Ein Buch über „Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich“ klärte die Amerikaner über Indoktrination und Drill im Nationalsozialismus auf. „Zehn Millionen Kinder“ von Erika Mann ist ein „politisches Lehrbuch“. Faktengestützt und anschaulich schildert sie darin den Alltag von Familien im nationalsozialistischen Deutschland. Er war geprägt von Angst vor Denunziation und von Opferbereitschaft für den „Führer“. Aber Erika Manns Hoffnung richtete sich auf ein Ende der Barbarei. Prof. Dr. Irmela von der Lühe – Kuratorin der Erika Mann-Ausstellung – beschreibt die Entstehung und Bedeutung des Buches.
Das Studieren des Materials bereitet die reinste Uebelkeit, dann aber ist es ja auch ganz wollüstig, alles so darzulegen und zu denuncieren.
So schrieb Erika Mann am 12. September 1937 an ihre Mutter Katia Mann. In der Schweiz hatte sie das Material für ein Buch über die „Erziehung der Jugend im Dritten Reich“ gesammelt, dazu Gespräche mit Flüchtlingen und Emigranten geführt;und nun stand sie vor der Schwierigkeit es auch zu schreiben.
Erika Mann als politische Rednerin
Nach dem Scheitern ihrer „Pfeffermühle“ in den USA hatte die Kinderbuchautorin und Kabarettistin schnell einen neuen Beruf gefunden. Als Vortragsreisende und politische Publizistin widmete sie sich der Aufklärung und Information über den Alltag im nationalsozialistischen Deutschland. Sie sprach vor allem über die Lage von Kindern und Jugendlichen oder über die Situation von studierenden Frauen. Das Material für diese Vorträge wurde auch zum Material für ihr erstes Buch im amerikanischen Exil.
Zehn Millionen Kinder – ein „politisches Lehrbuch“
Ein „politisches Lehrbuch“ hat sie ihr Buch „Zehn Millionen Kinder“ später genannt. Tatsächlich handelt es sich um die erste umfassende Dokumentation zur nationalsozialistischen Erziehung in Schule und Hitlerjugend. Erika Mann sichtete und wertete eine Fülle authentischen Materials aus: angefangen von Hitlers „Mein Kampf“ über Erlasse für Schule und Unterricht aus der Feder des nationalsozialistischen Erziehungsministers Bernhard Rust bis hin zu Lehrerbegleitheften für den „Rasse-und Wehrkundeunterricht“.
Die Dokumentation reicherte sie an durch Material aus:
- der „Fibel“,
- nationalsozialistischen Kinderbüchern,
- dem „Stürmer“.
Erika Mann studierte Biologie- und Geschichtsbücher, Lehrwerke für den Deutsch- und den Mathematikunterricht, die im „Reich“ in Gebrauch waren. Vieles zitierte sie wörtlich. Und so bewies sie die verbrecherische Absurdität eines schulischen Unterrichts, dem es nicht um Wissensvermittlung und schon gar nicht um Bildung ging. Der Abrichtung auf „Führergefolgschaft“, Rassenhass und Kriegsbereitschaft hatten sich die Schule, die Staatsjugend und damit das gesamte pädagogische System verschrieben. Und in der Familie – so zeigt die Autorin – herrschen Angst vor kindlicher Denunziation; das Familienleben selbst ist von Parteiverpflichtungen, „Heimabenden“ und Wehrsportübungen dominiert.
Angeblich hatten die Nationalsozialisten die Familie gegen den Bolschewismus verteidigen wollen. In Wirklichkeit zerstören sie sie im „neuen“ Deutschland. Das private, individuelle Leben ist verpönt, stattdessen ist Aufopferung für den „Führer“ angesagt. Ein „wirklicher“ Deutscher ist ein Nazi und er verschreibt sich mit Leib und Seele
- dem Kampf für ein wahres „Deutschtum“ und dem dafür erforderlichen blinden Gehorsam,
- dem Kampf gegen die „Juden“ und die „Freimaurer“,
- gegen die Vernunft.
Familienalltag in der Nazizeit
Wohin die Vorgaben der Nationalsozialisten im Alltag einer Familie führen können, das veranschaulicht Erika Mann mit vielen Anekdoten und Szenen. Sie liefern die Selbstkarikatur eines diktatorischen Regimes und sind ein gefundenes Fressen für die Spottlust der einstigen Kabarettistin:
Der Vater kommt heim, findet niemanden zuhause. Ein Zettel liegt auf dem Tisch: „Bin im NS-Frauenbund. Komme spät zurück. Mutter.“ Da legt er seinerseits einen Zettel hin.“ Gehe auf die Parteiversammlung. Es wird spät werden. Vater“. Als nächster kommt Fritz, der Sohn. Er hinterläßt einen Zettel: „Haben Nachtübung. Wird bis morgen dauern. Fritz“. Hilda, die Tochter, ist die letzte. Sie schreibt auf: „Muß auf Nachtversammlung des BDM. Hilda“. Als die kleine Familie sich gegen zwei Uhr morgens zusammenfindet, sind Diebe dagewesen und haben alles gestohlen., was nicht niet-und nagelfest war, – die Wohnung kahl und leer. Auf dem Tisch aber liegt ein fünfter Zettel: „Dass wir hier stehlen konnten, danken wir unserem Führer. Heil Hitler! Die Diebe.“
Aber nicht nur Parteiverpflichtungen zerstören die Familie; das Zerstörungswerk beginnt schon viel früher: z.B. mit der Angst eines Vaters vor dem vierzehnjährigen „Pimpfenführer“ seines zwölfjährigen Sohnes. Weil das Kind krank war, hatte der Vater dem Sohn eine nächtliche Wanderung untersagt; nun gilt der Junge als Schwächling und Muttersöhnchen, und der „Vorgesetzte“ des Sohnes macht dem Vater Vorhaltungen, droht gar mit „Meldung“. Es wird nicht wieder vorkommen, versichert der Vater, denn er malt sich aus, welche Folgen es für ihn und seinen Sohn haben könnte, würde er den Jungvolk-Grünschnabel einfach aus dem Hause weisen.
Dass der Vater einem solchen natürlichen Impuls nicht folgt, enthüllt das Geflecht aus Angst und Opportunismus, Vorsicht und Verschlossenheit; aus Anpassung und Gleichgültigkeit, in dem „Zehn Millionen Kinder“ im nationalsozialistischen Deutschland aufwachsen. Es ist ein System aus Uniformen, Härtetests und Wehrsportübungen, in dem Kinder dressiert und gedrillt werden, abgehärtet gegen sich selbst und hart gegen andere.
Das Schreiben des Buches habe sie gleichzeitig aufgeregt und gelangweilt, schrieb Erika Mann ihrer Mutter; und doch hat sie mit unverhohlen diebischer Freude an dieser Materialaufbereitung gearbeitet, die der Welt, vor allem aber ihrem amerikanischen Publikum die Augen darüber öffnen sollte, wie es im „Land der Dichter und Denker“ pädagogisch und bildungspolitisch inzwischen zuging.
Erziehung zur Barbarei
Auf knapp 200 Seiten und in vier großen Kapiteln dokumentiert Erika Mann mit „School for Barbarians“ das System, mit dem die Nationalsozialisten die deutsche Jugend auf „Führer“ und „Volksgemeinschaft“ einzuschwören versuchten. Das geschieht:
- in einer durch Parteiverpflichtungen dominierten Familie,
- in der deutschen Schule, die einstmals einen guten Ruf hatte,
- schließlich in den Organisationen der „Hitlerjugend“, die sich zu Unrecht auf die Traditionen der liberalen bündischen Jugend der Vorkriegszeit beruft.
Erziehung zu Mittelmäßigkeit und Hass sind die Leitlinien der nationalsozialistischen Schulpolitik. Der Begriff Bildung kommt nicht mehr vor, er hat in Deutschland inzwischen einen negativen Klang. Auf Erbanlagen und „rassische Gesinnung“, auf charakterliche und körperliche Härte und erst an allerletzter Stelle auf gründliches Wissen, gesicherte Kenntnisse und Fertigkeiten ist der Unterricht ausgerichtet. Wehrerziehung und Rassenlehre, Biologie und Geopolitik sind Bestandteil der Allgemeinerziehung; Objektivität und Wahrheit aber, Vernunft und Geist werden nicht nur nicht angestrebt, sie erscheinen als verwerflich. Begriffe wie „Fanatismus“ und „barbarisch“ hingegen werden in positiver Bedeutung verwendet.
Erziehung zur Barbarei nennt Erika Mann all dies mit Recht, aber auf die Überwindung, auf ein Ende dieser Barbarei zielt ihr Buch. Sie schreibt es aus der Überzeugung heraus, dass man auf die Dauer in Deutschland eine solche Öde, Abgestumpftheit und Mittelmäßigkeit nicht ertragen wird; dass in kirchlichen Kreisen, bei den jungen Arbeitern die Opposition sich regen und dass vor allem die Frauen und Mütter sich empören werden: gegen das Schlange-Stehen nach Ersatzfett, schimmeliger Marmelade und feuchtem Brot. Hoffnung setzt Erika Mann mit ihrem Buch gegen die hoffnungslos bedrückenden Verhältnisse, Aufklärung gegen die verordnete Dummheit, ja sogar eine gewisse Heiterkeit gegen die freundlose Alltäglichkeit im Dritten Reich.
Erziehung zum Nationalsozialisten
Zugleich wollte sie der Welt aber auch vor Augen führen, in welch radikaler Weise sich seit Hitlers Machtantritt das Leben aller Menschen in Deutschland verändert hatte. Ein deutscher Staatsbürger – so erklärt sie – konnte bis Februar 1933 Verschiedenes sein: Junggeselle, Viehzüchter, Protestant, Fabrikbesitzer, Laubenpieper oder Vater. Seither muss er in erster Linie etwas anderes sein: Nationalsozialist. Während aber der erwachsene Deutsche immerhin noch in zweiter Linie Katholik oder Blumenzüchter, Ingenieur oder Ladenbesitzer sein könne, „ist das deutsche Kind schon heute ein Nazi-Kind und nichts weiter“.
Ihr Buch erweitert und verallgemeinert ihre Befunde und auch ihr Anliegen. Zum authentischen Material, aus dem sie ausführlich zitiert, kommen stets persönliche Geschichten und anschauliche Erlebnisse. Das beginnt bereits mit dem Prolog, der die Entstehungsgeschichte und die Erzählweise des Buches erläutert. Die Autorin (Erika Mann) lebt als deutsche Emigrantin in Zürich und trifft in einem Hotel in St. Gallen Frau M. aus München. Im Gespräch werden Details des nationalsozialistischen Alltagslebens sichtbar:
- vor allem die alltägliche Misere,
- der sinkende Lebensstandard,
- die rüden Umgangsformen,
- die Militarisierung aller Lebensbereiche.
Erika Mann als Autorin und Interviewerin erzählt nur nach und gibt wieder, was ihr Gast aus München aus eigener Anschauung berichtet. Die Frau ist gekommen, um für sich und ihre Familie die Emigration vorzubereiten, denn obwohl „reinrassig“ erträgt sie das Leben in Deutschland nicht länger. Vor allem will sie nicht, dass ihr kleiner Sohn in die Maschinerie der nationalsozialistischen Erziehung gerät. Dabei erzählt die Mutter der Autorin eine Geschichte, die fast wie ein Motto für Erika Manns Buch wirkt. Sie handelt von einer Freundin der Frau M., die ebenfalls in München lebt und mit einem Juden verheiratet ist:
Ihr siebenjähriges Söhnchen ist Halbjude. Er heißt Wolfgang. Neulich habe ich sie gefragt, wie es Wolfgang geht. „Ganz gut“, hat sie geantwortet, – „etwas besser heute, weil wenigstens die Sonne nicht scheint“. Ich verstand sie nicht gleich, und da sagte sie noch, – wenn das Wetter schön ist, dann spielen die andern, seine Freunde, so lustig im Hof, – und da weint er immer, weil doch nie mehr mitspielen darf, – natürlich, als Halbjude.
Von täglicher Erniedrigung und Schmähung ist das Leben der jüdischen Kinder bestimmt, für ihr Leben werden sie von solchen Schreckenserfahrungen gezeichnet sein; aber auch die „arischen“ Kinder werden – so betont Erika Mann nachdrücklich – verdorben, auf unbestimmte Zeit seien sie gefährdet und für die Welt gefährlich:
Ihnen ist jedes Gefühl für Recht und Menschlichkeit genommen, ihnen fehlt bis auf weiteres der Sinn, nach dem wir alle leben, der unser Gleichgewicht bestimmt und kraft dessen wir aufrecht gehen durch diese Welt – der Sinn für die Wahrheit.
Rezeption und Vergessen
„Bis auf weiteres“ betont Erika Mann ausdrücklich. Trotz des „Uebelkeit“ verursachenden Materials, das sie in ihrem Buch ausbreitet, schreibt sie es aus der Gewissheit heraus, dass Hitlers Erziehung nicht das letzte Wort haben wird. Und aus gutem Grunde hat Thomas Mann im Vorwort zum Buch der Tochter davon gesprochen, es habe zwar einen „abscheulichen Gegenstand“, vermittele aber das „Gegenteil einer abscheulichen Lektüre“. Thomas Mann schreibt weiter:
Die Anmut seines Zorns und seiner Trauer, sein intelligenter Sinn für Komik, der milde Spott, in den seine Verachtung sich kleidet, sind danach angetan unser Entsetzen in Heiterkeit aufzulösen.
Anliegen und Prinzipien der „Pfeffermühle“ und der zahllosen Vorträge, die Erika Mann seit 1937 in Amerika gehalten hat, sind in diesen väterlichen Worten genau erfasst. Die zeitgenössische Kritik hat dieses Urteil geteilt. „Zehn Millionen Kinder“ erschien 1938 im Amsterdamer Querido Verlag, im gleichen Jahr erschien es auch auf englisch unter dem Titel „School for Barbarians“; es wurde ein Bestseller, drei Monate nach dem Erscheinen waren 40.000 Exemplare verkauft. Im September 1938 gab man daher in New York Cocktailparties zu Erika Manns Ehren. Sie selbst nutzte ihren persönlichen und publizistischen Erfolg, um für Flüchtlingskomitees Geld zu sammeln und Hilfsorganisationen zur Rettung von Emigrantinnen und Emigranten aus Österreich und der Tschechoslowakei zu unterstützen.
So bekannt Erika Manns Buch während des Exils gewesen ist, so vergessen blieb es bis 1986, als es in der Bundesrepublik (in der DDR 1988) wieder aufgelegt wurde. Es ist ein Buch, das in seiner Zeit der Weltöffentlichkeit die Augen über die Erziehungsgrundsätze des nationalsozialistischen Deutschland öffnen sollte. Zu denen, die es seinerzeit gelesen haben, gehört auch der Historiker und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Fritz Stern (1926–2016). Als jüdisches Kind war er in Deutschland zur Schule gegangen, 1940 las er als 14-Jähriger Erika Manns Buch und schrieb ihr daraufhin einen Dankesbrief. Er bestätigt darin aus der Erinnerung an seine kindliche Erfahrung die Thematik und Zielsetzung des Buches. Fritz Stern fügte hinzu, er habe in seinem Schülerleben „nur zwei Dinge empfunden: starke Verachtung und Haß auf die Nazis und Stolz darauf, ein Nichtarier zu sein“.
Ergänzung zur Bedeutung des Buches aus heutiger Sicht:
Für die 1997 im Rowohlt Verlag erschienene Taschenbuchausgabe von „Zehn Millionen Kinder“ wurden die zahlreichen Zitate aus zeitgenössischen Zeitungen, Zeitschriften, Lehrbüchern und Propagandaschriften, die Erika Mann verwendet hat, systematisch überprüft. Drei Viertel der Quellen konnten ermittelt und verglichen werden, und es erwies sich: Erika Mann hat überwiegend zuverlässig zitiert. Die neuere erziehungs- und geschichtswissenschaftliche Forschung zur Pädagogik im Nationalsozialismus hat allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass das von Erika Mann entworfene Bild z.B. von der Zerstörung der Familie im Nationalsozialismus der Realität wohl nicht entspricht. Auch die behauptete, völlige Nazifizierung aller Lebensbereiche und insbesondere des Schulalltags, der Nischen und Lücken nicht möglich gemacht haben soll, wird inzwischen bezweifelt.
Die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Barbarei, die Charakterisierung wichtiger Nazi-Größen als primitive, ungebildete Zwangsneurotiker: all dies war in Literatur und Publizistik des Exils ein beliebtes Muster, um das prinzipiell Antizivilisatorisch-Rückständige des nationalsozialistischen Regimes zu illustrieren. Auch dies wird in der heutigen Forschung differenzierter gesehen. Erika Mann arbeitet mit solchen Mustern, weil sie durch klare Gegensätze aufrütteln und ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft Ausdruck verleihen wollte. Auch wenn ihre Darstellung also vor allem ein zeithistorisches Dokument ist, bleibt es von aktueller Relevanz.
Autorin: Prof. Dr. Irmela von der Lühe
Die für Mai geplante Veranstaltung „School for Barbarians“ fällt aufgrund der aktuellen Situation aus. Dafür schrieb Irmela von der Lühe für Euch den Gastartikel, um Aufbau, Hintergründe und zeitgeschichtliche Bedeutung des Buches von Erika Mann zu erläutern. „Zehn Millionen Kinder“ ist ein „politisches Lehrbuch“ mit der Absicht, die Erziehung zur Barbarei zu überwinden. Wir danken Frau von der Lühe für diesen Beitrag.
Dieser Artikel ist der erste von zwei Beiträgen zum Thema Erziehung im Nationalsozialismus. In Teil 2 liefert Benjamin Orthmeyer, ehemaliger Leiter der Forschungsstelle NS-Pädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt, weitere spannende Fakten und Details über die ideologische Erziehung in der NS-Zeit und ihre Folgen.