Der briefliche Nachlass Frank Wedekinds in der Monacensia bildet die Hauptgrundlage für die derzeit entstehende Edition „Frank Wedekinds Korrespondenz digital“. Darin finden sich zwei Visitenkarten Anita Augspurgs. Sie belegen eine interessante Verbindung zwischen dem bedeutenden Dramatiker der Moderne und einer der zentralen Stimmen der Frauenbewegung. Aus ihnen geht hervor, dass er ihr sein Manuskript „Frühlings Erwachen“ schickte. Warum tat er das? Cordula Greinert berichtet in ihrem Beitrag anlässlich #femaleheritage* über ihre detektivische Quellenarbeit.
Anita Augspurg – auf den Spuren einer der ersten Leser*innen von Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“
Einer der vielen Schätze, die die Monacensia beherbergt, ist der Nachlass des Schriftstellers Frank Wedekind(1864–1918). Er umfasst nicht nur mehr als 200 Handschriften dieses bahnbrechenden Autors der literarischen Moderne, sondern auch über 2000 Briefe, Postkarten, Telegramme und sonstige Korrespondenzstücke an ihn und von ihm.
Der Nachlass der Publizistin und Juristin Anita Augspurg (1857–1943) dagegen zählt zu den vielen Schätzen, die 1933 beschlagnahmt wurden und seitdem verschollen sind.[1] Nur verstreut sind archivarische Spuren dieser bedeutenden Protagonistin der Frauenbewegung überliefert, insbesondere in Sammlungen oder Nachlässen Anderer.
So finden sich im Nachlass Wedekinds zwei undatierte Visitenkarten Anita Augspurgs.[2] Recherchen ergaben, dass sie in den Monaten Mai und Juni 1891 geschrieben wurden. Sie legen Zeugnis ab davon, dass die Wege Augspurgs und Wedekinds sich mitten im ereignisreichen Aufbruch der Münchner Moderne kreuzten – sie 33, er 26 Jahre alt.
Augspurg dankt Wedekind darin unter anderem für die Übersendung zweier seiner Stücke.
- Sein im März 1891 erschienenes Lustspiel „Kinder und Narren“ hatte er ihr als Widmungsexemplar gesandt – es verhandelt unter anderem von der Frauenbewegung aufgeworfene Kontroversen über Bildung und Ehe.
- Von der später berühmt gewordenen Kindertragödie „Frühlings Erwachen“, in der Wedekind unter anderem die repressive Sexualmoral seiner Zeit bloßstellte, hatte er Augspurg sogar eine Manuskriptfassung zukommen lassen.
Die beiden kleinen Visitenkarten sind also alles andere als unspektakulär. Aus ihnen wird ersichtlich: Anita Augspurg war eine der ersten Leser*innen von „Frühlings Erwachen“.
Die „Gesellschaft für modernes Leben“ und die Frauenbewegung
Gelegenheiten, auf denen sich Anita Augspurg und Frank Wedekind – gezielt oder zufällig – kennengelernt haben könnten, gab es damals viele in der Stadt, die als „geistig freieste, wenigstens vorurteilsfreieste“[3] ihrer Zeit galt. Aus der zweiten Visitenkarte geht beispielsweise hervor, dass Augspurg und Wedekind sich bei Vortrags- und Theaterabenden sahen, die die im Dezember 1890 gegründete Gesellschaft für modernes Leben im Lokal „Isarlust“ organisierte. Die Gesellschaft bestand zwar nur bis Februar 1893, erwies sich aber als Katalysator für den künstlerischen und gesellschaftlichen Aufbruch der Münchner Moderne. Wedekind gehörte ihr als Mitglied an, Augspurg war als Rezitatorin angekündigt.
Die „Moderne“ pflegte zudem enge Verbindungen zur damals entstehenden Frauenbewegung. Diese beruhten auf Gegenseitigkeit: Insbesondere zu den Leseabenden des Deutschen Frauenvereins Reform, in dessen Vorstand und an dessen Veranstaltungen sich Augspurg ab 1891 aktiv einbrachte, kamen Mitglieder der Gesellschaft.[4]
Die beiden dürften sich aber bereits vor 1891 begegnet sein. So schrieb Augspurg gut zwei Jahre nach Wedekinds Tod dem Münchner Professor für Literatur- und Theaterwissenschaft und Wedekind-Biografen Artur Kutscher, daß sie seit Sommer 1889
dauernd, aber nur gelegentlich, in freundschaftlichem Verkehr mit Frank Wedekind stand, daß aber kein einer bemerkenswerten Erwähnung verdienender Charakter diesen Beziehungen innewohnte“[5]
Diese Zurückhaltung – sei sie nun charakterlicher oder öffentlichkeitsstrategischer Natur – führte letztlich dazu, dass Kutscher über die Kontakte der beiden während Wedekinds Münchner Zeit von Mitte 1889 bis Mitte 1991 lediglich festhielt: „Er besuchte die sozialistische Schriftstellerin Anita Augspurg […].“[6]
„Frühlings Erwachen“ und das „Atelier Elvira“
Nicht nur die Tatsache, dass Wedekind Augspurg noch vor Drucklegung von „Frühlings Erwachen“ das Manuskript gesandt hatte, sondern auch der Grund hierfür blieben der Wedekind-Forschung daher lange unbekannt. Die Frauenforschung entdeckte diese Begebenheit zuerst.[7] Augspurg hatte Kutscher gegenüber wiederum tiefgestapelt:
Vielleicht auf Grund meiner früheren kurzen Bühnenlaufbahn gab er mir damals das Manuskript seines ‚Frühlingserwachen‘ zu lesen, aber zu damaliger Zeit konnte ich ihm zu einer Aufführung des Stückes begreiflicherweise nicht behülflich sein: das verdient doch keine Aufnahme in seine Biographie.[8]
Augspurgs frühere Tätigkeit als Schauspielerin von 1881 bis 1885 ist heute kaum noch bekannt; für Wedekind war sie offenbar ein ausschlaggebender Faktor. Dass Augspurg sich dennoch außerstande sah, „Frühlings Erwachen“ zu einer Aufführung zu verhelfen, dürfte in erster Linie auf die zeitgenössische Theaterzensur zurückzuführen sein.
Ihre Kontakte in Theaterkreise bestanden nämlich weiterhin. Sie waren ein wesentlicher Baustein für den Erfolg ihres 1887 gemeinsam mit ihrer Partnerin Sophia Goudstikker gegründeten Fotostudios. Das „Atelier Elvira“ in der Von-der-Tann-Straße 15 wurde rasch ein wichtiger Knotenpunkt in den Münchner kulturellen Netzwerken. Viele namhafte Schauspieler*innen und Schriftsteller*innen ließen sich hier porträtieren, unter ihnen auch einige von Wedekinds späteren Korrespondenzpartner*innen:
- Lou Andreas-Salomé,
- Dagny Bjørnson,
- Hans von Gumppenberg,
- Heinrich und Thomas Mann
- sowie Max von Schillings.[9]
Die Adresse findet sich im Übrigen auf den beiden Visitenkarten Augspurgs an Wedekind, denn von 1887 bis 1891 war dies auch ihre private Anschrift. Das als Ikone des Jugendstils bekannt gewordene Gebäude des Fotoateliers an dieser Stelle entstand jedoch erst 1898. Es war das Werk des Architekten August Endell, den auch Wedekind kannte und mit dessen Frau Else Endell er korrespondierte. Unglücklicherweise überstand das „Atelier Elvira“ – wie auch Augspurgs Nachlass – NS-Zeit und Zweiten Weltkrieg nicht.
Augspurgs subtiles Urteil über Wedekinds Stück „Frühlings Erwachen“ sollte sich in mehrfacher Hinsicht bewahrheiten:
Es enthält wirklich eine Fülle von Originalität und feiner Psychologie und ich bin sicher daß es großes Aufsehen machen wird.[10]
Das zu erwartende Ausmaß des Aufsehens sorgte dafür, dass das Stück 1891 nicht in Deutschland erschien, sondern in der Schweiz – der Münchner Verleger Eugen Albert hatte die zunächst bei ihm geplante Ausgabe nach juristischem Rat nicht realisiert.
Erst 15 Jahre später, am 20. November 1906, konnte „Frühlings Erwachen“ am Deutschen Theater in Berlin in einer Inszenierung von Max Reinhardt uraufgeführt werden – in einer zensierten Fassung. Diese hat damals tatsächlich
großes Aufsehen erregt und den eigentlichen Durchbruch Wedekinds als Bühnenautor markiert[11].
Anita Augspurg war zu diesem Zeitpunkt – als mittlerweile promovierte Juristin – eine der führenden, international vernetzten Figuren des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung. Sie setzte sich publizistisch und politisch für
- das gleiche Recht auf Bildung,
- das Frauenstimmrecht,
- eine grundlegende Ehe- und Sexualreform
- sowie den Pazifismus ein.
Ihre beiden Visitenkarten an Wedekind aus dem Frühjahr 1891 können nun in der Edition „Frank Wedekinds Korrespondenz digital“ eingesehen werden: https://briefedition-wedekind.ub.uni-mainz.de/view/document/single.xhtml?contentType=1&documentId=1081.
Autorin: Cordula Greinert
Cordula Greinert, M.A. in European Studies, ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin auf den Gebieten der Neueren deutschen Literatur, der Editionsphilologie und der Exilforschung tätig. Derzeit arbeitet sie mit an der digitalen Ausgabe von „Frank Wedekinds Korrespondenz digital“. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit erarbeitet sie den 8. Band der neunbändigen Gesamtausgabe „Heinrich Mann. Essays und Publizistik“. https://www.germanistik.uni-mainz.de/cordula-greinert-m-a
Projekt: „Frank Wedekinds Korrespondenz digital“
Die Edition „Frank Wedekinds Korrespondenz digital“ ist ein interdisziplinäres Forschungsprojekt unter der Leitung von Prof. Dr. Ariane Martin (Neuere deutsche Literaturgeschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz) und Prof. Dr. Uta Störl (Informatik, Hochschule Darmstadt). Sie wird seit April 2018 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. In diesem Rahmen digitalisierten im Oktober 2019 und im Oktober 2020 Mitarbeiter*innen der Edition, unter ihnen Cordula Greinert, den brieflichen Nachlass Wedekinds in der Monacensia. Sie erstellten dabei über 6000 Bilder, die nach und nach erschlossen und in die Edition eingepflegt werden sollen.
*Der Artikel steht im Zusammenhang mit unserem Kulturerbe-Projekt #femaleheritage, das wir mit der beendeten Blogparade „Frauen und Erinnerungskultur“ (11.11. – 9.12.2020) starteten. Der Nachlass Frank Wedekinds in der Monacensia ist eine wichtige Forschungsquelle. Wir werden über den Schriftsteller, Dramatiker und Schauspieler demnächst vermehrt berichten.
Thematisch verwandt sind folgende Artikel zur Blogparade #femaleheritage:
- Herstory – Podcast: „Anita Augspurg: Die unbeugsame Frauenrechtlerin“
- Bianca Walther – Podcast: „Wo ist das Recht der Frau? Anita Augsburg (1857-1943) Juristin, Feministin, Pazifistin“
- Elvira Steppacher Blog: „Das Atelier Elvira, die feministische Frage und August Gemmings Antwort“
- Frauen in Bronze und Stein: „Wanted: Denkmal für Dr. Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann“
[1] Sie selbst lebte seitdem gemeinsam mit ihrer Partnerin Lida Gustava Heymann in Zürich im Exil, wo beide 1943 verstarben.
[2] Anita Augspurg an Frank Wedekind, o. D., Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, Nachlass Frank Wedekind, FW B 4.
[3] Lida Gustava Heymann, in Zusammenarbeit mit Anita Augspurg: Erlebtes – Erschautes. Deutsche Frauen kämpfen für Freiheit, Recht und Frieden. 1850–1940. Hg. von Margrit Twellmann. Meisenheim am Glan 1972, S. 14.
[4] Vgl. Brigitte Bruns: Weibliche Avantgarde um 1900. In: Rudolf Herz, Dies. (Hg.): Hof-Atelier Elvira. 1887–1928. Ästheten, Emanzen, Aristokraten. Ausstellung des Fotomuseums im Münchner Stadtmuseum. 13. Dezember 1985 bis 2. März 1986. München 1985, S. 191–219, hier: S. 192–194; Susanne Kinnebrock: Anita Augspurg (1857–1943). Feministin und Pazifistin zwischen Journalismus und Politik. Eine kommunikationshistorische Biographie. Herbolzheim 2005, S. 114, 123.
[5] Anita Augspurg an Artur Kutscher, 30. Juli 1920, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Kutscher, Artur.
[6] Artur Kutscher: Frank Wedekind. Sein Leben und seine Werke. Band 1. München 1922, S. 190.
[7] Vgl. Bruns 1985, S. 191; Kinnebrock 2005, S. 119.
[8] Anita Augspurg an Artur Kutscher, 30. Juli 1920, Deutsches Literaturarchiv Marbach, A:Kutscher, Artur.
[9] Vgl. Rudolf Herz: Das Fotoatelier Elvira (1887–1928). Seine Fotografinnen, seine Kundschaft, seine Bilder. In: Ders., Brigitte Bruhns (Hg.): Hof-Atelier Elvira. 1887–1928. Ästheten, Emanzen, Aristokraten. Ausstellung des Fotomuseums im Münchner Stadtmuseum. 13. Dezember 1985 bis 2. März 1986. München 1985, S. 63–128.
[10] Anita Augspurg an Frank Wedekind, o. D., Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, Nachlass Frank Wedekind, FW B 4.
[11] Frank Wedekind: Werke. Kritische Studienausgabe. Band 2. Das Gastmahl bei Sokrates. Der Schnellmaler. Kinder und Narren. Die junge Welt. Frühlings Erwachen (1891, 1906). Fritz Schwigerling (Der Liebestrank). Dramatische Fragmente und Entwürfe. Hg. von Mathias Baum und Rolf Kieser unter Mitarbeit von Elke Austermühl, Elke Hausberg und Elinor Waldmann. Darmstadt 2000, S. 920.