Der Abolitionismus war stark mit der bürgerlichen Frauenbewegung verbunden. Anna Pappritz vermittelte zwischen beiden und mischte sich intensiv in die Debatte um die Prostitution um 1900 ein. Dabei ging es darum, gegen die sogenannte Reglementierung vorzugehen. Diese sprach letzten Endes Frauen in der Prostitution partiell ihrer Menschenrechte ab. Ein Beitrag von Dr. Kerstin Wolff für das AddF zur Blogparade #femaleheritage.
In der derzeitigen Pandemie kommt es zu erstaunlichen Vorschlägen. So wird zur Zeit darüber diskutiert, ob es trotz Pandemie möglich ist, die Bordelle wieder zu öffnen und wie die damit verbundenen Gesundheitsrisiken in den Griff zu bekommen sind. Dabei wird (wieder einmal) nur auf die Prostituierte geschaut und nicht auf den Freier – obwohl er doch derjenige ist, der die Erkrankung in seine Familie, in sein Bezugsfeld mitnehmen würde. Mich erinnerte dieser Vorschlag stark an die Debatten um 1900, als nicht Covid das Problem war, sondern die damals unheilbaren Geschlechtskrankheiten.
In diesem Blogbeitrag möchte ich eine Frau vorstellen, die sich um 1900 nicht scheute, sich in die Debatte um Prostitution einzumischen und der es (mit) zu verdanken war, dass in Deutschland 1927 ein reformiertes Prostitutionsgesetz in Kraft trat.
Anna Pappritz und die Prostitution um 1900
Geboren wurde Anna Pappritz am 9. Mai 1861 in Radach, einem Rittergut im heutigen Polen. Ihre Kindheit und Jugend hat Anna Pappritz immer nur in den dunkelsten Farben geschildert. Sie fühlte sich isoliert und missverstanden und wollte nicht in für sie ihr vorgesehene Leben als Hausfrau und Mutter passen. Erst als der Vater starb und sie mit ihrer Mutter und dem jüngsten Bruder nach Berlin zog, änderte sich ihre Welt.
In der Großstadt lernte sie ab Mitte der 1890er Jahre die Frauenbewegung kennen und begann sich sofort in ihr zu engagieren – zu einer Zeit, als in der bürgerlichen Gesellschaft ganz langsam ein (öffentliches) Gespräch über das Geschäft der Prostitution begann. Vor allem die Frage nach der Verhütung von damals noch nicht heilbaren Geschlechtskrankheiten wurde debattiert. Auch die verschiedenen Flügel der Frauenbewegung begannen sich in das Gespräch einzumischen. Dabei hatte die Bewegung zu Beginn weder eine einheitliche Position noch eine feststehende Meinung zu diesem Thema. Diese musste erst einmal gebildet werden.
Es war Anna Pappritz zu verdanken, dass sich die bürgerliche Frauenbewegung der internationalen abolitionistischen Bewegung anschloss. Der Abolitionismus setzte sich in einem ersten Schritt für die Abschaffung der Reglementierung von Prostitution ein; im zweiten Schritt sollte es um eine generelle Abschaffung der Prostitution gehen. Erreicht werden sollte dieses Fernziel durch eine uneingeschränkte Gleichberechtigung von Frauen inklusive ihrer wirtschaftlichen Selbstständigkeit. In den Worten von Anna Pappritz aus dem Jahr 1919: Die Bestrebungen des Abolitionismus
sind nicht nur darauf gerichtet, die Prostitution ihrer gesundheitlichen Gefahren zu entkleiden, sondern (der Abolitionismus; K.W.) sieht in der Prostitution an und für sich, in ethischer und sozialer Hinsicht, eine Gefahr für die gesunde Entwicklung unseres Volkes. Wenn es gelänge, durch irgend ein Mittel die Geschlechtskrankheiten aus der Welt zu schaffen, so würde damit die Aufgabe, die sich die Föderation gestellt hat, nicht erfüllt sein, weil ihrer Ansicht nach die ethischen Schädigungen, die die Prostitution mit sich bringt, ebenso schwerwiegend sind wie die gesundheitlichen Gefahren.[1]
Anna Pappritz, S. 260
„Alle Frauen auf die Barrikaden“ – gegen die Reglementierung
Zuvor aber kämpften AbolitionistInnen ab 1900 gegen das staatliche Verfahren, dessen sanktionierende Auswirkungen allein die sich prostituierenden Frauen erfuhren; gegen die sogenannte Reglementierung. Konkret bedeutete Reglementierung, dass:
- sich Prostituierte unter Polizeiaufsicht stellen mussten,
- sie engmaschig medizinisch (zwangs)untersucht,
- sie teilweise in Bordellen kaserniert,
- sie bei Verdachtsfällen von Krankheiten sofort isolieren wurden.
Damit wurden Frauen in der Prostitution partiell ihre Menschenrechte abgesprochen, ein Zustand, der alle Frauen auf die Barrikaden bringen müsste – so Pappritz. Außerdem sei es ungerecht, dass nur alleine die Prostituierten unter Beobachtung gestellt werden würden. Pappritz dazu:
Wenn Vorkehrungsmaßregeln (gegen Geschlechtskrankheiten; K.W.) getroffen werden sollen, müssen dieselben (…) dem Manne gegenüber getroffen werden, der allein die Familie gefährdet und die ganze Verantwortung dafür trägt.[2]
Sellmann, 1935, S. 19.
Damit drehten die AbolitionistInnen die Hauptperspektive der damaligen Zeit einfach um, indem sie den Mann, sprich den Freier, als den zu Kontrollierenden darstellten und nicht die Prostituierte als ‚Hauptinfektionsherd‘. Dabei scheuten sich die AbolitionistInnen nicht, die sozialen Umstände der Prostitution, die in dieser Zeit meistens ignoriert wurden, zu benennen:
Weil die bestehenden Vorschriften einer Anzahl ihnen verfallener Frauen die Möglichkeit rauben, sich anders als durch unsittlichen Erwerb zu ernähren. Weil sie ihnen die Rückkehr zu einem sittlichen Lebenswandel (…) erschweren, indem ihnen gewisse Bedingungen auferlegt werden (… und diese; K.W.) so erniedrigender und entwürdigender Natur sind, daß dadurch zugleich mit jedem Rest von Ehr- und Schamgefühl die moralische Kraft der Frauen völlig gebrochen wird.[3]
Sellmann, 1935, S. 19.
War der Abolitionismus – war Anna Pappritz erfolgreich?
Es war alles andere als leicht, diese umgedrehte Perspektive in die öffentliche Debatte zu bringen. Wie heute auch, blieb und bleibt der Freier verdeckt und seine die Prostitution erst ermöglichenden finanziellen Anreize und die Armut oder Perspektivlosigkeit vieler Frauen wurden hinter Pseudoargumenten versteckt. So brauche der Mann die Prostitution für seine Gesunderhaltung, so eine Meinung, oder eine andere: Es gäbe geborene Prostituierte, die gar nicht anders könnten, als sich so zu verhalten.[4]
Es war dem unermüdlichen Engagement von Anna Pappritz und den anderen AbolitionistInnen zu verdanken, dass dies nicht unwidersprochen blieb und immer wieder darauf verwiesen wurde, dass es soziale und gesellschaftliche Rahmenbedingungen waren, die die Prostitution ermöglichten. Letztendlich sollte es aber darum gehen, das Geschlechterverhältnis auf eine andere Basis zu stellen.
Der junge Mann muß lernen, in der Frau nicht mehr in erster Linie das Geschlechtswesen zu erblicken und zu lieben, dessen sexuelle Reize für seine Wertschätzung maßgebend sind, sondern die moralisch gleichberechtigte Persönlichkeit[5]
– so Katharina Scheven, eine der engsten Mitarbeiterinnen von Pappritz.
Aus diesen wenigen Zitaten wird deutlich, warum sich der Abolitionismus sehr stark mit der Frauenbewegung verbunden hatte – beide blickten mit einem sehr optimistischen Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit einer Gleichberechtigung der Geschlechter erreicht werden sollten.
Das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
Die große Stunde des Abolitionismus schlug in der Weimarer Republik, denn endlich sollte die Gesetzesgrundlage, die die Prostitution regelte, reformiert werden. Anna Pappritz setzte sich vehement für eine neue juristische Regelung ein. 1927 gelang schließlich das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, mit dem offiziell die Reglementierung der Prostitution in Deutschland beendet wurde. Dass dieses Gesetz verabschiedet werden konnte, hatte viel mit den jahrzehntealten Netzwerken der Frauenbewegung zu tun, denn die Vorsitzende des Ausschusses für Bevölkerungspolitik war die DNVP-Abgeordnete Paula Müller-Otfried vom Deutsch-Evangelischen Frauenbund. Diese hatte durch Anna Pappritz um 1900 den Abolitionismus kennen und schätzen gelernt und konnte nun als Reichstagsabgeordnete für ihn tätig werden.
Dem Gesetz war allerdings keine lange Lebensdauer beschieden; die abolitionistischen Errungenschaften wurden durch die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 wieder aufgehoben. Trotzdem war das Gesetz wichtig und die Aktivitäten der AbolitionistInnen notwendig. Denn an sie können heutige AbolitionistInnen anschließen, wenn sie aktuell die Einführung des Nordischen Modells fordern und formulieren:
Ziel ist nicht das Verbot/die Kriminalisierung/Illegalisierung der Prostitution, sondern die Kriminalisierung der Nachfrage nach bezahltem Sex, denn sie ist der Grund, aus dem Prostitution existiert.[6]
Anna Pappritz, die 1939, wenige Monate vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, verstarb, dürfte sich freuen, dass ihre Forderungen noch immer aktuell sind, auch wenn sie sich sicher erhofft hätte, dass wir im Jahr 2020 weiter sind.
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[1] Anna Pappritz: Die abolitionistische Föderation, S. 260.
[2] Zitate aus: Adolf Sellmann: 50 Jahre Kampf für Volkssittlichkeit und Volkskraft. Die Geschichte des Westdeutschen Sittlichkeitsvereins von seinen Anfängen bis heute, Schwelm i. Westf. 1935, S. 19.
[3] Ebenda, S. 19.
[4] Siehe dazu: Cesare Lombroso / Guglielmo Ferrero: Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte. Anthropologische Studien, gegründet auf eine Darstellung der Biologie und Psychologie des normalen Weibes, Hamburg 1894.
[5] Katharina Scheven: Die Bedeutung der Frauenbewegung für das Verhältnis der Geschlechter vom Standpunkt der Erziehung, in: Deutscher Frauenkongreß, hrsg. vom BDF, Teil 2, Berlin 1912, S. 256-265, hier S. 261.
[6] Siehe: http://abolition2014.blogspot.com/2014/08/abolition-2014-positionspapier.html / Abgerufen am 6.11.2020