Verhaftung wegen Beischlafdiebstahl, Freiheitsberaubung und der gescheiterte Traum von Anarchie: Emmy Hennings erzählt in ihrem Roman Gefängnis von der eigenen Lebenswirklichkeit. Nicola Behrmann schält den Weg der Autorin in das Gefängnis aus Buch und Archivalien heraus – ein eindrücklicher und kurzweiliger Perspektivwechsel mit berühmten Randfiguren wie Erich Mühsam und Hugo Ball – ein Beitrag zu #FrauenDerBoheme*.
Inzwischen sind drei Monate vergangen. Ich habe noch keine Vorladung zur Hauptverhandlung bekommen. Ich bin nach M. zurückgekehrt.[1]
Was ist in dem Zwischenraum geschehen, nach dem dieses Buch beginnt? Wenn das Buch Gefängnis heißt, muss vorher etwas geschehen sein, etwas, das jetzt zwischen dem Titel und der ersten Zeile eingeklemmt wurde und – als sei das Buch beim Öffnen versehentlich zugeklappt worden – unter den Tisch gefallen ist. Man muss es erst erfragen.
Emmy Hennings’ Weg in das Gefängnis von Nicola Behrmann
Ich halte meine Angelegenheit geheim. Warum? Ich müßte mich erklären; begründen müßte ich .. von Anfang an … aber wer fragt nach mir? Sollte jemand nach mir fragen .. Oh das Interesse. Restlos wollte ich mich bekennen. Aber die Angst, nicht verstanden zu werden, lässt mich schweigen. (Gefängnis, S. 9)
Sicher wird sie es uns noch erzählen. Wir haben Zeit. Es geht ja gerade erst los. Also, wie ist es zu dieser Anklage gekommen? Ist sie schuldig? Und selbst wenn sie schuldig wäre, lässt sich, was immer sie getan hat, nicht irgendwie rechtfertigen? Wer restlos bekennen möchte, kann nur unschuldig sein. Und wir, die Leser*innen, sind bereit zuzuhören.
So bereit, sind wir noch lange nicht bereit, und werden von Emmy Hennings, die mit ihrem 1919 veröffentlichten Roman „Gefängnis“ eine literarische Sensation ausgelöst hat, in einem angstvollen, wütenden, verzweifelten Lauf, der immer wieder eine falsche Richtung einschlägt, in die Irre geführt. Denn es geht in das Gefängnis hinein mit diesem Buch, nicht mehr in eine Geschichte.
Verhaftung wegen Beischlafdiebstahl
Wir suchen, als wir merken, sie wird es uns nicht erzählen, während wir weiterlesen, in allen verfügbaren Schubladen der Archive und finden Bruchstücke – Briefe, Melderegister, Einladungskarten. Unter Anklage gestellt wurde Emmy Hennings im Frühjahr 1914 vom Landgericht Hannover. Sie soll einem nächtlichen Besucher Geld entwendet haben.[2] Beischlafdiebstahl wird das im Prostitutionsmilieu genannt. All das ist dubios. Frauen, die Sex anbieten und dann heimlich den Kunden bestehlen, werden laut Statistik nur äußerst selten angezeigt. Und in Hannover, wo sie den Diebstahl begangen haben soll, war sie doch zuletzt vor sechs Jahren?
Mitte oder Ende Juli 1914, kurz vor Ausbruch des Weltkriegs, muss Hennings in München verhaftet worden sein. Sie wohnt schon seit drei Jahren in der Theresienstraße 80 in Schwabing, »in einem kleinen Atelier halb in eigenen Möbeln, einige hatte ich gemietet«.[3] Sie hat immer noch so viele wechselnde Liebhaber wie vor drei Jahren, als Erich Mühsam das täglich in seinem Tagebuch verzeichnete. Sie hat im Vorjahr einen ersten Gedichtband, Die letzte Freude, bei Kurt Wolff veröffentlicht. Sie ist, wie schon vor drei Jahren, mit dem neun Jahre älteren Ferdinand Hardekopf befreundet, den sie im August 1914 eigentlich in Paris besuchen wollte. Sie ist morphiumsüchtig. Manchmal wird sie auf der Straße ohnmächtig.[4]
Hugo Ball, Simplicissimus und Erich Mühsam
Sie wird schüchtern verehrt vom Dramaturgen der Münchener Kammerspiele Hugo Ball, der sie in der Künstlerkneipe Simplicissimus um eine ihrer Porträtpostkarten bittet.[5] Es ist ein heißer Sommer. Auf der Ungererwiese liegt sie täglich in der Sonne. In der Ludwigskirche besucht sie manchmal die Messe.[6] Sie tritt jetzt nicht mehr nur als Kabarettistin im Simplicissimus auf, sondern veranstaltet mit dem fünf Jahre jüngeren Johannes R. Becher Lesungen. Dabei liest sie Gedichte aus ihrem Band Die letzte Freude sowie neue, noch unveröffentlichte. Aber irgendetwas stockt, gerade in dem Moment, als sie Erfolg zu haben scheint:
Auf den bestürzenden Gedanken kam ich, dass die Welt ohne mich existieren könnte und das vertrug ich nicht.[7]
Auf einmal ist sie verschwunden.
Als die Freunde am 5. August von der Verhaftung erfahren, sitzt sie bereits in Untersuchungshaft im Frauengefängnis am Neudeck. Erich Mühsam und Johannes R. Becher rufen sofort einen Anwalt zu Hilfe, und als Mühsam sie noch am gleichen Tag besucht und zehn Minuten lang sprechen kann,
weinte [sie] entsetzlich, klammerte sich mit den Fingern in die Vergitterung und war unermeßlich unglücklich. Ich mußte ihr versprechen an ihre Mutter zu depeschieren und alles zu versuchen, um sie freizukriegen.[8]
Hugo Ball macht auch einen Besuch und schenkt ihr ein rührendes Gedicht mit dem Titel »Lied für ein gefangen Kind«.[9] Nichts davon wird in Gefängnis erwähnt: weder der Tathergang noch die Unterstützung der Freunde, weder der Anwalt noch die alles überdeckenden Kriegswirren, die München in ein emotionales Chaos stürzen.
Wie geht man in ein Gefängnis?
Auf die Frage: Wie ist sie nur in dieses Gefängnis hineingekommen?, antwortet Emmy H. in Gefängnis sehr genau. Wie mit einer Lupe geht sie jeden Moment ab, bis die Frage nach dem Warum unwesentlich geworden ist. Anders als Josef K. in „Kafkas Prozess“ nimmt sie ihre Sache resolut in die Hand und bittet das Königliche Amtsgericht per Brief, den Prozesstermin zu verschieben, weil sie ins Ausland reisen möchte. Zwei Tage später steht ein Polizist vor ihrer Tür:
Kommen Sie mal … na sagen wir … bis zehn Uhr aufs Polizeipräsidium. Zimmer 144.
Sogar den Weg dahin erklärt er ihr:
Sie fahren mit der Linie 6, steigen am Bahnhofsplatz um in die 9, dann fahren Sie direkt drauf los. (Gefängnis, S. 11)
Der Weg von der Theresienstraße in die Ettstraße, wo sich das Polizeipräsidium gleich neben der Frauenkirche befindet, ist nicht weit, eigentlich könnte sie zu Fuß gehen und in einer halben Stunde da sein. Aber sie nimmt ein Taxi, das geht schneller. Das Polizeipräsidium ist ein prachtvoller Bau, der erst im vorigen Jahr auf dem Gelände eines alten Augustinerklosters errichtet wurde, alles blitzsauber hier, »und [ich] fliege die sonnenbestrahlte Freitreppe hinan«. (Ebd.)Im Zimmer 144 muss sie 20 Minuten warten, während der Kommissar schweigend Formulare unterschreibt. Dann tritt ein Schutzmann ein, und ihr wird beschieden:
Also Sie sind verhaftet. […] Sie sind wegen Fluchtverdachts verhaftet. (Gefängnis, S. 17)
Bis dahin war diese Verhaftung so locker gesponnen wie ein improvisierter Sketch, aber nun reagiert sie instinktiv:
Der Kerl geht auf mich los. Dolche springen mir aus den Augen. Mein Blut zischt vor Wut. Ich bin gerissen, fliege in die Ecke des Zimmers neben der Tür.
Da wird sie auch schon gepackt. Mitgenommen. In eine Falle gegangen.
Wie kann man auch nur so dumm sein, einen solchen Brief zu schreiben! (Gefängnis, S. 18),
sagt ihr der Schutzmann, als er sie in die Arrestzelle im Keller des Polizeipräsidiums führt. In der Zelle kauert bereits eine Mitgefangene.
Ich stemme meine beiden Hände gegen die Tür, tobe und trommle: »Das gibt nicht nach! Das gibt nicht nach!«(Gefängnis, S. 21)
Und zur Mitgefangenen gewandt:
Und das lassen Sie sich gefallen? (Ebd.)
Von nun an gibt es nur die Nahaufnahme.
Meine Augen stoßen überall an. Alles ist mir zu nah. Es gibt keinen Ausblick. (Gefängnis, S. 27)
Jeder Schritt wird unermüdlich gezählt, und darüber verschwinden allmählich Zeit und Raum. »S’isch Krieg«, erzählt ihr irgendwann ein Bauernmädchen durch das Guckloch der Zellentür.[10] Sie ahnt etwas vom schlechten Gewissen ihrer Richter.
Am 15. August wird sie aus der Untersuchungshaft entlassen.[11] Damit endet der erste Teil von Gefängnis. Im zweiten Teil kehrt sie zurück, um den Rest ihrer Haftstrafe abzubüßen. Es ist Winter, nur wenige Tage vor Weihnachten. Diesmal geht sie zu Fuß, in
[e]in Haus, lang und grau, trauriger wie eine Fabrik im Morgengrauen. (Gefängnis, S. 83)
Es ist die Strafvollzugsanstalt Stadelheim, auch dieser Name wird in Gefängnis nicht erwähnt.
Gefängnis – ein Buch gegen Gewalt
Gefängnis ist ein zutiefst anarchistisches Buch gegen staatliche Gewalt und Freiheitsberaubung. Weil alles unmittelbar und aus größter Nähe erlebt wird, lässt der Text auch kein Rechts- oder Ordnungssystem gelten, das die Inhaftierung legitimieren würde. Diese unerbittliche Haltung macht die Gespräche und kleinen Hilfeleistungen, das Erduldenmüssen der Zellengenossin, die da im Bett liegt und stöhnt oder schnarcht oder endlos den Rosenkranz vor sich hinbetet oder vor Schmerzen aufschreit oder sie ausfragt, zu Akten einer Solidarität, die ohne Ansehen der Person und deren Schuld stattfindet.
Aus den Archiven wissen wir: Am 21. Januar 1915 wurde Emmy Hennings aus Stadelheim entlassen. In Gefängnis wird dieses Datum nicht genannt, nur die Uhrzeit: Es ist vier Uhr zwanzig, kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Sie geht ganz allein zurück durch den Schnee, niemand sieht sie, und breitet die Arme aus vor Glück:
Ich habe die Stadt noch nicht erreicht und die Menschen … (Gefängnis, S. 127)
Im April 1919 liegt Gefängnis, erschienen im Verlag von Erich Reiss, in den Auslagen der Buchläden. Inzwischen sind vier Jahre vergangen, der Krieg ist vorbei, die Räterepublik und der Traum von der Anarchie sind gescheitert. In Stadelheim ist jetzt Gustav Landauer inhaftiert, ein guter Bekannter. Am 2. Mai 1919 wird er dort, zusammen mit 18 Mitgefangenen, von Wärtern ermordet.
Themenrelevante Artikel zu #FrauenDerBoheme im Blog:
- Veronika Born, Die Frauen der europäischen Boheme – mit Erwähnung von Emmy Hennings (4.7.2022)
[1] Emmy Hennings: Gefängnis. In: Dies.: Werke und Briefe. Kommentierte Studienausgabe, Bd. 1: Gefängnis. Das graue Haus. Das Haus im Schatten. Hg. von Christa Baumberger und Nicola Behrmann. Göttingen: Wallstein 2016, S. 7–127, hier S. 9. Nachfolgend abgekürzt mit: Gefängnis.
[2] Am 6. August 1914 notiert dies Erich Mühsam in sein Tagebuch. Erich Mühsam: Tagebücher, Bd. 3: 1912–1914. Hg. von Chris Hirte und Conrad Piens. Berlin: Verbrecher Verlag 2012, S. 146.
[3] Emmy Ball-Hennings: Ruf und Echo. Mein Leben mit Hugo Ball. Benziger Verlag: S. 53.
[4] Brief Johannes R. Becher an Heinrich F. S. Bachmair vom 10. Juni 1914. In: Dies.: Briefwechsel 1914–1920. Hg. von Maria Kühn-Ludewig. Frankfurt am Main: Peter Lang 1987, S. 70.
[5] Dies wird berichtet in Emmy Ball-Hennings: Das flüchtige Spiel. Wege und Umwege einer Frau. Einsiedeln, Köln: Benziger, S. 270.
[6] Ball-Hennings: Ruf und Echo (Anm. 3), S. 36.
[7] Emmy Hennings: Rebellen und Bekenner. In: Hugo-Ball-Almanach 1994, S. 83.
[8] Mühsam: Tagebücher (Anm. 2), S. 146.
[9] Hugo Ball: Gedichte. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1. Hg. von Eckhard Faul. Göttingen: Wallstein 2016, S. 49.
[10] Emmy Ball-Hennings: Hugo Ball. Sein Leben in Briefen und Gedichten. Berlin: S. Fischer Verlag 1929, S. 105.
[11] Mühsam: Tagebücher (Anm. 2), S. 161 (Eintrag vom 18. August 1914).
* Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.