Cornelia Siebeck – Protest und utopische Sehnsucht im München der 1980er Jahre I #PopPunkPolitik

Der Schülerausweis von Cornelia Siebeck, zu sehen in der Ausstellung #PopPunkPolitik in der Monacensia. Foto: Silke Klöckner

Cornelia Siebeck ist die jüngste Protagonistin der Ausstellung POP PUNK POLITIK – Die 1980er Jahre in München. 1975 in München geboren, lebte sie Ende der 1980er Jahre im wohlhabenden Stadtteil Solln und besuchte das konservative Theresien-Gymnasium am Goetheplatz. Warum wollte sie mit 13 Jahren plötzlich nicht mehr „dazugehören“, sondern lieber „Punk“ sein? – ein Beitrag zur Ausstellung* #PopPunkPolitik.

Der Schülerausweis von Cornelia Siebeck, zu sehen in der Ausstellung #PopPunkPolitik in der Monacensia. Foto: Silke Klöckner
Der Schülerausweis von Cornelia Siebeck, zu sehen in der Ausstellung #PopPunkPolitik in der Monacensia. Foto: Silke Klöckner

„Protest und utopische Sehnsucht“ von Cornelia Siebeck

Reißfestes Material DIN A6, grau, gefalzt. Links auf dem Passbild eine trotzige 13-Jährige, die Augen mit schwarzem Kajal umrandet. Der Kopf seitlich abrasiert, die restlichen Haare zu struppigen Zöpfchen geflochten. Rechts Name und Adresse in Schreibschrift eingetragen, außerdem das Geburtsdatum (später mit Tintenkiller um drei Jahre nach oben „korrigiert“). Der Schulstempel des bayerischen Theresien-Gymnasiums. München, den 16.9.88. Unterschrift des Schulleiters.

Das ist mein Schülerausweis aus der 8. Klasse. Derzeit hängt er zur nostalgischen Besichtigung in der Monacensia an der Wand. Darunter das Faksimile eines Artikels von 1989, in dem ich versuche, meine Mitschüler*innen gegen Nazis zu mobilisieren: „Ich bin nicht der Meinung, daß man sich schämen sollte, ein Deutscher zu sein“, ist dort zu lesen: „ich bin nur gegen das VERGESSEN! Was kann man also anderes tun, als WIDERSTAND leisten, bevor es zu spät ist? […] Es geht um unsere Zukunft!“

Dann hängen da noch ein paar Fotos. Mal mit grünen, mal mit schwarzen Haaren im „Normal“. Das war eine Punk-Kneipe, die ich 1990 regelmäßig frequentiert habe, mittlerweile war ich 15. Auf den grünhaarigen Fotos hatte ich Liebeskummer. Ansonsten erinnere ich mich an einen langen Sommer im Englischen Garten. Was wir da die ganze Zeit gemacht haben? Weiß ich nicht mehr.

Nach den 1980er Jahren: Cornelia Siebeck mit Augustiner im Englischen Garten, Sommer 1990. Foto: Privatbesitz
Nach den 1980er Jahren: Cornelia Siebeck mit Augustiner im Englischen Garten, Sommer 1990. #PopPunkPolitik. Foto: Privatbesitz

Ehrlich gesagt weiß ich auch nicht genau, warum ich mit 13 Punk geworden bin. Mit dem Master Narrative einer Münchner Subkultur, wie es in der Ausstellung POP PUNK POLITIK erzählt wird, hatte das jedenfalls kaum etwas zu tun. Von den meisten Bands, Künstler*innen und Aktivist*innen, an die dort erinnert wird, habe ich altersbedingt überhaupt nichts mitgekriegt. Mit 13 legt man sich auch keine Erklärungen für das eigene Handeln zurecht. Man geht einfach seinen Weg.

„Wie bist du zum Punk gekommen?“, fragt mich Ralf Homann in einem Interview, das in der Ausstellung nachgelesen werden kann. Meine Antwort: „[D]u willst ja, dass diese Gesellschaft dich wahrnimmt in deinem Protest.“ Auch deshalb, so erkläre ich weiter, hätten wir uns damals bevorzugt in der Münchner Fußgängerzone aufgehalten: „Dass da die Polizei kommt und dich vertreibt, wenn du da einfach nur rumhängst und Spaß hast, bestätigt dir dann, was du sowieso denkst: Dass die Gesellschaft dich nicht so will, wie du sein willst. Und dass du auch gar nicht dazugehören willst.“

„Etwas fehlt“: Punk in der Fußgängerzone

Den „Stachus“ als damaligen Punk-Treffpunkt hinterm Kaufhaus Oberpollinger habe ich mit 13 entdeckt. Viele von denen, die dort in den späten 1980er Jahren täglich saßen, waren von zuhause abgehauen oder jedenfalls ziemlich auf sich gestellt. Fast alle waren ein paar Jahre älter als ich, und man sah nicht nur wild aus und hörte laut Musik, sondern es wurde auch viel getrunken.

Als Gymnasiastin aus wohlwollend-bildungsbürgerlichem Elternhaus war ich da trotz punkigem Outfit eher ein Zaungast. Das war mir auch damals schon bewusst. Dennoch hat mich der „Stachus“ in meiner frühen Teenagerzeit offenbar angezogen. Zumindest erinnere ich mich, dass ich 1988 nach Schulschluss zeitweise öfter hingefahren bin. Was habe ich da eigentlich gesucht?

Heute denke ich, dass es mir darum ging, ein gewisses Gefühl gesellschaftlicher Verlorenheit in das propere Münchner Stadtbild zu tragen. Etwas Sand ins Getriebe der Fußgängerzone zu streuen. GEGEN NAZIS – PUNX NOT DEAD – MACHT KAPUTT WAS EUCH KAPUTT MACHT. Mit niemandem von uns hätte man eine tiefergehende Diskussion über die zahlreichen Negationen führen können, die wir auf unsere Klamotten gemalt hatten, und dennoch signalisierten sie klar: Protest.

Erosion einer linksliberalen Kindheit in München

Oder besser gesagt: Protest und Utopie. Schließlich war in all diesen Slogans (außer bei „Nazis“) prinzipiell jedes „A“ als Anarchie-Zeichen gestaltet – ohne dass wir hätten sagen können, was wir uns unter „Anarchie“ konkret vorstellen. Ich glaube, wir wollten nicht nur protestieren, sondern auch eine Art „utopische Sehnsucht“ zum Ausdruck bringen: „‚Etwas fehlt.‘ Was das ist, weiß man nicht.“ [1]

Zumindest von mir kann ich sagen, dass ich mit 13 schon ein beträchtliches Unbehagen mit mir herumtrug. Dabei war ich durchaus ein zuversichtliches Kind gewesen: vernunftgläubig, fortschrittsoptimistisch, sozialdemokratisch. Alle Menschen sind gleich. Wir kümmern uns um Schwächere. „Ausländer“ sind genauso viel wert wie „wir“. In Europa wird es nie wieder Krieg geben. Wo Unrecht oder Gefahr droht, schreiten wir ein. Es ist gut, eine Haltung zu haben und kritisch nachzufragen.

Was man eben in einem herkunftsdeutsch-linksliberalen Elternhaus in der Bundesrepublik der späten 1970er und frühen 1980er Jahre so mitbekommen hat – und was ich in meiner kindlichen Lebenswelt auch ganz gut aufrechterhalten konnte. Trotz ABC-Alarm-Übungen in der Grundschule, immerzu „hungernden Kindern in Afrika“, „Waldsterben“ und der Wahl Helmut Kohls zum Bundeskanzler.

Aber Mitte der 1980er Jahre wurde ich langsam politisch bewusst. Las Bücher über Kinder im Super-GAU, sah Bilder von der Polizeigewalt gegen Protestierende in Wackersdorf. Viel war damals von deutscher Vergangenheit die Rede. In Kindersendungen ging es häufig um den Zweiten Weltkrieg, am Wochenende kam „Damals – vor 40 Jahren“. Nachdem ich das „Tagebuch der Anne Frank“ gelesen hatte, suchte ich in der Stadtbibliothek weitere Bücher zum Nationalsozialismus. Und identifizierte mich mit den „Edelweißpiraten“, die sich als unangepasste Jugendliche dagegengestellt hatten.

Mit 13 oder 14 fuhr ich mit einer Freundin „nach Dachau“. Ich weiß nicht mehr, was wir dort gesehen haben. Aber ich weiß, dass ich danach extrem erschüttert war. Nicht zuletzt davon, dass das Konzentrationslager nur wenige Jahrzehnte zurücklag, und dass meine Großeltern damals schon gelebt hatten. Zugleich bekam ich mit, wie gegen „Ausländer“ und „Asylanten“ gehetzt wurde. 1989 hörte ich Gerhard Frey von der „Deutschen Volksunion“ am Sendlinger Tor vor johlenden Rentner*innen gegen „ausländische Gewalttäter“ wüten. Kurz darauf wurden die rechtsextremen „Republikaner“ unter ihrem Münchener Parteichef Franz Schönhuber ins Europäische Parlament gewählt.

„Kein 4. Reich!“ Cornelia Siebeck auf einer Party im November 1990. Foto: Privatbesitz
„Kein 4. Reich!“ Cornelia Siebeck auf einer Party im November 1990. Foto: Privatbesitz

Punk als pubertäre Zeitgeist-Collage?

Bald waren die Wände meines Kinderzimmers nicht mehr mit „BRAVO“-Postern gepflastert, sondern mit selbst gebatikten Pali-Tüchern, „WAA Nein!“-Wimpeln, Friedenstauben und „STOPPT STRAUSS“-Plakaten. Von meinem Bett aus blickte ich auf das ikonische Bild eines tödlich getroffenen Soldaten, rechts oben prangte jeden Tag und immer in fetten schwarzen Buchstaben die Frage: „WHY?“.

Im Rückblick lässt sich das mit einigem Recht als pubertäre Zeitgeist-Collage beschmunzeln. Vielleicht macht man es sich aber damit auch zu leicht. Natürlich hatte ich unterm Strich eine komfortable altbundesrepublikanische Jugend. Dennoch war die heile Welt meiner linksliberalen Mittelstandskindheit Ende der 1980er Jahre in rasender Geschwindigkeit zerbrochen. Meine Ängste waren groß, und sie waren echt, auch wenn ich sie damals nicht wirklich artikulieren konnte.

Im Oktober 1988 starb Franz Josef Strauß, der nicht nur seit ich denken konnte Ministerpräsident gewesen war, sondern für mich auch der Inbegriff des politischen Gegners. Anlässlich seines Todes mussten wir in der Schule eine Schweigeminute abhalten –  im Stehen. Ich blieb als Einzige sitzen. Als mein Lehrer mich fragte, warum ich nicht aufgestanden sei, antwortete ich: „Weil ich nicht traurig bin.“ Ein Mitschüler beschimpfte mich prompt als „Kommunistensau“. Ich kann mich nicht erinnern, dass der Lehrer sich daran gestört hätte. Und er war immerhin unser Geschichtslehrer.

Cornelia Siebeck und Kurator Ralf Homann in der Ausstellung #PopPunkPolitik im November 2021. Foto: Privatbesitz
Cornelia Siebeck und Kurator Ralf Homann in der Ausstellung #PopPunkPolitik im November 2021. Foto: Privatbesitz

[1] So beschreibt Ernst Bloch diese Gefühlslage in: Etwas fehlt… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno, Gesprächsleiter: Horst Krüger, 1964, in: Gespräche mit Ernst Bloch, hg. von Rainer Traub und Harald Wieser, Frankfurt/M. 1975, S. 58-77, Zitat S. 76.


* Die Artikel-Serie zu #PopPunkPolitik verlängert die Ausstellung in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft Themen der 1980er Jahre aus literarischer und heutiger Perspektive.

#PopPunkPolitik Vol. 2
#PopPunkPolitik Vol. 2

Der Beitrag ist Teil von #PopPunkPolitik Vol. 2 – unserem digitalen Programm, das wir auf der Microsite zur Ausstellung in der Übersicht spiegeln. Schaut rein!

Autor*innen-Info

Profilbild Cornelia Siebeck

Dies ist ein Gastbeitrag von Cornelia Siebeck

Cornelia Siebeck ist 1996 nach Berlin gezogen, um Geschichte, Neue Deutsche Literatur und Publizistik zu studieren. Bereits während des Studiums hat sie sich in der historisch-politischen Bildungsarbeit engagiert, insbesondere zu den NS-Verbrechen und ihren Nachwirkungen. Anschließend war sie in Berlin als freiberufliche Historikerin tätig und hat an verschiedenen Universitäten gelehrt. Seit 2020 Jahren lebt sie in Hamburg und arbeitet dort für die KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

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