Antisemitismus – Wie ein Leserbrief voller Judenhass in die SZ kam

berittene Polizisten bei Straßenkrawallen in München mit weglaufenden Menschen, schwarz-weiß

Im August 1949 löst eine antisemitischer Leserbrief in der „Süddeutschen Zeitung“ eine Straßenschlacht in München aus. – Wiederabdruck eines Artikels von Dr. Ronen Steinke zur Dauerausstellung „Maria Theresia 23. Biografie einer Münchner Villa“.*

Leserbriefe geben nicht die Meinung der Redaktion wieder – so lautet die übliche Floskel, wenn Zeitungen externe Zuschriften veröffentlichen. So distanziert sich auch die Süddeutsche Zeitung, bevor sie Lesermeinungen ins Blatt hebt. Das hindert natürlich niemanden daran zu erkennen, dass trotzdem eine Verbindung besteht zwischen der Redaktion und der von ihr veröffentlichten Zuschrift.

Es ist eine Auswahlentscheidung, die nicht Zustimmung, aber doch eine gewisse Akzeptanz erkennen lässt. Wie weit reicht das, was die Redaktion für lesenswerte Beiträge zum Diskurs hält und aus dieser Haltung heraus publiziert (egal, ob der einzelne Redakteur, die einzelne Redakteurin heftig nickt oder den Kopf schüttelt)? Und wo beginnt das, was man für Kloake hält (Hate speech, Hetze, Verschwörungstheorie – die Bezeichnungen variieren)?

Pseudonym „Adolf Bleibtreu“

Interessanterweise hat kein scharfer Kommentar und keine spöttische Glosse der SZ je so viel Wut hervorgerufen wie ein Leserbrief, der 1949 veröffentlicht wurde. In München löste er eine Straßenschlacht aus. Der Brief war gezeichnet mit dem Pseudonym „Adolf Bleibtreu“, der Duktus war nazistisch, und es verwunderte damals wie heute nicht unbedingt, dass es unter den Briefen an die SZ auch solche gab. Es verwunderte, dass die Redaktion die Zuschrift nicht im Papierkorb versenkte, sondern abdruckte.

So begann eine Diskussion, bei der die erst vier Jahre alte Redaktion zum ersten Mal ihr Verhältnis zu antisemitischen, rassistischen oder sonst wie hetzerischen Zuschriften prinzipiell klären musste; eine Debatte, die heute, in Zeiten von Online-Kommentaren, sogar noch viel relevanter geworden ist.

Und so wurde für kurze Zeit auch das Schweigen über die Nazi-Verbrechen zerrissen, an dem sich die SZ in diesen Jahren beteiligte. „Kontinuierlich wich die SZ dem Gesamtkomplex der Judenvernichtung aus“, so hat der kritische Chronist jener frühen SZ-Jahre das 2015 beschrieben, der ehemalige stellvertretende Leiter des Feuilletons, Knud von Harbou.

Mit einem Leitartikel hatte es begonnen. Kurz vor der ersten Bundestagswahl im August 1949 war dieser auf Seite 1 unter der Überschrift „Judenfrage als Prüfstein“ erschienen. Der Leitende Redakteur für Politik Wilhelm Emanuel Süskind hatte in dem Text zwar dafür plädiert, die wenigen überlebenden, zurückgekehrten oder erst jüngst als Flüchtlinge nach Deutschland versprengten Juden nicht wieder zu vertreiben oder zu vergraulen, sondern zu „halten“.

Er argumentierte aber durchgehend kühl mit Nützlichkeitserwägungen – für ein deutsches „Wir“, das weiterhin den Juden als Gegenstück gegenübergestellt wurde.

Süskind bezog sich auf den Schwarzmarkt an der Möhlstraße in Bogenhausen, an dem viele jüdische Flüchtlinge handelten und der anderen ein Ärgernis sei, und er forderte von seinen deutschen Landsleuten,

daß wir – moralisch – eine besondere Rücksicht und Zartheit den Juden gegenüber walten lassen wollen, auch wenn der einzelne Jude Rücksicht und Zartheit nicht herausfordert. Daß wir – intellektuell – unser Urteil nicht bestimmen lassen von Fehlern einzelner Juden und auch nicht von Fehlern, die das ganze Volk in seiner Durchgezüchtetheit besitzen mag.

Das Vokabular kam nicht von ungefähr, Süskind war bis 1945 Autor für NS-Publikationen gewesen, unter anderem als Mitherausgeber der braunen Propagandapostille „Krakauer Monatshefte“. Umso frappierender wirken die apologetischen Töne, die in seinen Text eingestreut waren:

Wir möchten glauben, daß beim einfachen Mann in Deutschland ein echter Antisemitismus tatsächlich genau so wenig besteht wie vor vierzig, vor zwanzig oder (unter uns in Bayern gesagt!) vor zehn Jahren. Nur daß der einfache Mann mit seiner gesunden Gesinnung nicht zu Worte kommt.

Am 9. August 1949 wandte sich die Redaktion an ihre Leser. Süskinds Ausführungen zur „Judenfrage“ hätten „einen ganz ungewöhnlich starken Widerhall gefunden“, schrieb sie. „Wir veröffentlichen von den äußerst verschiedenartigen Leserbriefen einige besonders charakteristische.“

Der erste Leserbriefschreiber, der ausgewählt wurde, schickte vorweg, er habe „viele Jahre unverhältnismäßig viele jüdische Freunde gehabt“, warnte aber, dass die „gesetzliche Bevorzugung“ der jüdischen Schwarzhändler an der Möhlstraße „Blüten treibt, auf die als Erwiderung der Antisemitismus immer mehr vordringt“. Ein zweiter schrieb, die Deutschen griffen gegen den Missstand des Markts wohl nicht ordentlich durch, weil sie „innerlich Auschwitz gegen Möhlstraße aufrechnen“ würden.

Ein dritter Leserbriefschreiber lobte, „was das deutsche Geistesleben den deutschen Juden alles verdankt, wie hervorragend und positiv die vielgeschmähten Eigenschaften dieses kritisch-selbstkritischen, weisen Volkes auch bei uns gewirkt haben“ und plädierte für Nachsicht.

Und der vierte, den die SZ ebenfalls abdruckte:

Geht doch nach Amerika, aber dort können Sie Euch auch nicht gebrauchen, sie haben genug von diesen Blutsaugern. Ich bin beim Ami beschäftigt, und da haben verschiedene schon gesagt, dass sie uns alles verzeihen, nur das eine nicht, und das ist: daß wir nicht alle vergast haben, denn jetzt beglücken sie (die Juden) Amerika … Sie können sich darauf verlassen, daß ich alles tun werde, um recht viele Amis aufzuklären. Ich versichere Ihnen, daß ich kein Nazi war, aber ich bin ein 100%iger Deutscher. Ich gehöre zu den sogenannten ‚Stillen im Lande‘ und die Flüsterpropaganda ist mehr wert als 100 Zeitungen …

Die SZ wird selbst zum Gegenstand der Berichterstattung

Am Tag nach der Veröffentlichung, am 10. August 1949, versammelten sich zwischen 1000 und 2000 jüdische „Displaced Persons“, also Flüchtlinge und Holocaust-Überlebende, um in einem Demonstrationszug ein Protestschreiben gegen die „wiederholte antijüdische Hetze der deutschen Neofaschisten, wie sie in der Süddeutschen Zeitung zum Ausdruck kommt“, der Chefredaktion zu überreichen.

berittene Polizisten bei Straßenkrawallen in München mit weglaufenden Menschen, schwarz-weiß
Polizeieinsatz. Alex Hochhäuser © Stadtarchiv München

Die Münchner Polizei wollte die Menschen schon kurz nach Beginn auseinandertreiben. Die Lage eskalierte. Einige jüdische Demonstranten malten Hakenkreuze auf Polizeifahrzeuge, andere kippten ein solches Fahrzeug um. 38 Polizisten wurden verletzt – und drei jüdische Demonstranten durch Schüsse. Erst die anrückende US-Militärpolizei zwang die Münchner Polizei, sich zurückzuziehen, woraufhin der Münchner Polizei-Vizepräsident sich empörte, dass die „endgültige Säuberung des Aufruhrortes“ verhindert worden sei.

Die SZ war selbst zum Gegenstand der Nachrichten geworden. Sie brachte einen Bericht über die Zusammenstöße auf Seite 1, druckte auch die gegen sie gerichtete Resolution der jüdischen Displaced Persons im Wortlaut ab, beharrte aber darauf, dass man ihr Unrecht tue. Mit einer bemerkenswerten Begründung.

Interessanterweise hatte der Leserbriefschreiber „Adolf Bleibtreu“ mit den Worten „Bitte veröffentlichen Sie diese Zeilen, wenn Sie ‚Demokrat‘ sind“ noch an das liberale Gewissen der Redakteure appelliert, Meinungen nicht zu unterdrücken. Und interessanterweise hatte die Redaktion diesen Satz mit abgedruckt, obwohl sie den Brief an mehreren Stellen kürzte – was dafür spricht, dass auch die Redakteure Wert darauf legten, diesen liberalen Gedanken zu betonen.

Das Argument, Leserbriefe gäben nicht die Meinung der Redaktion wieder und ihr Abdruck sei ein Dienst am demokratischen Geist, unterstrich die SZ-Redaktion auch, als sie auf die aufbrandende Empörung antwortete: Man habe „selbstverständlich – um die Reaktion der Öffentlichkeit nicht zu verfälschen – auch ablehnende Zuschriften abgedruckt und unter diesen, mit voller Absicht, eine besonders gehässige, die allerdings einen blühenden Antisemitismus ausdrückt und die gar nicht niedriger zu hängen war, als indem man sie in ihrer vollen Brutalität veröffentlichte. Niemals kann eine Vertuschungs- oder Beschönigungstaktik die rechte Art des Kampfes gegen den Antisemitismus sein.“

Chefredakteur Edmund Goldschagg – ein Sozialdemokrat, der während der Nazi-Zeit mit einem Berufsverbot belegt gewesen war – versuchte sogar, eine Art journalistischer Wahrheitspflicht zum Abdruck nazistischer Zuschriften herzuleiten, weil die deutsche Öffentlichkeit ohne solche Zeugnisse an der realen Fortexistenz von Antisemiten zweifeln könnte.

Konfrontiert mit dem Vorwurf des Antisemitismus, drehte die SZ den Spieß anfangs sogar um und machte ihrerseits den jüdischen Demonstranten einen Vorwurf: „Man wird selten ein so krasses Beispiel erleben, daß dem, der sich redlich bemüht, zur Einsicht zu mahnen, in den Rücken gefallen wird“, erklärte sie am 11. August 1949. Und allen Ernstes:

Sollte der Antisemitismus – eine, wie wir nach wie vor glauben, im Grunde durchaus unbayerische Erscheinung – neuen Auftrieb erhalten, so wird man sich bei den Veranstaltern des gestrigen Tumults zu bedanken haben.

Was die Verantwortung einer Zeitung für Meinungen betrifft, denen sie ein Forum und eine Bühne bietet, traf erst der damalige SZ-Mitherausgeber Werner Friedmann einen anderen, einen selbstkritischeren Ton. Friedmann, Sohn eines jüdischen Kinderarztes und einer nichtjüdischen Mutter, der 1951 Chefredakteur werden sollte, rügte seine Redakteure öffentlich. Er selbst war während der Vorgänge im Ausland gewesen.

„Mit Henkern und Sadisten wollen wir uns nicht unterhalten“

Nun schrieb er am 16. August 1949 in einem Leitartikel:

Als der Schreiber dieser Zeilen … in der Via Veneto in Rom für 20 Lire an einem der bunten Zeitungskioske die SZ kaufen konnte, war er ein wenig stolz. Denn es schien ihm ein Beweis dafür zu sein, daß die von ihm mitherausgegebene Zeitung, deren erste Druckplatten vor knapp vier Jahren aus dem eingeschmolzenen Satz von Hitlers ‚Mein Kampf‘ gegossen wurden, sich trotz der schwierigsten Umstände eine weit über die Grenzen Deutschlands reichende Geltung zu verschaffen wußte. Als er dann diese Zeitung … aufschlug, war er nicht mehr stolz.

Friedmann führte aus:

Die Spalte ‚Briefe an die SZ‘ steht jedem Anständigen zur Verfügung, der etwas Grundsätzliches zu sagen hat – auch wenn sich seine Meinung nicht mit jener der Zeitung decke, ja, gerade dann. Er mag Kritik an der Demokratie oder an den Mißständen unserer Zeit üben, deren es wahrhaftig nicht wenige gibt.

Die Kritik kann scharf und mutig sein. Solange man mit dem Einsender auf der Basis der Achtung vor der Meinung des anderen diskutieren kann, ist er willkommen, vorausgesetzt, daß er ehrlich seinen Namen nennt. Aber die Achtung vor der Meinung des anderen muß aufhören, wenn es sich um eine verbrecherische Meinung handelt.

Am Ende müßte man sonst – nur um der ‚Objektivität‘ zu dienen – auch die Meinungsäußerung eines Tollhäuslers zum Ausdruck bringen, der etwa empfiehlt, alle alten Leute zur Gewinnung von Wohnraum zu erschlagen, oder die Aufforderung eines Amokläufers, alle Flüchtlinge zur Beseitigung eines unangenehmen Problemes zu ertränken.

Es gibt eine Art von falscher Toleranz, an der die Demokratie bei uns schon einmal zu Grunde gegangen ist. Mit Henkern und Sadisten wollen wir uns nicht unterhalten – nicht einmal, um zu zeigen, daß es solche unter uns gibt. Wir wissen das leider schon.

Die Redaktion schwenkte um, lobte eine Belohnung für die Identifizierung von „Adolf Bleibtreu“ aus und half der Polizei bei den Ermittlungen gegen den hinter dem Pseudonym stehenden Mann, indem sie Schriftproben zur Verfügung stellte. Die Ermittlungen verliefen im Sande. Aber die Diskussion wirkte nach.

Bis heute. Leserbriefe auf Papier werden zwar seltener. Von ihnen erhält die SZ noch etwa 100 bis 200 am Tag. Sie werden in der Regel beantwortet. Ausgewählte werden abgedruckt; durchaus nach dem Prinzip, ein möglichst breites Spektrum abzubilden. Eine Handvoll rassistischer oder pöbelnder Zuschriften sind auch darunter.

Sie landen unbeantwortet im Müll, seltener bei der Staatsanwaltschaft. Aber im Netz explodiert die Menge der Kommentare. Die Diskussionen dort sind breiter gefächert, im positiven Sinne vielfältiger als in den knappen Leserbriefspalten der Zeitung. Gleichzeitig kennen dort antisemitische oder (heute öfter) Muslim-feindliche, rassistische Hetze keine Grenzen.

Radikalisierender Tonfall unter heutigen Kommentaren

Auf der Internetseite der Süddeutschen Zeitung gab es von Beginn an nicht den Ansatz, alle Leserkommentare ungefiltert nebeneinander stehen zu lassen. Was im Online-Journalismus und in sozialen Netzwerken „Moderieren“ genannt wird, ist letztlich ein Aussondern von Hate speech, im Friedmann’schen Geiste.

Als im Jahr 2014 zwei Kriege aufflammten, erst in der Ostukraine, dann in Gaza, erlebten die Online-Redakteurinnen und -Redakteure der SZ, wie unter Artikel Hunderte offenbar organisierte Kommentare gepostet wurden, der Tonfall radikalisierte sich. Besonders im Zusammenhang mit Gaza fehlte kaum ein antisemitisches Stereotyp. Mit dem Moderieren kam man kaum mehr hinterher.

Im September 2014 machte die Süddeutsche Zeitung einen Schnitt. Die Möglichkeit, Kommentare unter Artikel zu posten, wurde abgeschaltet. Seitdem gibt es auf der Internetseite nur noch zu täglich drei von der Redaktion festgelegten Themen eine moderierte Debatte. „Leserbriefe geben nicht die Meinung der Redaktion wieder“, so ähnlich lautet die Floskel zwar auch bei User-Kommentaren im Netz, aber damit entledigt man sich publizistischer Mitverantwortung eben nicht.


* Dieser Artikel erschien erstmals in den Münchner Beiträgen zur jüdischen Geschichte und Kultur, Jg. 12 / Heft 1.


Mehr zur Möhlstraße im MON_Mag:

Autor*innen-Info

Profilbild Ronen Steinke

Dies ist ein Gastbeitrag von Ronen Steinke

Ronen Steinke, Dr. jur., geboren 1983 in Erlangen, arbeitet als Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Er studierte Jura und Kriminologie, arbeitete in Anwaltskanzleien, einem Jugendgefängnis und beim UN-Jugoslawientribunal in Den Haag.

Seine Promotion über die Entwicklung der Kriegsverbrechertribunale von Nürnberg bis Den Haag wurde von der FAZ als „Meisterstück“ gelobt. Seine 2013 veröffentlichte Biografie über Fritz Bauer, den mutigen Ermittler und Ankläger der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, wurde mit „Der Staat gegen Fritz Bauer“ preisgekrönt verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Im Berlin Verlag erschien 2017 sein hochgelobtes Buch „Der Muslim und die Jüdin.

Die Geschichte einer Rettung in Berlin“. 2020 folgte „Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt“ und 2022 der Bestseller „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“. Foto: © Hannes Leitlein.

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