Erinnerungen aus einer jüdischen Kindheit im Nachkriegs-Bogenhausen | #MeinBogenhausen

Fußballspielender Junge auf Wiese im Nachkriegs-Bogenhausen.

Welche Momente prägen eine jüdische Kindheit im Nachkriegs-München? Gastautor Eli Teicher erzählt von einer Kindheit zwischen Arbeiter- und Villenviertel, zwischen Fußball auf der Wiese und Schabbat in der Synagoge – und den schiefen Blicken der anderen. Seine Erzählung nimmt uns mit auf die wöchentlichen Wegstrecken von Steinhausen nach Bogenhausen, auf Spaziergänge mit Hut. Ein Beitrag zur Aktion #MeinBogenhausen.

Spaziergang mit Hut – Kindheitserinnerungen aus dem Nachkriegs-Bogenhausen

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Wir wohnten in Steinhausen, einem Arbeiterviertel am östlichen Stadtrand Münchens. Unser Wohnkomplex, ein Sozialbau aus den 1920er Jahren, erstreckte sich über einen ganzen Block. Er hatte insgesamt drei Innenhöfe, die jeweils durch einen querstehenden Wohntrakt voneinander getrennt waren. Jeder Hof war von außen über zwei bogenartige, sich gegenüberstehende Tore zugänglich. Im Innern befanden sich schlichte Garagen. Spärliche Rasenflächen trugen mannshohe Eisenstangen, die zum Teppichklopfen vorgesehen waren. Uns dienten sie als Fußballtor. Westlich der Siedlung befand sich eine riesige, brachliegende Wiesenfläche. Im Sommer verlegten wir unsere Ballspiele dorthin, im Herbst brieten wir Kartoffeln auf einem kleinen Lagerfeuer und im Winter unternahmen wir die ersten Skiversuche auf zwei bis drei Meter hohen Erdhaufen, die unsere Berge waren. Hin und wieder schlug ein kleiner Wanderzirkus sein Zelt hier auf und bot neben diversen Manegennummern auch Ponyreiten an.

Steinhausen grenzte an das vornehme Bogenhausen. Die beiden Viertel waren durch die stark befahrene Richard-Strauß-Straße voneinander getrennt. Jenseits dieser großen Verkehrsader begann ein Villenviertel, das um den schönen, von Bäumen umringten Böhmerwaldplatz erbaut worden war. Dort befand sich auch ein Kinderspielplatz, den wir aber nur selten aufsuchten. Mein Zwillingsbruder und ich bevorzugten die wilde, von Brennnesselbüschen umsäumte Wiese. 

spielende Kinder hinter Büschen vor einer Häuserfront, die Parkstadt Bogenhausen.
Zwillinge vor Wohnkomplex aus den 1920er Jahren. © Maximilian Teicher.

Samstags nahm unser Vater meine beiden Brüder und mich mit zur Synagoge. Sie stand unweit des rechten Isarufers in der Möhlstraße. Dort war in der ersten Nachkriegszeit ein reges Zentrum jüdischen Lebens entstanden: koschere Imbisse und jüdische Krämerläden, Händler mit und ohne eigenem Geschäft, die ihre Ware auf legale oder andere Art unter die Leute brachten. Für kurze, aber schwungvolle Zeit hatte sich in der Möhlstraße der größte, lebendigste, aber auch berüchtigtste Schwarzmarkt Münchens, ein Ort zahlreicher Polizeirazzien, etabliert.

Aus dieser Zeit waren in den 1960er Jahren einzig die Synagoge und das Lebensmittelgeschäft von Herrn S. übrig geblieben. Sein Laden lag keine 200 Meter vom Gebetshaus entfernt. Wie meine Eltern stammte auch Herr S. aus Polen. Er war ein kleiner, rundlicher, umtriebiger Mann, der sein Geschäft zu einem Vorläufer der später aufkommenden Supermärkte ausgebaut hatte.

Bis zur Synagoge war es ein etwa halbstündiger Fußweg von unserem Zuhause aus. Für meinen Vater, einen traditionsverbundenen, aber nicht immer gesetzestreuen Juden, verstand es sich von selbst, dass man weder mit dem Auto (mein Vater besaß keines) noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Synagoge fuhr, denn das war religiösen Juden am Schabbat verboten. Er wollte nicht als gesetzesbrüchig auffallen.

Der Fußmarsch allein wäre für uns Kinder kein Problem gewesen. Der Spaziergang führte über den Böhmerwaldplatz, den Galileiplatz und die Sternwartstraße und die Ismaningerstraße. Er bot uns gemeinsame Zeit mit unserem sonst vielbeschäftigten Vater. Der Spaziergang an seiner Seite hätte die reinste Freude sein können. Doch stand dieser Freude am Schabbat eine ostjüdische Tradition im Weg: Diese gebot, sich am Schabbat schön anzuziehen. Demgemäß wurden wir Kinder in feine Anzüge gesteckt. Natürlich fielen wir hierdurch in der Umgebung auf, insbesondere bei den Nachbarskindern, die uns von unserem Innenhof, von der Wiese oder der Schule her kannten und die (wie auch wir unter der Woche) meistens Lederhosen trugen.

Am schlimmsten aber empfanden wir die Tatsache, dass unser Vater es aus dem gleichen Traditionsempfinden heraus zur Pflicht machte, einen Hut zum Anzug zu tragen. Einen Hut, den normalerweise nur erwachsene Männer aufhatten. Wie den meisten Kindern war uns schon sehr früh bewusst, was man anziehen musste, um dazuzugehören. Dunkler Anzug mit Hut war es ganz sicher nicht. Nach wiederholtem, flehentlichem Bitten wurde uns lediglich gestattet, den Hut bis nahe an die Synagoge in die Hand zu nehmen. Wir klemmten ihn dann, möglichst unsichtbar, unter einen Arm.

Waren es spöttische oder nur erstaunte Blicke, die uns trafen? Wir wussten es nicht und wichen ihnen vorsorglich aus, indem wir zu Boden blickten. Wir fühlten uns wie Kinder, die als Erwachsene verkleidet waren, wie Außerirdische, die Woche für Woche im Wanderzirkus zur Schau gestellt wurden.

Fußballspielender Junge auf Wiese im Nachkriegs-Bogenhausen.
Eli Teicher fußballspielend im Nachkriegs-Bogenhausen. Im Hintergrund die Parkstadt Bogenhausen. © Maximilian Teicher

Besagter Herr S. hatte sein Geschäft in einem freistehenden, neu errichteten Pavillon untergebracht. Im Vergleich zu dem kleinen kioskartigen Lebensmittelladen unseres Vaters mit der etwas großspurigen Aufschrift „Feinkost Teicher“ empfanden wir sein Geschäft nicht ohne Neid als das größere und modernere. Manchmal stand er breitbeinig am Eingang des Ladens, die Hände hinterm Rücken verschränkt, und wünschte uns mit einem wohlwollenden Kopfnicken auf Jiddisch „einen gitten Schabbes“.

Ab da mussten wir unsere Hüte aufsetzen, wir überquerten die Möhlstraße und stiegen die Stufen zur Synagoge hinauf. Das nach außen zwar imposante, aber nicht auf ein jüdisches Gotteshaus hinweisende Gebäude brauchte damals noch keine polizeiliche Überwachung. Durch die massive Eingangstür kam man zunächst in einen Innenhof, in dem Kinder der Besucher spielten. Von diesem Hof aus konnte man die Synagoge betreten. Der hohe Gebetsraum war von einer besternten blauen Decke überwölbt, die uns Kindern einen Blick in den Himmel bot. Weit oben auf einer Wandseite waren kleine Fenster, hinter denen die Frauen fast unsichtbar auf der Galerie saßen. Uns empfing der Singsang des Vorbeters, das Gemurmel der Betenden und die halblauten Unterhaltungen auf Jiddisch. Wir waren angekommen.

Lesetipp zu #MeinBogenhausen und zur Dauerausstellung «Maria Theresia 23»:

=> Artikel zur Dauerausstellung «Maria Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa» im MON_Mag unter dem Schlagwort #MON_Villa

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Profilbild Eli Teicher

Dies ist ein Gastbeitrag von Eli Teicher

Eli Teicher wurde 1952 in München geboren. Von 1960 bis 1971 besuchte er eine orthodoxe jüdische Schule in Straßburg. In München und Stuttgart studierte er Medizin und absolvierte eine Facharztausbildung. Heute lebt und arbeitet Eli Teicher als Belegarzt mit Niederlassung in München. 2005 publizierte er einen Beitrag über frischgeborene Babys beim Kaiserschnitt zusammen mit einer Fotostrecke in der Kulturzeitschrift „Steinstraße 11. Magazin für Kultur und Diverses“. Die Fotostrecke erhielt eine Nominierung für die LeadAwards. © Privat.

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