Die Figur des Pierrots, ursprünglich aus der Commedia dell’arte und später Symbol moderner Kunst, steht für Verletzlichkeit und Beobachtung. Im Kabarett «Die Pfeffermühle» machte Erika Mann ihn zur Stimme politischer Kritik. Wie in der Kinderliteratur – etwa bei Pinocchio – erlaubt das Spiel, Wahrheiten zu äußern, wenn offene Worte gefährlich sind. Kunst wird hier zur Bühne des Widerstands. Das zeigt Volha Hapeyeva in ihrer Literarischen Erkundung*.
Was verbindet Pierrot, Kinderliteratur und politisches Kabarett bei Erika Mann?
In einer Vitrine der Dauerausstellung «Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann» (bis 6. Januar 2026) in der Monacensia ist ein Foto von Erika Mann im Clownskostüm zu sehen. Genauer gesagt: in einem Pierrot-Kostüm, und man könnte meinen, dass es aus einem Kindertheaterstück stammt. In Wirklichkeit aber handelt es sich um eine Szene aus dem legendären politischen Kabarett «Die Pfeffermühle».

Das Bild des traurigen Pierrots, der hoffnungslos in Malwina (eine Mädchen-Marionette mit blauem Haar) verliebt ist und Gedichte für sie schreibt, begegnete mir zum ersten Mal im sowjetischen Kinderfilm «Die Abenteuer des Burattino», der 1975 in meiner Heimatstadt Minsk von Belarusfilm (das Hauptfilmstudio von Belarus) gedreht wurde. Die Handlung des Films folgt Buratttino (italienisch für «Marionette»), einem Jungen aus Holz, der die Kinder des Theaters von Karabas Barabas trifft und sich aufmacht, sie zu befreien. Es ist eine Adaption des italienischen Romans «Die Abenteuer des Pinocchio. Geschichte einer Marionette» von Carlo Collodi aus dem Jahr 1883. Im Film zu Burattino wurden neue Figuren eingeführt und einige Details geändert.

Der Pierrot stammte aus der italienischen Commedia dell’arte, wurde aber im 19. Jahrhundert besonders in Frankreich und Deutschland zu einer Symbolfigur der modernen Kunst: einsam, melancholisch, sensibel, zwischen Traum und Wirklichkeit schwebend. Pierrot-Kostüme waren gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ganz Europa sehr beliebt. Diese Figur passte perfekt zur Stimmung der Jahrhundertwende, des Fin de Siècle, die von Weltschmerz und Dekadenz geprägt war.
Es ist bemerkenswert, dass Erikas Mutter Katia Mann ebenfalls in einem Pierretten-Kostüm (der weiblichen Variante vom Pierrot) abgebildet ist – allerdings auf einer Leinwand. Als Kind war Katia (damals noch Pringsheim) Teil eines berühmten Gemäldes: fünf Geschwister als vier Pierrots und eine Pierrette, gemalt von Fritz August Kaulbach nach einem Münchner Maskenball.
Das Bild «Kinderkarneval» (1888) wurde in Deutschland vielfach reproduziert. Der junge Thomas Mann, damals vierzehn, entdeckte es in einer illustrierten Zeitung, schnitt es aus und heftete es über seinen Schreibtisch – ohne zu wissen, wer die Kinder waren. Als er Jahre später im Palais Pringsheim verkehrte, erkannte er das Gemälde wieder und begriff, dass Katia die kleine Pierrette gewesen war.

Ob seine Zuneigung zu ihr schon damals durch das Gemälde begann, blieb stets ungesagt. Elf Jahre später, nach dem «Kinderkarneval», malte Kaulbach ein weiteres Porträt von ihr (Bildnis Katia Pringsheim, 1899). Und im Jahr 1892 hatte mit Franz von Lenbach ein anderer berühmter Münchner Maler Katia ebenfalls auf Leinwand verewigt (Porträt von Katia Pringsheim).

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Friedrich_August_Kaulbach_-_Bildnis_Katja_Pringsheim,_1899.png
Harlekin oder Pierrot – Erika Manns bewusste Rollenwahl im politischen Kabarett

Im Gedicht «Harlekin», das sie für die «Pfeffermühle» schrieb, nutzte Erika Mann das bunte Kostüm als Symbol für eine verwirrende Zeit geprägt von Krieg, Propaganda und menschlicher Schwächen. Gleichzeitig bleibt trotz Angst, Täuschung und Verzweiflung ein kleiner grüner Fleck der Hoffnung, dass Frieden und gegenseitiges Verständnis eines Tages doch über das Chaos triumphieren werden. Sie hat das Gedicht im Kabarett vorgetragen – obwohl sie auf dem Foto kein Harlekin-Kostüm trägt, sondern ein Pierrot-Kostüm. War das eine Ungenauigkeit oder Absicht?
Man kann davon ausgehen, dass es kein Zufall war. Eher ein schauspielerischer Kniff, mit dem Erika zwei einander ergänzende Figuren miteinander verbinden wollte, von denen die eine den melancholischen Träumer und die andere den ironischen Satiriker verkörpert.
Ich dachte mir viele Arten aus, meine einfache Botschaft zu verkünden. Meine lachenden und zugleich flehentlichen Worte legte ich einem Harlekin, einem Schönheitschirurgen, einem Akrobaten oder einem nachdenklichen Arbeiter in den Mund. Aber welche Verkleidung ich auch wählte, hinter der fröhlichen Maske war immer dasselbe ängstliche, aber hoffnungsvolle Gesicht — mein eigenes.1
In der Welt des Pinocchio wie in der der Pfeffermühle lebt die gleiche Idee weiter: Ob Puppe oder Clown – beide Figuren dürfen reden, wenn andere schweigen müssen. Kinderliteratur und politisches Kabarett teilen hier ein Motiv: das des sprechenden, spielenden, trotzigen Wesens, das die Wahrheit im Gewand des Spiels ausspricht.
Gerade in Zeiten von Krieg, Zensur und Diktatur zeigt sich, wie mächtig Kunst sein kann. Wenn politische Systeme versuchen, Sprache und Wahrheit zu kontrollieren, übernehmen Künstlerinnen und Künstler die Aufgabe, beides zu bewahren. Mit Witz, Maskerade und Fantasie schaffen sie Räume der Freiheit, in denen Denken und Fühlen weiter möglich sind.
Erika Manns Kabarett «Die Pfeffermühle» war ein solches Beispiel: Mit Humor und Anmut widersetzte sie sich der Angst und sprach öffentlich über verbotene Themen. Kunst kann die Welt nicht sofort verändern. Aber sie verändert vielleicht die Menschen, die sie sehen, hören oder lesen. Und diese Menschen können die Welt verändern.
*Die Literarischen Erkundungen sind eine Reihe im Literaturportal Bayern, die in Kooperation mit der Monacensia im Hildebrandhaus entsteht. Dieser Beitrag ist ein Supplement zur dritten Staffel der Reihe, gestaltet von Volha Hapeyeva – nach den Staffeln von Katrin Diehl und Fabienne Imlinger.
Der Artikel ist ein Beitrag zum MON-Mag-Dossier «Thomas Mann und das literarische München». Es entwickelt die Fragestellungen der Dauerausstellung «Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann» der Monacensia weiter. Die Ausstellung ist noch bis 6. Januar 2026 zu sehen.
Das Supplement ergänzt folgende Literarische Erkundung:
Weitere Literarische Erkundungen im MON Mag:
- «Lange Haare, kurzer Verstand?» – Lena Christs Haarnadel und was sie über Frauenbilder erzählt – (17.11.2025)
- Spuk im Hildebrandhaus? Münchens Künstler*innen-Villa und ihre Geschichte – (5.3.2025)
Lesetipp zu Erika Mann:
Zur Sonderausstellung «Erika Mann. Kabarettistin – Kriegsreporterin – Politische Rednerin» (2019–2020) sind Artikel im MON Mag erschienen, die Erika Mann als politische Stimme der Familie Mann beleuchten. Sie bieten vertiefende Einblicke in ihr Engagement und ihr öffentliches Wirken.

* Dieser Artikel ist ein Beitrag zum MON-Mag-Dossier «Thomas Mann und das literarische München» und entwickelt die Fragestellungen der Dauerausstellung «Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann» weiter. Die Ausstellung ist nochbis zum 6. Januar 2026 zu sehen.
Führungen durch unsere Ausstellungen:
Anmeldung jeweils über die MVHS
Das Hildebrandhaus. Geschichte einer Künstler*innen-Villa
(Ausstellung «Maria Theresia 23»):
Sonntags um 14 Uhr: 21.12. /11.1.
Samstags um 15 Uhr: 6.12.
Anmeldung über die MVHS
Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann
(wird im Januar 2026 abgebaut):
Samstags um 15 Uhr: 27.12.
Sonntags um 14 Uhr: 14.12. / 3.1.26



