Wie erlebte die Schriftstellerin Grete Weil Antisemitismus, Emigration und Verfolgung als Jüdin? Das offenbart ihr literarisches Werk, das von der Erfahrung der Ausgrenzung und der Auslöschung und von Versuchen des Überlebens erzählt. In ihrem Schreiben verbinden sich Autobiographie und Zeitgeschichte; aus ungewöhnlichen Perspektiven beschreibt sie traumatische Erfahrungen und lotet „Möglichkeiten und Grenzen einer literarischen Arbeit als Zeugin aus“, so Prof. Dr. Irmela von der Lühe in ihrem Gastbeitrag zum „Monacensia–Dossier: Jüdische Schriftstellerinnen in München“*.
Grete Weil – jüdische Erfahrung im literarischen Werk
Spätfolgen – unter diesem Titel hat Grete Weil 1992 eine Sammlung von sechs kurzen Erzählungen vorgelegt. Sie handeln von jüdischer Erfahrung während und nach der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime. Lakonisch knapp und doch anschaulich schildert Grete Weil die Versuche jüdischer Überlebender des Holocaust, mit ihren traumatischen Erfahrungen weiterzuleben. Ein nach Amerika ausgewandertes Ehepaar verschließt sich der Vergangenheit vollständig; eine Frau, die in Deutschland einen Autounfall hatte, stirbt an den Folgen, weil sie, die Auschwitz überlebt hat, die ärztliche Behandlung verweigert; nie mehr will sie von einem Deutschen berührt werden. Die Suche nach der „kleinen Sonja Rosenkranz“, für deren Ermordung sie sich schuldigt fühlt, führt die Protagonistin in die zu Gedenkstätten umgestalteten Todesfabriken von Neuengamme über Dachau, Mauthausen nach Ausschwitz. In der letzten Erzählung konfrontiert sich die Autorin mit sich selbst. Sie befragt die eigene Geschichte, nachdem sie die Nachricht von der Ermordung ihres Mannes erhalten hatte. Der Versuch des Überlebens liegt im Schreiben:
Ein paar Bücher habe ich geschrieben. Sie haben den Menschen erzählt von der Sinnlosigkeit, der Demütigung vom schlechten Gewissen derer, die überlebt haben und immer wieder vom niemals vergessenen Schmerz. Erst wollte sie niemand lesen. Dann wurden sie angenommen – nach sehr langer Zeit. Spätfolge? Ich weiß nicht.[1]
In der Literaturgeschichte von Autorinnen dürfte es einen solchen Fall nicht oft geben: Erst im Jahre 1980, da war sie 74 Jahre alt, erntete Grete Weil den ihr gebührenden Ruhm. Sie wurde als Schriftstellerin und Zeitzeugin geehrt, erhielt Preise und galt als wichtige literarische Stimme in der entstehenden deutschen Erinnerungskultur. Dabei hatte sie schon als junges Mädchen den Wunsch verspürt zu schreiben; dies auch getan, freilich noch nicht für die Öffentlichkeit.
Ausbildung, Emigration und „Zeugin des Schmerzes“
Grete Dispeker stammte aus einem liberalen jüdischen Elternhaus, wuchs am Tegernsee und in München auf, wo der Vater als hochangesehener Jurist eine Anwaltskanzlei führte. Im Salon ihrer Eltern verkehrten Persönlichkeiten aus Kultur und Politik. Sie selbst fühlte sich einer Generation junger Frauen zugehörig, die die Welt als große Bühne empfand und für sich erobern wollte. Seit 1929 studierte sie in Frankfurt und München Germanistik, begann eine Dissertation, die sie zugunsten einer Ausbildung als Fotografin abbrach.
Der Aufstieg der NSDAP, die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler machten alle bisherigen Pläne zunichte. 1932 hatte sie den Dramaturgen Edgar Weil (1908–1941) geheiratet. Er wurde als Jude verhaftet und anschließend in die Emigration gezwungen. Was folgte war – so Grete Weils eigene Worte – ein „jähes Begreifen des Faschismus“ und zugleich ein „Sturz ins Bodenlose“. Sie folgte Edgar Weil ins holländische Exil, führte in Amsterdam ein fotografisches Atelier, erlebte nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 Verhaftung, Deportation und Ermordung ihres Mannes in Mauthausen. 1941 schloss sich Grete Weil dem niederländischen Widerstand an, arbeitete als Porträtfotografin für den Jüdischen Rat; um der Deportation zu entgehen, lebte sie mit ihrer Mutter seit 1943 versteckt in Amsterdam. Die Befreiung und das Ende des Krieges bedeuteten freilich nicht das Ende der Trauer und des Schmerzes.
Zwar kehrte sie 1947 nach Deutschland zurück, heiratete 1961 den Opernregisseur Walter Jokisch (1907–1970), aber ihr Leben und damit auch ihr schriftstellerisches Werk bleiben von der Überzeugung geprägt, eine „Zeugin des Schmerzes“[2] zu sein. Den Spuren der Ermordeten, den Bedingungen und Umständen ihres Todes zu folgen wird zum persönlichen und zum literarischen Vermächtnis einer Autorin, die sich vom „Morbus Auschwitz“ als unheilbar erkrankt empfand:
Ich habe Auschwitz wie andere Tb oder Krebs. Bin genauso schwer zu ertragen, wie alle Bresthaften.[3]
Literarische Arbeit als Zeugin – Möglichkeiten und Grenzen
Die Frage, ob es richtig und zu rechtfertigen war, nach Deutschland zurückzukehren, prägt Grete Weils literarische Arbeit ebenso wie die nicht minder skrupulös erörterte Frage nach Möglichkeiten und Grenzen einer literarischen Arbeit als Zeugin.
- Würde sie die Worte, würde sie eine Sprache für den Schmerz finden, die der Phrase und dem Klischee widerstehen?
- Würde sie als Stimme derjenigen wahrgenommen werden, die selbst nicht mehr Zeugnis ablegen können?
- Würde sie Leserinnen und Leser mit der Bereitschaft zum Zuhören finden, zur lesenden Konfrontation mit literarischen Texten, die den Ermordeten ein Denkmal setzen wollen und mit der Schuld des eigenen Überlebens leben müssen?
Grete Weil fand diese Leser und Zuhörerinnen erst sehr spät: Der späte Erfolg tut gut. Der späte Erfolg tut weh, heißt es denn auch in ihrem Roman Generationen[4].
Autobiographie und Zeitreise – der Roman Meine Schwester Antigone
Den literarischen Durchbruch erzielte sie im Jahre 1980 mit Meine Schwester Antigone. Die antike Heldin, die sich gegen den staatlich verordneten Hass der Liebe verschreibt und dies mit dem Tode bezahlt, wird in Grete Weils Roman zum Gegenentwurf und zum Spiegelbild einer jüdischen Ich-Erzählerin. Diese sucht zwar in den mythischen Vorbildern Orientierung, kann sie aber nicht finden. Im Schatten von Auschwitz verliert die antike Tragödie ihre Wirkungskraft. Die im Frankfurt der 70er Jahre lebende Ich-Erzählerin sucht das Gespräch mit ihrer „Schwester Antigone“, indem sie sich mit den Schrecken der Vergangenheit und ihrer Überlebensschuld und zugleich mit der Gegenwart des „Deutschen Herbstes“ konfrontiert.
Die Frage nach Schuld und Verantwortung radikalisiert Grete Weil in Meine Schwester Antigone literarisch noch dadurch, dass sie den Bericht eines deutschen Wehrmachtsoffiziers über die Liquidierung eines polnischen Ghettos im Jahre 1943 in ihren Text einfügt. Autobiographie und Zeitgeschichte verschmelzen nicht nur in diesem Roman Grete Weils auf literarisch singuläre Weise.
Schon für ihre frühen literarischen Arbeiten – z. B.
- die 1933 abgeschlossene, aber erst 1999 veröffentlichte Erzählung Erlebnis einer Reise
- sowie die 1949 im Ostberliner Verlag „Volk und Welt“ erschienene Erzählung Reise ans Ende der Welt
– ist die bewusste Gestaltung autobiographischer Erlebnisse charakteristisch. Das gilt auch für alle späteren Arbeiten, insbesondere für den 1963 erschienenen, aber völlig resonanzlos gebliebenen Roman Tramhalte Beethovenstraat.
Traumatische Zäsur für alle – der Roman Tramhalte Beethovenstraat
In der Amsterdamer Beethovenstraat hatte Grete Weil im niederländischen Exil gelebt. Hier war ihr Mann 1941 verhaftet und anschließend deportiert worden.
Ich hatte nie bei etwas so sehr wie bei der Tramhalte das Gefühl, daß ich es schreiben muß, weil niemand auf der Welt es schreiben kann außer mir[5].
Freilich gestaltet Grete Weil in diesem Falle die autobiographische Erfahrung in ungewöhnlicher Weise.
Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen,
- der Zeit während der Okkupation der Niederlande 1940–1945
- in den Jahren des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders der frühen fünfziger Jahre.
Der Held, Andreas, wird als Journalist und Angehöriger der deutschen Besatzungsmacht in Amsterdam Zeuge der Verfolgung und Deportation der Juden. Er gewährt einem jungen Juden Unterschlupf, mit dem ihn alsbald eine intensive Freundschaft verbindet, kann dessen Tod jedoch nicht verhindern. All dies wird als Erinnerungsbericht und erlebte Vergangenheit in die Erzählgegenwart des Textes eingeblendet. Der einst erfolgreiche, optimistische und lebensfrohe Schriftsteller findet sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaft nicht zurecht. An seine Karriere kann er nicht anknüpfen; die Vergangenheit, deren Zeuge er wurde und von der er Zeugnis ablegen muss, lässt ihn nicht los.
Obwohl Andreas nur noch ein Thema hat, findet er die Worte, die Sprache nicht: „Worte machen nichts klar, sie decken nur zu“ (S. 211). Denn: „Die Zeit des Geschichtenerzählens ist für ihn vorbei, er hat Anklage zu erheben gegen die Menschen, gegen die Mörder“ (S. 51). Er entschließt sich zu einer Reise nach Mauthausen. Aber auch Besuch und Besichtigung des Lagers lösen die Schreibkrise nicht: „Über ein anderes Thema zu schreiben, war unmöglich. Für dieses aber gab es kein Wort, kein Zeichen, kein Gleichnis, das deckte.“ (S. 50)
All dies lässt Grete Weil einen nicht-jüdischen Deutschen, einen Angehörigen des Täter-Volkes erleben. Lange vor den Debatten um eine deutsche Erinnerungskultur verweist sie mit einer solchen literarischen Transformation des eigenen Erlebens darauf, dass der Mord an den deutschen und europäischen Juden als traumatische Zäsur nicht nur die überlebenden Opfer, sondern alle betrifft, die von ihm gewusst haben.
Das literarische Dialogangebot gerade dieses Romans verhallte in den frühen 60er Jahren der alten Bundesrepublik indes völlig ungehört. Erst in den 80er Jahren wurde auch Tramhalte Beethovenstraat wieder aufgelegt, fand eine breite Leserschaft; ähnlich wie ihre anderen Romane und Erzählungen und die 1998, ein Jahr vor ihrem Tode erschienene Autobiographie Leb ich denn, wenn andere leben.
Lebensthema: jüdische Erfahrung, Ausgrenzung und Auslöschung
In welchem Sinne sich Grete Weil als jüdische Schriftstellerin empfand, ergibt sich nicht nur aus Interview-Äußerungen. Frühe, unveröffentlichte Tagebücher belegen eine intensive Beschäftigung mit dem Zionismus,[6] nicht aber eine religiöse Bindung an das Judentum. Hingegen wird die Auseinandersetzung mit jüdischer Erfahrung, mit Ausgrenzung und Auslöschung, zum Lebensthema. In keinem ihrer Romane wird dies so deutlich wie in dem 1988 erschienenen Der Brautpreis. Wieder handelt es sich um einen großen literarischen Dialog; in diesem Falle mit der biblischen Michal, der Tochter König Sauls und Ehefrau Davids. Dreitausend Jahre liegen zwischen der Geschichte Michals und derjenigen Gretes, der Spätgeborenen:
Sie und ich, verbunden durch die Zugehörigkeit zu einem Volk, das gar kein Volk ist, aber immer es hat sein wollen: zwei jüdische Frauen.[7]
Autorin: Prof. Dr. Irmela von der Lühe
Wir bedanken uns sehr herzlich für diesen Beitrag zu Grete Weil, die ihr literarisches Schreiben immer mit ihrer historischen und persönlichen Zeugenschaft verband!
Der Nachlass (Tagebücher, Briefe, Manuskripte und viele weitere Dokumente) von Grete Weil befindet sich in der Monacensia im Hildebrandhaus. Seine neue wissenschaftliche Betrachtung wird ein Baustein des mehrjährigen Kulturerbe-Forschungsprojektes #femaleheritage sein.
Weitere im Blog der Münchner Stadtbibliothek erschienene Artikel von Prof. Dr. Irmela von der Lühe:
Die Werke von Grete Weil
Grete Weils Werke sind seit 1980 im Zürcher Verlag Nagel & Kimsche erschienen. Lediglich drei Bände sind zur Zeit lieferbar. Die Taschenbuchausgaben im Fischer-Verlag sind vergriffen.
- Tramhalte Beethovenstraat. Roman [1963] Zürich 1992. Neuausgabe im Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“. März 2021.
- Meine Schwester Antigone. Roman. Zürich 1980.
- Generationen. Roman. Zürich 1983.
- Ans Ende der Welt. Frankfurt/M. 1987.
- Der Brautpreis. Roman. Zürich 1988.
- Spätfolgen. Erzählungen. Zürich 1992.
- Leb ich denn, wenn andere leben. Literarische Autobiographie. Zürich 1998.
- Erlebnis einer Reise. Drei Begegnungen. Zürich 1999.
Zum Weiterlesen:
- Lisbeth Exner, Land meiner Mörder, Land meiner Sprache. Die Schriftstellerin Grete Weil, München 1998.
- Sibylle Schönborn (Hrsg.): Grete Weil. Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 182, 2009.
[1] Grete Weil: Spätfolgen. Erzählungen [1992]. Frankfurt/M, 1995, S.106.
[2] Grete Weil: Und Ich? Zeugin des Schmerzes. In: Dies.: Spätfolgen. Erzählungen. Frankfurt/M.1995, S.98–106.
[3] Grete Weil: „…daß ich vor allem nicht aufhören kann, das Leben zu lieben“. In: Liz Wieskerstrauch: Schreiben zwischen Unbehagen und Aufklärung. Weinheim 1988, S.115–127, hier S.125.
[4] Grete Weil: Generationen. Roman [1983]. Frankfurt/M. 1985, S.132.
[5] Zit. nach Laureen Nussbaum/Uwe Meyer: Grete Weil, Unbequem, zum Denken zwingend. In: Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch Bd.11, 1993, S.156–173, hier S.160.
[6] Hiltrud Häntzschel: „Ein Stückchen dem Chaos abgerungener Schöpfung“. Grete Weil und Margarete Susman 1947 im „Gespräch“. In: Claude D. Conter/Nicole Stahl (Hrsg.), Aufbrüche und Vermittlungen. Beiträge zur Luxemburger und europäischen Literatur-und Kulturgeschichte. Bielefeld 2010, S.99–115, hier S.102+103.
[7] Grete Weil: Der Brautpreis. Roman. Zürich 1988, S.169.
* Das Monacensia-Dossier „Jüdische Schriftstellerinnen in München“ macht anlässlich „#2021JLID – Jüdisches Leben in Deutschland“ Leben und Wirken jüdischer Schriftstellerinnen in München sichtbar. Es dokumentiert literarische Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart. Ein Projekt im Rahmen von #femaleheritage.
Weitere Texte & Artikel:
- „Emma Bonn – Schriftstellerin und Dichterin: Aufbereitung einer Familiengeschichte“ von Katrin Diehl (30.09.2021)
- „Lena Gorelik: „Schreib doch mal, Lena“ – ein Essay über jüdisches Leben in München“ (27.07.2021)
- „Elisabeth Braun und andere verschwundene Frauen – Suchstrategien in der Frauenforschung“ von Lilly Maier (30.06.2021)
- „Regina Ullmann – Dichterin und Erzählerin: „Die Welt in dir / zerbricht nicht mehr“ von Dr. Lisa Jeschke (21.6.2021)
- „Die Schriftstellerin Carry Brachvogel (1864-1942) und die moderne Frau in der Literatur“ von Dr. Ingvild Richardsen (16.6.2021)
- „Jüdische Kinder hatten wir noch nie“: Dana von Suffrin über eine Familie in München – ein literarischer Beitrag zu #2021JLID (23.3.2021)
- „Erzählen gegen das Vergessen: Grete Weil“ von Prof. Irmela von der Lühe (19.3.2021)e (19.3.2021)von Suffrin (23.3.2021)