Wie war Adolf von Hildebrand als Vater? Der gefeierte Bildhauer überraschte im Familienleben mit einer verspielten, kindlich-naiven Seite. Zwischen Künstlergenie und Erziehungspionier entwickelte er ein radikal freies Erziehungsideal – jenseits von Schule und Konvention. Der Artikel zeigt eine kaum bekannte Facette des Künstlers: seine außergewöhnliche Vaterrolle im Spannungsfeld von Kunst, Familie und Freiheit. Ein Beitrag zu «Maria Theresia 23».
Adolf von Hildebrand – Ein Vater jenseits des Patriarchats: Verspieltheit und künstlerische Lebensnähe
Im Gegensatz zur patriarchischen Vaterfigur seiner Zeit bezeichnete sich Adolf von Hildebrand zeitlebens selbst als großen Kinderfreund. Ob als junger Künstler in Berlinoder als «Papalino» in Florenz – er spielte gerne mit Kindern und war sich für keinen Spaß zu schade.1 Seine Tochter Berta Braunfels erinnert sich:
Mit abenteuerlichen Fratzen schaute er und streckte seinen Kopf oft durch die Türe. So kam er auch eines morgens nackt nur mit Badehöschen und Hut bekleidet, mit Regenschirm und Köfferchen durch unser Schlafzimmer gerannt. Wie wir erwachten, rief er nun ganz ernst: ‹Kinder, eiligst auf die Bahn›.2
Aber auch jene Seite des Künstlers finden wir überliefert:
Mein Vater hatte eine tiefe Liebe zum Kind, die sich durch sein ganzes Leben zog. […] Schon der Säugling fesselte und entzückte ihn ganz besonders. Er sah das urmenschliche, großartig wundersame an ihm.3
Personen, die dem Künstler nahestanden, beobachteten bei Hildebrand zuweilen eine sonderbare Mischung aus Naivität und Klugheit, die sich in einer verblüffend unmittelbaren und unvoreingenommenen Betrachtungsweise äußerte. Der Bildhauer soll Isolde Kurz einmal gestanden haben, dass er sich «nicht als ein Erwachsener fühle», und die Dichterin und enge Freundin der Familie bestätigte eine «unschuldige Weltfremdheit» und «dauernde Kindschaft» des Künstlers.4

Erziehung ohne Schule: Hildebrands Bildungsideal zwischen Freiheit und Anspruch
Auch in Fragen der schulischen Ausbildung hatte Hildebrand eine klare Meinung. Seine Vorstellung von Bildung entsprach ganz dem geflügelten Wort Hugo von Hofmannsthals, erinnert sich seine jüngste Tochter:
Nicht dass einer alles wisse, kann verlangt werden, sondern dass er indem er um eins weiß, um alle wisse.5
Von althergebrachten Schulmethoden hielt der Künstler wenig. Es ist überliefert, dass keines seiner sechs Kinder je eine Schule besuchte, die ihm selbst in äußerst unangenehmer Erinnerung geblieben war, noch wurde regelmäßiger Unterricht mit Hauslehrern betrieben.6 Hildebrand vertraute vielmehr ganz auf den natürlichen Instinkt des Kindes und seiner an der Natur geschulten sinnlichen Beobachtungsgabe – ganz im Sinne des Rousseau’schen Erziehungsideals. Dessen erziehungsphilosophische Lehrschrift «Émile ou De l’éducation» (1762) fand im 19. Jahrhundert in vielen bürgerlichen Familien Verbreitung.7
Dieser Erziehungsansatz muss auch Hildebrands Vorstellungen durchaus entsprochen haben. Allenfalls Fächer, für die sich die Kinder besonders interessierten, wurden durch Privatunterricht gefördert, ansonsten wuchsen sie in großer Freiheit auf. Das hatte zur Folge, dass insbesondere die Mädchen mitunter einen sehr unausgeglichenen Wissensstand hatten. In manchen Bereichen waren sie ihren Altersgenossen unterlegen, in anderen wiederum konnten sie leicht mit den Erwachsenen Schritt halten. Beim einzigen Sohn Dietrich wurde diese selbstbestimmte Entwicklung, die man den fünf Töchtern angedeihen ließ, jedoch begrenzt. Er wurde umfassend von Privatlehrern unterrichtet, von denen einige, wie Walter Riezler und Ludwig Curtius, bedeutende Gelehrte wurden.8 Zeitweilig erhielt er den Unterricht zusammen mit dem jungen Wilhelm Furtwängler.

Künstlerkult und Vaterfigur: Nähe und Distanz im Familienkosmos
Der belgische Maler Georges-Marie Baltus, der mit Hildebrands Tochter Sylvia verheiratet war, fasst den starken Einfluss der Künstlerpersönlichkeit des Vaters auf die Erziehung und das tägliche Leben auf San Francesco zusammen:
In jedem seiner Kinder war er zugegen […]. Daher kann ich Hildebrands Person von seinem Familienleben nicht trennen. […]. Jedermann las und sprach die vier europäischen Hauptsprachen, war mit den besten Werken der klassischen Epochen einfach und selbstverständlich familiarisiert, kannte die zeitgemäße Außenwelt durch persönliche Bekanntschaft von Künstlern, Schriftstellern meistens aus Deutschland oder England.9
Ergänzend fügt Baltus in seinen Erinnerungen an das Hildebrandhaus hinzu:
Es wäre unmöglich sich Hildebrand ohne seine Familie vorzustellen. Ihr Selbstbewusstsein und ihr Glück erklären sich gegenseitig.10
Dieser von Baltus als «Heroship» bezeichnete Geniekult um Hildebrands Person hatte allerdings auch seine Kehrseiten. Die überstrahlende Persönlichkeit des Vaters baute unweigerlich eine Distanz zwischen dem Künstler und seinen Kindern auf, die ihm nachzueifern suchten. Umgekehrt war sich Hildebrand seines Einflusses und Ansehens durchaus bewusst und kultivierte innerhalb der Familie sein «Ich-Idol», wie seine Frau Irene in ihren letzten Lebensjahren resümierte:
[…] im Leben wurde er seelenlos und er lebte nur noch wie ein edles Tier, mit seinem Ich als Idol, was das Ich that musste recht sein. Nie rührte er mit dem Wort d. h. mit dem Denken an dieses heilige Ich. Die Angst die Adolf vor jedem Denken über sich d. h. dieses Ichidol hat, ist bezeichnend für all seine Handlungen im Leben.11
Dietrich von Hildebrand erinnert sich, dass sein Vater viel Raum für sich beanspruchte und «einen natürlichen Egoismus – ein selbstverständliches Ausleben seiner starken Natur» besaß, was für seine Umwelt nicht leicht zu ertragen war.12 So herzlich und liebevoll Hildebrand sein konnte, so kühl und abweisend war auch eine andere Seite an ihm, selbst der eigenen Familie gegenüber.
Hildebrands Persönlichkeit war überaus facettenreich: vom ernsten Künstler und strengen Lehrer bis zum selbstherrlichen Lebemenschen, liebevollem Vater und verspielten Kindskopf.13 In seiner Person vereinten sich diese Gegensätzlichkeiten, so Wolfgang Rebel, «unter dem seltenen Anschein der Ungebrochenheit, Geschlossenheit».14

- Dieser Artikel fasst wesentliche Aspekte meiner Dissertation zusammen. Vgl. Felicitas Ehrhardt: «Ästhetisches Utopia. Adolf von Hildebrand und sein Künstlerhaus San Francesco di Paola in Florenz», Regensburg, 2018. ↩︎
- Aus Berta Braunfels Erinnerungen an A.v.H. in: Bernard Sattler: Adolf von Hildebrand und seine Welt. Briefe und Erinnerungen, München 1962, S. 562. ↩︎
- Berta Braunfels, «Erinnerungen an meinen Vater», Blatt 1, in: BSB, Ana 550, BS, Persönliche Erinnerungen und dgl. an A.v.H., vgl. Ehrhardt 2018, S. 97, 98. ↩︎
- Isolde Kurz: «Der Meister von San Francesco», Tübingen 1931, S. 13, vgl. Ehrhardt, 2018, S. 98. ↩︎
- Berta Braunfels, «Erinnerungen an meinen Vater», Blatt 1, in: BSB, Ana 550, BS, Persönliche Erinnerungen und dgl. an A.v.H., vgl. Ehrhardt 2018, S. 98. ↩︎
- Hildebrand war, wie er in seinen Jugenderinnerungen bekennt, nie ein guter Schüler, und das Lernen war ihm eine Qual, vgl. Hildebrand, «Jugenderinnerungen», in: Bernhard Sattler: «Adolf von Hildebrand und seine Welt. Briefe und Erinnerungen», München 1962, S. 11–24, hier S. 14. ↩︎
- Jean-Jacques Rousseau geht davon aus, dass der Mensch von Natur aus gut ist. Er empfiehlt daher, gemäß der Methode der «negativen Erziehung», die im Kind angelegten positiven Kräfte sich erst in den ersten zwölf Lebensjahren ohne das Eingreifen von Erziehungspersonen frei entwickeln zu lassen: «Verfolgt die Spuren der Natur […], gebt zunächst dem Ansatz seines Charakters völlige Freiheit […], zwingt ihn in keiner Weise, damit ihr ihn besser erkennt, wenn er sich ganz enthüllt.» In: Jean-Jacques Rousseau, «Émile oder Über die Erziehung», II. Buch, Stuttgart 1993, S. 119. ↩︎
- Vgl. Wolfgang Braunfels, «Wohnstil, Lebensstil, Arbeitsstil», in: Enno Burmeister; Christine Hoh-Slodczyk:«Das Hildebrandhaus in München, sein Erbauer, seine Bewohner», München, 1981, S. 72. Walter Riezler (1878–1965) promovierte in Klassischer Archäologie und war bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten Direktor des Stettiner Museums. Später wandte sich Riezler der Musikwissenschaft zu und erhielt eine Honorarprofessur an der Universität München. Ludwig Curtius (1874–1954) war wie Riezler Schüler des berühmten Archäologieprofessors Adolf Furtwängler und wurde später Direktor des Archäologischen Instituts in Rom. Vgl. Ehrhardt, 2018, S. 98. ↩︎
- Georges Baltus, «Erinnerungen an Adolf Hildebrand», Ts/Dg, in: BSB, Ana 550, BS, Persönliche Erinnerungen und dgl. an A.v.H., vgl. Ehrhardt, 2018, S.98. ↩︎
- Georges Baltus, «Erinnerungen an Adolf Hildebrand», Ts/Dg, in: BSB, Ana 550, BS, Persönliche Erinnerungen und dgl. an A.v.H., vgl. Ehrhardt, 2018, S. 98. ↩︎
- Irene von Hildebrand, «Lebenserinnerungen», Januar 1917, in: BSB, Ana 550, Materialien aus dem Nachlass von I.v.H. ↩︎
- Dietrich von Hildebrand, «Memoiren»,in: BSB, Ana 550, Persönliche Erinnerungen und dgl. an A.v.H. ↩︎
- Vgl. Ernst Rebel: «Porträt mit Facetten», 1998, in: Wolfgang Kehr; Ernst Rebel (Hg.): «Zwischen Welten: Adolf von Hildebrand (1847 bis 1921). Person, Haus und Wirkung», München 1998, S. 22–27. ↩︎
- Rebel, 1998, S. 10 und S. 38. ↩︎
Führungen durch unsere Ausstellungen:
Anmeldung jeweils über die MVHS
Das Hildebrandhaus. Geschichte einer Künstler*innen-Villa
(Ausstellung «Maria Theresia 23»):
Sonntags um 14 Uhr: 26.10. / 30.11. / 21.12. /11.1.
Samstags um 15 Uhr: 8.11. / 6.12.
Anmeldung über die MVHS
Literarisches München zur Zeit von Thomas Mann
(wird im Januar 2026 abgebaut):
Samstags um 15 Uhr: 1.11. / 15.11. / 22.11. / 27.12.
Sonntags um 14 Uhr: 14.12. / 3.1.26



