Elisabeth Braun und andere verschwundene Frauen – Suchstrategien in der Frauenforschung | #femaleheritage

Selfie von Lilly Maier vor der Gedenktafel von Elisabeth Braun, Monacensia.

Elisabeth Braun – eine Lücke im Gedächtnis. Warum gibt es so wenige Dokumente über sie bzw. warum ist die Suche danach erschwert? Welche Strategien gibt es in der Forschung, um über verschwundene Frauen wie sie mehr herauszufinden? Lilly Maier stellt uns die Kieselstein-Methode als mögliche Suchstrategie in der Frauenforschung vor.

Vernachlässigte Frauennachlässe oder warum Frauen in Archiven verschwinden

577 Namen listet das Literaturarchiv der Monacensia in der Übersicht ihrer Archivbestände online auf. Vergleicht man diese Namen, ist das Ergebnis erschreckend: 474 Männer, 89 Frauen und 16 Vereine. Es gibt also fünf Mal so viele Nachlässe von Männern in der Monacensia wie von Frauen. Oder anders ausgedrückt: Allein die sechs häufigsten männlichen Vornamen – Hans, Ernst, Ludwig, Peter, Friedrich und Paul – kommen öfter vor als alle Frauen zusammen.

Höchste Zeit also, dass die Monacensia sich nun mit #femaleheritage beschäftigt. (Mehr dazu im jüngst erschienen „Monacensia – Manifest: Erinnerungskultur der Vielen und kuratorische Feldforschung“ von Anke Buettner.)

Die Monacensia ist natürlich kein Einzelfall. Fast alle Archive hatten jahrhundertelang kein Interesse daran, Frauennachlässe zu bewahren oder gar nach ihnen zu suchen. Einige treffende Beispiele dafür finden sich im eindrucksvollen Sammelband Contesting Archives: Finding Women in the Sources, in dem Historikerinnen in Essays über ihre Forschung zu vergessenen Frauen berichten.[i]

Doch oft liegt die Ursache des Übels gar nicht in den Archiven, sondern in den Familien: Die Papiere der Väter und Großväter werden aufbewahrt und an Archive gespendet, die der Mütter und Großmütter nicht. Schließlich war deren größte Leistung mit der Geburt und Erziehung der Nachfahren getan – wer braucht da schon schriftliche Beweise?

Selfie von Lilly Maier vor der Gedenktafel von Elisabeth Braun, Monacensia.
Selfie von Lilly Maier vor der Gedenktafel von Elisabeth Braun, Monacensia.

Grundlegende Probleme bei der Suche nach Frauen in Archiven

Viele Archive haben heute Online-Datenbanken, was das Recherchieren einfacher macht als noch vor einigen Jahren. Bei der Suche nach Frauen treten aber oft drei grundlegende Probleme auf:

  1. Es gibt tatsächlich keinen Nachlass zu der Frau, die mich interessiert 
  2. Frauen sind in Männer-Nachlässen versteckt
    Die Papiere der Schriftstellerin Oda Schaefer sind in der Monacensia zum Beispiel im Nachlass ihres Ehemanns Horst Lange einsortiert und nicht getrennt aufbewahrt.
  3. Frauennamen sind durch Heirat verloren gegangen

Ist die gesuchte Frau noch dazu adlig, ergibt sich ein weiteres Problem: Adlige Frauen sprach man lange Zeit mit den Vornamen ihrer Ehemänner an – aber die wenigsten Archive nehmen in ihrer Systematik darauf Rücksicht.

Die Kieselstein-Methode

Was tue ich also, wenn ich mehr über eine Frau herausfinden will? In meiner Forschung verwende ich dafür einen Ansatz, den ich die Kieselstein-Methode nenne.

Die Kieselstein-Methode ist inspiriert von der amerikanischen Historikerin Sherry Katz, die zu Frauenbewegungen in Kalifornien forscht. In dem bereits erwähnten Buch Contesting Archives stellt Katz den Forschungsansatz „researching around the subject“ vor. [ii] Und hier kommen jetzt die Kieselsteine ins Spiel.

Stellen Sie sich einen Kieselstein vor, den Sie ins Wasser werfen und der Kreise bildet, die größer werden, je weiter Sie sich vom Stein entfernen. Der Stein ist die Frau, die uns interessiert, die immer größer werdenden Kreise sind die Orte, an denen wir nach ihr suchen. Diese Kreise können zum Beispiel Zeitungen, Archive von Organisationen oder Nachlässe von anderen Menschen (meist Männern) sein. Man beginnt beim Naheliegenden und vergrößert den Suchradius immer weiter.

Wie meine Kieselstein-Methode genau funktioniert, möchte ich im Folgendem am Beispiel einer Frau zeigen, die einen großen Bezug zur Monacensia hat: Elisabeth Braun.

Dauerausstellung zum Haus. Monacensia, mittig Elisabeth Braun.
Dauerausstellung zum Haus. Monacensia, mittig Elisabeth Braun.

Die Kieselstein-Methode und Elisabeth Braun

Was wir über Elisabeth Braun wissen

Elisabeth Braun ist die frühere Besitzerin des Hildebrandhauses, in dem die Monacensia untergebracht ist. Sie stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, konvertierte aber 1920 zur Evangelischen Kirche. In mehreren Volkszählungen und Meldezetteln wird ihr Beruf mit „Schriftstellerin“ angegeben. Von ihrem Werk ist allerdings nichts erhalten geblieben, es ist unbekannt, ob sie je etwas veröffentlicht hat.

Elisabeth Braun lebte lange am Tegernsee, in den 1930er Jahren kaufte sie das Hildebrandhaus, in das sie später mit ihrer Stiefmutter Rosa Braun zog. In den Augen der Nationalsozialisten galt die „nichtarische Christin“ als Jüdin und so war sie zunehmenden Repressionen ausgesetzt. Bis 1941 nahm sie 15 weitere jüdische Mitbürger in ihrem Haus auf. Im November 1941 wurde Elisabeth Braun nach Kaunas deportiert und dort umgebracht. Ihr Haus hatte die 54-Jährige zuvor der Evangelischen Kirche vermacht.

Bis Ende der 1990er Jahre wussten wir kaum etwas über Elisabeth Braun. Das änderte sich erst, als der Pfarrer Ernst Ludwig Schmidt im Archiv der Evangelischen Landeskirche in Nürnberg den Koffer des Oberbaurats Feiner fand. Ihm hatte Braun vor ihrer Deportation ihr Testament und andere Unterlagen anvertraut.

Heute gibt es einige Aufsätze zu Elisabeth Braun, und sie wird in Büchern über das Hildebrandhaus erwähnt.[iii] Zur „Arisierung“ und Enteignung des Hauses ist die Quellenlage am besten, weil es hier auch um langjährige Erbschaftsangelegenheiten und Streit rund um den Verkauf des Hildebrandhauses ging. 

Es bleiben aber Fragen über Fragen.

Mein Kieselstein-Modell für Elisabeth Braun

Mein Kieselstein-Modell für Elisabeth Braun.
Mein Kieselstein-Modell für Elisabeth Braun.

1. Elisabeth Braun

Den Mittelpunkt des Modells – sozusagen den Kieselstein – bildet Elisabeth Braun selbst. Im Archiv der Monacensia gibt es ein einziges Blatt zu ihr. Dazu kommen gut 60 Schriftstücke, die im Archiv der Evangelischen Landeskirche in Nürnberg liegen.[iv] Weitere persönliche Dokumente konnten bis heute nicht gefunden werden.

Elisabeth Braun hat nie geheiratet, trotzdem haben wir ein zweifaches Namensproblem, das die Suche erschwert. Einerseits ist da die Frage nach ihren fehlenden Publikationen. Es ist möglich, dass sie sich als – in den Augen der Nazis – jüdische Frau in den 1930er Jahren nicht traute, unter ihrem echten Namen zu publizieren. Vielleicht gibt es also ein Pseudonym, von dem wir einfach nichts wissen.

Ein zweites Problem zeigt sich bei der Durchsicht der Nürnberger Akten. Dort ist öfter von der „Judenchristin“ Sara Braun die Rede. [v] Aber wie kam man auf diesen Namen?

Die Nationalsozialisten hatten 1939 alle Juden gezwungen, einen jüdischen Zweitnamen anzunehmen: Israel für Männer, Sara für Frauen. In Akten aus der NS-Zeit stand also Elisabeth Sara Braun. In Dokumenten der Evangelischen Landeskirche wurde daraus Sara Braun.

Es ist eine Tragödie, dass in der Kirche ihr eigentlicher Vorname lange Zeit „verloren“ ging – Elisabeth Braun wurde nach ihrer Ermordung gewissermaßen ein zweites Mal aus der Geschichte gestrichen. Für unsere Suche bedeutet das, dass wir in Archiven auch nach Sara Braun suchen müssen.

2. Familie 

Elisabeths Vater Julius Braun war ein wohlhabender Schneidermeister. Die Innung des Maßschneiderhandwerks in München könnte also eine Anlaufstelle für Informationen zu ihm sein.

Im Hildebrandhaus lebte Elisabeth Jahre später zusammen mit ihrer Stiefmutter Rosa Braun. Das offizielle Gedenkbuch der Münchner Juden ist eine erste Quelle zu Rosa.

3. Münchner und Tegernseer Umfeld

Elisabeth Braun besuchte das Lehrerinnenseminar in Pasing und studierte in München Philosophie und Staatswesen, wie sich u.a. im Studentenverzeichnis 1921 zeigt. Im Uniarchiv könnten sich weitere Akten befinden, die uns verraten, welche Kurse sie belegte. Ein nächster Schritt wäre es nun, Kommilitonen und Professoren zu identifizieren, deren Korrespondenzen erhalten geblieben sind und dort nach Elisabeth Braun zu suchen.

Im Studentenverzeichnis 1921 können wir einige Informationen zu Elisabeth Braun finden.
Im Studentenverzeichnis 1921 können wir einige Informationen zu Elisabeth Braun finden. Foto: LMU, https://epub.ub.uni-muenchen.de/9690/1/pvz_lmu_1921_sose.pdf

Es gibt bis jetzt keinen Hinweis darauf, dass Braun tatsächlich als Lehrerin arbeitete, aber trotzdem könnte man die Schulen am Tegernsee überprüfen. Dass Braun bei Volkszählungen angab, Schriftstellerin zu sein, ist ein weiterer Anknüpfungspunkt. Vielleicht stand sie mit Zeitungen oder Verlagen in Kontakt? Die schiere Anzahl von Verlagsarchiven macht es hier aber schwer, ohne weitere Informationen vorzugehen.

Zum Verkauf des Hildebrandhauses ist wie erwähnt die Quellenlage am besten, hier wäre es aber spannend herauszufinden, ob Braun Kontakt mit ihren Nachbarn hatte oder wie es dazu kam, dass sie Wohnungen an 15 jüdische Münchner vermietete.

Im nationalsozialistischen München vertraute Elisabeth Braun 1941 dem Oberbaurat Franz Feiner so sehr, dass sie ihm vor ihrer Deportation wichtige Akten anvertraute. Auch zu Feiner wäre eine tiefgehende Recherche lohnenswert.

4. Evangelische Kirche

Elisabeth Braun vermachte ihren Besitz der Evangelischen Kirche. Es ist also naheliegend, dass sie sich der Kirche verbunden fühlte. Da die ersten ausführlicheren Recherchen zu Elisabeth Braun im Umfeld der Kirche selbst angestellt wurden, ist unklar, ob hier noch weitere Informationen zu finden sind. Fragen gäbe es aber viele: 

  • Was war der Anlass für ihren Religionswechsel? 
  • Braun konvertierte während ihrer Tegernseer Zeit – war sie dort in einer Gemeinde aktiv? 
  • Mit wem hatte sie dann in der Münchner Gemeinde Kontakt?

5. Verfolgung und Deportation

Elisabeth Braun wehrte sich vehement und mutig gegen den Zwangsverkauf ihres Hauses. Über ihren Kampf wissen wir dank ihrer an Franz Feiner übergebenen Dokumente einiges, auch ihre Protestbriefe sind erhalten.

Im November 1941 wurde Elisabeth Braun in ein Sammellager in Berg am Laim gebracht und von dort aus nach Riga deportiert. Zu diesem Abschnitt ihres Lebens gibt es einige behördliche NS-Dokumente. Trotzdem besteht auch hier noch Potential an weiteren Funden, die die bestehende Forschung bis jetzt nicht ausgewertet hat. 

Im Archiv des Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes habe ich zum Beispiel vier bisher unbekannte Listen gefunden, in denen Elisabeth Braun vorkommt.

Wie man sieht, ist es nicht viel, was wir über Frauen wie Elisabeth Braun wissen. Aber es gibt viele Möglichkeiten, nach ihnen zu suchen. Wir müssen es nur tun.


* Das Monacensia-Dossier „Jüdische Schriftstellerinnen in München“ macht anlässlich „#2021JLID – Jüdisches Leben in Deutschland“ Leben und Wirken jüdischer Schriftstellerinnen in München sichtbar. Es dokumentiert literarische Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart. Ein Projekt im Rahmen von #femaleheritage.

Bisher erschienen:


[i] Nupur Chaudhuri, Sherry J. Katz und Mary Elizabeth Perry (Hrsg.): Contesting Archives: Finding Women in the Sources. Chicago u.a. 2010.
[ii] Sherry Katz: Excavating Radical Women in Progressive-Era California. In: Contesting Archives, S. 89-106.
[iii] Wolfram P. Kastner (Hrsg.): auf einmal da waren sie weg… Zur Erinnerung an Münchener Juden – ein Beispiel, das zur Nachahmung anregen könnte. Stamsried 2004, S. 39-46.
Ernst-Ludwig Schmidt, Auf der Spurensuche nach Elisabeth und Rosa Braun. In Entehrt. Ausgeplündert. Arisiert. Entrechtung und Enteignung der Juden. Veröffentlichungen der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste Band 2, Magdeburg 2005, S. 167-182.
Klaus Bäumler, Schatten über dem Hildebrand-Haus. Auf der Spurensuche nach Elisabeth Braun, in: Entehrt. Ausgeplündert. Arisiert, S. 183-206.
Christiane Kuller und Maximilian Schreiber: Das Hildebrandhaus. Eine Münchner Künstlervilla und ihre Bewohner in der Zeit des Nationalsozialismus. München 2006. 
Klaus Bäumler: Schatten über dem Hildebrandhaus in: Von ihren Kirchen verlassen und vergessen? Zum Schicksal Christen jüdischer Herkunft im München der NS-Zeit, Bezirksausschuß Maxvorstadt im Eigenverlag, München 2006. 
Christiane Kuller: Finanzverwaltung und Judenverfolgung. Die Entziehung jüdischen Vermögens in Bayern während der NS-Zeit. München 2008, S. 190-193.
Irene Stuiber: Zwischen allen Stühlen. Elisabeth Braun (1887-1941). In: Stuiber u. a. (Hrsg.): fromm politisch unbequem. Evangelische Frauen des 20. Jahrhunderts in Bayern. Bad Windsheim 2008, S. 28- 39.
[iv] Landeskirchliches Archiv Nürnberg, Signaturen: 0.2.0003 – 3106, 0.2.0003 – 3108, 0.2.0003 – 3109, 0.2.0003 – 12106, 0.2.0003 – 12107 0.2.0003 – 12108 , 0.2.0003 – 12109. 
[v] Ernst-Ludwig Schmidt, Auf der Spurensuche nach Elisabeth und Rosa Braun, S. 168.

Autor*innen-Info

Profilbild Lilly Maier

Dies ist ein Gastbeitrag von Lilly Maier

Lilly Maier ist Historikerin und Autorin. 2018 erschien ihr Buch „Arthur und Lilly. Das Mädchen und der Holocaust-Überlebende“, die Biografie eines Holocaust-Überlebenden, der in derselben Wohnung aufwuchs wie sie selbst. 2021 folgte ihr zweites Buch „Auf Wiedersehen, Kinder!“, eine Biographie über den Reformpädagogen und Retter jüdischer Kinder Ernst Papanek.

Derzeit promoviert Maier an der LMU München mit einer Arbeit über Frauen als Retterinnen von Juden. Sie spricht regelmäßig zu jüdischen und historischen Themen, eine Übersicht all ihrer Termine findet ihr auf der Website der Autorin. Foto: © Sophia Lindsey

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