getragenen Sexismen abtaten und meinten, dass sei eben sein Humor. Wenn ihm die „Weibsbilder” nicht gefielen, sei er „incredibly awkward and ungracious”8 („unglaublich unangenehm und ungnädig”) gewesen.

Neue Bahnen

Ethel Smyth blieb dennoch begeistert, denn besonders von Heinrich von Herzogenbergs Frau Elisabeth, genannt Lisl, (1847–1892) hatte sie Bezauberndes gehört. Die junge Komponistin lebte für rund sieben Jahre bei und mit den Herzogenbergs. Sie verliebte sich in Lisl und führte mit ihr auch eine Liebesbeziehung, die Heinrich entweder nicht bemerkte oder ostentativ ignorierte: „Lisl swam into my orbit“9 („Lisl schwamm in meine Umlaufbahn hinein“).

Elisabeth und Heinrich von Herzogenberg
Elisabeth und Heinrich von Herzogenberg © wikimedia.commons www.carus-verlag.com, CC BY-SA 4.0

Über die Herzogenbergs lernte Ethel Smyth auch den bedeutenden Dirigenten Hermann Levi (1839–1900) kennen, dem sie ein großes Choralwerk von sich zeigen konnte:

After hearing it he said: „I could never have believed that a woman wrote that!” I replied, “No, and what’s more, in a week’s time you won’t believe it!” He looked at me at the moment, and said slowly: “I believe you are right!” Prejudice was bound to prevail over the evidence of his senses and intellect – in the end he would surely feel free there must have been a mistake somewhere! … It is this back-wash that hampers women even more than material obstacles.”10

(Nachdem er es gehört hatte, sagte er: „Ich hätte nie geglaubt, dass eine Frau das geschrieben hat!“ Ich erwiderte: „Nein, und Sie werden es auch in einer Woche noch nicht glauben.“ Er sah mich an und sagte langsam: „Ich glaube, Sie haben recht!“ Das Vorurteil musste sich gegen die Belege seiner Sinne und seines Verstandes durchsetzen – am Ende würde er sich sicher so frei fühlen, dass es irgendwo einen Fehler gegeben haben musste! … Es ist dieser Hintergedanke, der die Frauen noch mehr behindert als materielle Hindernisse.)

Im Kreis der Herzogenbergs waren das Ehepaar Mary (1854–1919) und Conrad Fiedler (1841–1895) die wichtigsten Vermittlungspersonen zu den Hildebrands – er als einer von Adolf von Hildebrands engsten Freunden. Um Weihnachten 1879 begegnete Ethel Smyth ihm und seiner Familie in Berlin. In Adolf von Hildebrands bedeutender Kunstsammlung hatte sie erstmals eine Marmorbüste gesehen, die er von Clotilde Annette von Stockhausen geb. von Baudissin (1818–1891) angefertigt hatte. Auf diese Weise lernte sie seine Kunst kennen und hörte von den Schönheiten Italiens, da Conrad Fiedler zusammen mit Adolf von Hildebrand ein verlassenes Kloster in Florenz als Kunstort eingerichtet hatte.

„Komm ein bisschen mit nach Italien …“

Blick von San Francesco di Paola auf Florenz
Blick von San Francesco di Paola auf Florenz © sailko (wikimedia.commons CC BY 2.5

Ethel Smyths Italiensehnsucht war groß zu dieser Zeit. So groß, dass sie Lisl bat, in ihren Briefen das Land nicht einmal beim Namen zu nennen.11 Lisl reiste im April 1880 mit den Herzogenbergs ohne Ethel nach Florenz. Sie traf Irene von Hildebrand, die sich bei Lisls Schwester Julia Brewster (1851–1901) aufhielt. Letztere lebte dort mit dem Literaten und Philosophen Henry Bennet Brewster (1850–1908) zusammen. Dieser sollte später Ethel Smyths Librettist werden und eine zentrale Rolle in einem besonders auch für die Komponistin beschwerenden und Netflix-reifen Beziehungsdrama spielen. Dazu an späterer Stelle mehr (um Smyths hochinteressantes Leben zu verfilmen, bräuchte es generell eine mindestens sechs Staffeln umfassende Netflix-Serie).

Von Florenz aus bat Lisl Ethel schriftlich um Zusendung ihrer Cello-Sonate, weil Irene von Hildebrand begierig auf ihre Musik war: „Send your Cello Sonata quick, quick; she wants to hear something of yours …“12 („Schick deine Cello-Sonate schnell, schnell; sie möchte etwas von dir hören …“).

Endlich war es dann so weit! Im Frühling 1882 erreichte Smyth ihr langersehntes Traumziel Italien bzw. die alte Stadt am Arno, wo sie in einer Mietswohnung in der Via dei Serragli13 untergekommen war: „a fine airy one with a beautiful view across gardens“, aber: „The worst part of the house was of course the sanitary arrangements.”14 („ein schönes, luftiges Haus mit einem schönen Blick über die Gärten“, aber: „Das Schlimmste an diesem Haus waren natürlich die sanitären Anlagen.“)

Das Leben mit den Hildebrands war dann – nachdem sie Probleme mit einem Bein bekommen hatte – die willkommene und spektakuläre Abwechslung:

They lived outside the Porta Romana in a convent at S. Francesco di Paola, the immense ground floor of which had been turned into studios. From the floor above, decorated with frescoes by Hildebrand and his friends, and full of beautiful things, you got what is perhaps the most famous view on Florence, and behind the house was a neglected garden. The family consisted of several children, mostly girls – all of them budding sculptors, painters, or poetesses – and Frau Hildebrand, once a celebrated man-enslaver and still gracious and desirable though no longer in her first youth. One almost regretted that so much receptivity to the touch of life had been finally tamed to domestic uses, for nowadays she was rather by way of being fattish and motherly on principle.

(Sie wohnten außerhalb der Porta Romana in einem Kloster in S. Francesco di Paola, dessen riesiges Erdgeschoss in Ateliers umgewandelt worden war. Vom oberen Stockwerk, das mit Fresken von Hildebrand und seinen Freunden geschmückt und voller schöner Dinge war, hatte man den vielleicht berühmtesten Blick auf Florenz, und hinter dem Haus lag ein vernachlässigter Garten. Die Familie bestand aus mehreren Kindern, meist Mädchen – allesamt angehende Bildhauerinnen, Malerinnen oder Dichterinnen – und Frau Hildebrand, einst eine gefeierte Männerjägerin und immer noch anmutig und begehrenswert, wenn auch nicht mehr in ihrer ersten Jugend. Man bedauerte fast, dass so viel Empfänglichkeit für die Berührungen des Lebens endlich zu häuslichen Zwecken gezähmt worden war, denn heutzutage war sie eher aus Prinzip dicklich und mütterlich.)

Kindersegen

Unter den Kindern gab es auch eine Komponistin: Berta, genannt Bertele, (1886–1963). Wie Felicitas Ehrhardt ganz wunderbar beschreibt, musizierte und komponierte Berta schon als kleines Mädchen Kinderopern. Instrumentalisiert wurden diese vom gleichaltrigen Kinderfreund Wilhelm Furtwängler (1886–1954), der Teile seiner Kindheit in Florenz verbrachte und mit dem sie später kurzzeitig verlobt war. 15 Was aus ihr wurde?

„Bertel Hildebrands Begabung hätte mühelos ausgereicht für eine eigene Karriere als Musikerin. Sie selbst bezweifelte es“ – obwohl sie in München bei Max Reger (1873–1916) Kompositionsunterricht nahm und einige ihrer Werke unter dem männlichen Pseudonym Nepomuk Bertel veröffentlicht wurden.16

Büste von Berta Hildebrand, angefertigt von Adolf von Hildebrand
Adolf von Hildebrand, Berta Hildebrand, die Tochter des Künstlers, 1898, Bayerische Staatsgemäldesammlungen B 339 © CC BY-SA 4.0, URL: www.sammlung.pinakothek.de/de/artwork/5RGQd0XLz3 (abgerufen am 30. Juni 2024)

Dieses tiefe Zweifeln ist bei all der sonstigen Kunstförderung im Hause Hildebrand erstaunlich, waren doch auch solche musikalische und kompositorische Größen wie die bereits erwähnte Clara Schumann oder Hans von Bülow (1830–1894) in San Francesco zu Gast – der von komponierenden Frauen wie schon Johannes Brahms allerdings nichts hielt.

Zwischen Glühwürmchen

Als weitere zauberhafte Erinnerung an Florenz und Irene und Adolf von Hildebrand hielt Ethel Smyth fest:

Yet I remember one evening of reminiscent youthful grace, when after some little domestic festival they all accompanied their guests as far as the Porta Romana; then suddenly she danced a step or two down hill among the fireflies, and I saw a graceful Bacchante hanging aslant between me and the moon. She was a great dear, radiating warmth, kindness, and hospitality, but I got on best with him.17

(Aber ich denke zurück an einen Abend, der mich an jugendliche Anmut erinnerte, als sie nach einem kleinen häuslichen Fest alle ihre Gäste bis zur Porta Romana begleiteten; plötzlich tanzte sie ein oder zwei Schritte den Hügel hinunter zwischen den Glühwürmchen, und ich sah eine anmutige Bacchantin schräg zwischen mir und dem Mond hängen. Sie war so eine Liebe, strahlte Wärme, Freundlichkeit und Gastfreundschaft aus, aber ich verstand mich am besten mit ihm)

Über Adolf von Hildebrand schrieb Smyth bewundernd und hochachtungsvoll:

Hildebrand is, I am certain, one of the greatest artists of all time. Lisl was rather shocked at my saying he impressed me more even than Brahms. […] He was of a serene gay temperament, absolutely natural, and I think “a-moral” is the term to express his complete detachment. Like many “picturing artists” as Germans call them, Hildebrand was deeply musical, played the violin and viola, and could transpose at sight.18

(Hildebrand ist, da bin ich mir sicher, einer der größten Künstler aller Zeiten. Lisl war ziemlich schockiert, als ich sagte, dass er mich sogar mehr beeindruckt hat als Brahms. […] Er war von einem heiteren, fröhlichen Temperament, absolut natürlich, und ich glaube, „amoralisch“ ist der Begriff, der seine völlige Losgelöstheit ausdrückt. Wie viele „bildende Künstler“, wie die Deutschen sie nennen, war Hildebrand zutiefst musikalisch, spielte Geige und Bratsche und konnte bei Vorlage [von Noten] spontan [in andere Tonarten] transponieren.)

Weihnachten und Heiligabend 1882 verbrachte Smyth im Kreis der Familie Hildebrand in San Francesco, „where the children provoked me by foolish gloathing over their presents, while Hildebrand, who loathed these occasions, sat apart, bored and friendly.”19
(„wo mich die Kinder durch törichte Trübsal über ihre Geschenke provozierten, während Hildebrand, der solche Gelegenheiten verabscheute, gelangweilt und freundlich abseits saß.“)

Trauerarbeit

All ihre Freude, in Italien sein zu können, wurde jäh gestört, als sie etwas verzögert vom Tod der Möbeldesignerin, Innenarchitektin und Frauenwahlrechtskämpferin Rhoda Garrett (1841–1882) im November erfuhr. In Trauer über den Verlust einer ihrer engsten Freundinnen verbrachte Ethel Smyth zwei Monate entweder im Bett oder angeschlagen auf dem Sofa, bis die Hildebrands sie für drei Wochen zum Aufpäppeln nach San Francesco holten.

Auf der Suche nach Ablenkung entdeckte sie die legendäre Florentiner Bibliothek von Giovan Pietro Vieusseux (1779–1863) – „the best lending library in the world“20 („die beste Leihbibliothek der Welt“). Sie verschlang alle dort vorhandenen 42 Bände über Napoleon Bonaparte – heute nennt sich das „Binge Reading“. In San Francesco sammelte sie neue Kräfte und Inspiration und begann, Landschaftsporträts und Karikaturen zu zeichnen. Besonders an Letzteren zeigte Adolf von Hildebrand großes Interesse.21

Und erst: „How we made music that spring!“ („Wie wir Musik machten in diesem Frühling!“) Sie übten sich gemeinsam an allen möglichen Kammermusikwerken, derer sie habhaft wurden und auch schafften, einzuüben: Adolf von Hildebrand an Violine oder Viola, Ethel Smyth am Klavier und Henry Bennet Brewster als Cellist.22

Ethel Smyth sitzend auf einer Bank, um 1903
Ethel Smyth um 1903 © wikimedia.commons gemeinfrei

Fatalitäten

Die Zeit in Florenz war so schöpferisch wie zerstörerisch: Ethel Smyth verliebte sich in Julia Brewster – und Henry Bennet Brewster sich in sie. An dieser unglücklichen Konstellation zerbrach nicht nur die Ehe der Brewsters, sondern – besonders tragisch – auch Ethels Freundschaft und Liebesbeziehung mit Lisl. Sie machte Ethel verantwortlich fürs Unglück der Brewsters und wandte sich von ihr ab, Ethel durfte sie nicht mehr sehen. Es gab auch keine Chance auf eine mögliche spätere Versöhnung, da Lisl bereits 1892 starb.23

Ethel ging nach dem Tod von Lisl allerdings zögernd eine Liebesbeziehung mit Henry Bennet Brewster ein, die sich als fruchtbar auf ihr weiteres Opernschaffen erwies.24 Einst existierte auch ein Smyth-Abbild von Adolf von Hildebrand, der von der Persönlichkeit Smyths fasziniert war. Smyth schrieb begeistert dazu:

Hildebrand is doing a profile relief of me which takes up a lot of my time, but of course I am delighted and as proud as a peacock. The best part of it, however, is the intercourse with the delightful man himself. What with great cleverness and fineness, simple direct manners, and natural charm of intelligence, he is one of the most attractive of men.25

(Hildebrand fertigt ein Profilrelief von mir an, das viel Zeit in Anspruch nimmt, aber ich bin natürlich begeistert und stolz wie ein Pfau. Das Beste aber ist der Umgang mit dem reizenden Mann selbst. Mit seiner großen Klugheit und Feinheit, seinen einfachen, direkten Umgangsformen und seinem natürlichen Charme ist er einer der attraktivsten Männer überhaupt.)

Das Profilrelief existierte nur nicht lange: Irene von Hildebrand war der Überzeugung, dass Ethel ein Verhältnis mit ihrem Mann habe. Sie schickte ihre Kinder mit dem Auftrag in sein Atelier, dieses eben erst vollendete Kunstwerk zu zerstören26 – gesagt, getan. Sie sehen: mindestens Kino-reif!

Munich mood

1889 weilte Ethel Smyth nach längerem Aufenthalt in England wieder in München. Hier erspähte sie in einer Lohengrin-Aufführung im Residenztheater von einer Loge aus Pauline Trevelyan (?–1897).27 Ethel verliebte sich heillos in diese Bekannte aus früheren Zeiten. Nach einem gemeinsam besuchten Konzert mit Aufführung von Beethovens Missa solemnis (D-Dur) erfuhr sie über Einflüsse des Münchner Katholizismus als auch durch den von Pauline einen starken religiösen Impuls, woraus mit Mass in D ihr selbstbezeichnetes bestes Werk entstand.

Für diese Zeit berichtete sie in ihren Memoiren nichts über die Hildebrands. Mit Conrad Fiedler unternahm sie aber Ausflüge zu den Schlössern Berg und Neuschwanstein „of the mad king“ („des verrückten Königs“). Sie schrieb, dass sie sich gerade durch München bewegte, als sich das Drama im Wasser vor Schloss Berg abspielte.28 Sie wurde Zeitzeugin des Tods – oder der Ermordung? – von König Ludwig II. und muss die Stadt in heller Aufregung erlebt haben. Eine weitere Beschreibung ihrerseits existiert in den Impressions That Remained allerdings nicht.

Viktualienmarkt München um 1900 © wikimedia.commons gemeinfrei
Viktualienmarkt München um 1900 © wikimedia.commons gemeinfrei

Nach einem Ausflug mit den Trevelyans nach Bad Wörishofen, wo sie von Sebastian Kneipp (1821–1897) persönlich behandelt wurde,29 zogen diese ohne Ethel Smyth weiter nach Südfrankreich – „and then came the worst nightmare of my life“,30 („und dann kam der furchtbarste Albtraum meines Lebens“), denn ihr war überraschend die Unterkunft gekündigt worden. In einer klammen und kalten Notunterkunft hausend wurde sie krank und musste in dieser drückenden „Munich mood“31 („Münchner Stimmung“) elend nach England zurückkehren.

Wehmütigkeiten

1914 sah Ethel Smyth Adolf von Hildebrand ein letztes Mal:

He had been very ill and the bounding vitality and loquaciousness of former years were gone, but he talked enthrallingly about modern work and said, with Hildebrand simplicity: “Compared to these artists I feel like a mere workman” […] My own feeling is that everything he does is so intensely Hildebrand no matter who his progenitors may be, so absolutely free from concession to anything but his own artistic vision, that his work must surely be on the very first line.32

(Er war sehr krank gewesen, und die sprühende Vitalität und Redseligkeit früherer Jahre waren verschwunden, aber er sprach mitreißend über moderne Arbeiten und sagte mit hildebrandscher Einfachheit: „Verglichen mit diesen Künstlern fühle ich mich wie ein einfacher Arbeiter“ […] Mein eigenes Gefühl ist, dass alles, was er macht, so intensiv Hildebrand ist, egal wer seine Vorfahren sein mögen, so absolut frei von Zugeständnissen an irgendetwas anderes als seine eigene künstlerische Vision, dass seine Arbeit sicherlich in der allerersten Reihe stehen muss.“)

Adolf von Hildebrand hatte 1910 einen leichten Schlaganfall erlitten. Der Erste Weltkrieg und dessen Auswirkungen schränkten sein Schaffen stark ein. Er starb 1921 in München.33

1922 reise Ethel Smyth über die Isarstadt nach Salzburg, wo sie als einzige Komponistin bei der Gründung der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik zugegen war. Ob sie das Hildebrandhaus wohl noch einmal besuchte und ihre Erinnerungen an die Familie Hildebrand aufleben ließ?

Ihre literarischen Werke sind empfehlenswerte und brillante Zeugnisse einer mittlerweile wieder weltbekannten Augenzeugin.34

Gründungsmitglieder Internationale Gesellschaft für Neue Musik, Salzburg 1922
Gründungsmitglieder Internationale Gesellschaft für Neue Musik, Salzburg 1922 © Szene Salzburg (Facebook)]
  1. Susanne Wosnitzka: Ethel Smyth – Suffragette in München. Blogbeitrag vom 6.12.2020 für #femaleheritage, eine Aktion der Monacensia, in: wwww.susanne-wosnitzka.de/ethel-smyth-suffragette-in-muenchen-femaleheritage/2020/12/06/ (abgerufen am 22.6.2024). ↩︎
  2. Leipziger Tageblatt und Anzeiger, Nr. 48, 17.2.1883, S. 5. ↩︎
  3. Besonders durch Cornelia Bartsch, Rebecca Grotjahn, Barbara Eichner u. a. mit einer Smyth-Forschungsstelle am musikwissenschaftlichen Seminar Dortmund und der Gründung einer Internationalen Ethel-Smyth-Gesellschaft im Zuge eines wissenschaftlichen Symposiums, https://www.miz.org/de/nachrichten/ethel-smyth-gesellschaft-in-detmold-gegruendet-n7187 (abgerufen am 22. Juni 2024). ↩︎
  4. Vgl. Ethel Smyth: Impressions That Remained. Vol. 1. London (Longmans, Green, and Co.) 1919 (Erstausgabe), S. 179/180. ↩︎
  5. Ebd., S. 180. ↩︎
  6. Ebd., S. 265. ↩︎
  7. Übersetzungen in Klammern von Susanne Wosnitzka. ↩︎
  8. Ebd., S. 264. ↩︎
  9. Ebd., S. 188. ↩︎
  10. Ebd., S. 268. ↩︎
  11. Ebd., S. 285. ↩︎
  12. Ethel Smyth: Impressions That Remained. Vol. 2. London (Longmans, Green, and Co.) 1919, S. 32. Brief vom 17. April 1880, Elisabeth von Herzogenberg an Ethel Smyth, in: ia800906.us.archive.org/15/items/impressionsthatr02smytuoft/impressionsthatr02smytuoft.pdf (abgerufen am 5.7.2024). Um eine mögliche Reaktion der Hildebrands und Brewsters auf Smyths Musik zu erfahren, müsste man im Hildebrand-Archiv Florenz weiterforschen, wo sich noch unveröffentlichte Korrespondenz befindet. Ein Beleg, dass dieses Werk vor dem 17.4.1880 entstanden sein muss. Die Smyth-Expertin Dr. Amy Zigler gibt auf Nachfrage op. 5 c-Moll an. imslp vermutet mit Fragezeichen dahinter eine mögliche unveröffentlichte (andere) Cello-Sonate, in: www.imslp.org/wiki/Cello_Sonata,_Op.5_(Smyth,_Ethel) (abgerufen am 5.7.2024). Opus 5 wurde zwar erst 1887 verlegt, aber damals war es noch so, dass nur verlegte Werke eine offizielle Opus-Nummer erhielten, auch wenn viele weitere Kompositionen bereits vorher fertig waren. Dann kann man die Frage stellen, ob sich eine handgefertigte Abschrift dieser Cello-Sonate noch im Hildebrand-Archiv in Florenz befindet. ↩︎
  13. Ebd., S. 58, leider ohne Angabe der Hausnummer. ↩︎
  14. Ebd., S. 59. ↩︎
  15. Felicitas Ehrhardt: Ästhetisches Utopia. Adolf von Hildebrand und sein Künstlerhaus San Francesco di Paola in Florenz. Untersuchung zu seiner Geschichte und Bedeutung. 1. Auflage. Regensburg (Schnell & Steiner) 2018, S. 104. Ehrhardt schreibt ausführlich über die große Bedeutung der Musik in San Francesco. ↩︎
  16. Wolfgang Herles: Felsen in der Brandung. Braunfels-Hildebrand. Die Geschichte einer deutschen Künstlerfamilie. München–Salzburg (Benevento Publishing) 2022, S. 119/120. ↩︎
  17. Smyth, Impressions, Vol. 2, S. 60. ↩︎
  18. Ebd., S. 60/61. ↩︎
  19. Ebd., S. 67. ↩︎
  20. Ebd., S. 68. ↩︎
  21. Ebd. ↩︎
  22. Ebd., S. 70/71. ↩︎
  23. Melanie Unseld (Konzept): Die englische Komponistin Ethel Smyth (1858–1944), in: mugi.hfmt-hamburg.de/content/mps/22_Smyth/bio2.html (abgerufen am 5.7.2024). ↩︎
  24. Melanie Unseld: Ethel Smyth, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard, Nina Noeske und Silke Wenzel, HfMT Hamburg, 2003ff. und HfM Weimar, 2022ff. Stand vom 26.5.2004, online verfügbar unter mugi.hfmt-hamburg.de/receive/mugi_person_00000776 (abgerufen am 5.7.2024). ↩︎
  25. Smyth, Impressions, Vol. 2, S. 33. ↩︎
  26. Felicitas Ehrhardt: Ästhetisches Utopia. 2018, S. 173/174. ↩︎
  27. Smyth, Impressions, Vol. 2, S. 209. ↩︎
  28. Ebd., S. 207. ↩︎
  29. Ebd., S. 211ff. ↩︎
  30. Ebd., S. 219. ↩︎
  31. Ebd., S. 228. ↩︎
  32. Ebd., S. 62. ↩︎
  33. Letter-Stiftung, ungekennzeichneter Beitrag, in: www.letter-stiftung.de/index.php/biographie.html (abgerufen am 24.6.2024). ↩︎
  34. Von den Impressions That Remained existiert bislang keine Übersetzung bzw. Publikation mit kritischen Anmerkungen auf Deutsch. Einblicke mit ausführlichen O-Tönen (auf Deutsch) geben Eva Rieger (Hg.): Ein stürmischer Winter. Erinnerungen einer streitbaren englischen Komponistin. Kassel–Basel (Bärenreiter) 1988, sowie Heddi Feilhauer (Hg.): Ethel Smyth. Paukenschläge aus dem Paradies. Erinnerungen. Berlin (ebersbach & simon) 2023, sowie einen vertiefenden Einblick in Leben und Wirken Cornelia Bartsch/Rebecca Grotjahn/Melanie Unseld (Hg.): Felsensprengerin, Brückenbauerin, Wegbereiterin. Die Komponistin Ethel Smyth; Rock Blaster, Bridge Builder, Road Paver: The Composer Ethel Smyth. München (Allitera) 2009. ↩︎

Förderung

Mit freundlicher Unterstützung durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München Abt. 4 Public History.

Autor*innen-Info

Profilbild Susanne Wosnitzka

Dies ist ein Gastbeitrag von Susanne Wosnitzka

Susanne Wosnitzka M. A. spezialisierte sich bereits während ihres Studiums der Musikwissenschaft auf Komponistinnen, die in der Lehre so gut wie nicht vorkamen. Heute arbeitet sie freiberuflich u. a. für das Archiv Frau und Musik in Frankfurt/Main sowie ehrenamtlich im Vorstand von musica femina münchen, als wissenschaftliche Beirätin der Schwedischen Komponistinnen-Gesellschaft KVAST und der Deutschen Mozart-Gesellschaft.

Ihre weiteren Forschungsschwerpunkte sind historische Zeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts im Augsburger und Münchener Raum, Augsburger Theater-, Musik- und ‚Freakshow‘-Geschichte. Sie schreibt ihre Dissertation über die Augsburger „Goldene Traube“ als vergessene musikhistorische Lokalität von Weltrang.

Für die #FemaleHeritage-Aktion der Monacensia 2020 verfasste Susanne Wosnitzka mehrere Artikel zu ihren jüngsten Zeitungsfunden u. a. zu Clara Schumann in Augsburg und München, zu den Löwinnen von Paris und ihrer Wiederentdeckung dieser unbekannten Frauenbewegung, zu Ethel Smyth in München und kriminalgeschichtlich zur Schlächterin von Haidhausen.

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