Die Münchner Bestsellerautorin Brigitte Riebe spricht mit der Historikerin Lilly Maier über ihre Kindheit in Bogenhausen, Schafe am Balkon, die Magie des Friedensengels und wie ihr Studentenjob als Briefträgerin in der Möhlstraße einen Roman inspirierte. Ein Interview in der Reihe #MeinBogenhausen.
Brigitte Riebe und ihr Bogenhausen der Kindheit – ein Interview
Fangen wir chronologisch an: Wann kamst du nach Bogenhausen?
Ich bin 1953 geboren, und im Januar 1956 haben meine Eltern als eine der Allerersten eine Wohnung in der Parkstadt Bogenhausen bezogen, in der Beblostraße.
Wie war das als Kind in der Parkstadt?
Es war herrlich. Es war ein ganz junges Viertel mit vielen jungen Müttern und vielen, vielen noch jüngeren Kindern. Es war immer was los. Bevorzugt wurden Familien, die heimatvertrieben waren, deshalb hat keiner meiner Spielkameraden bayerisch gesprochen. Also da waren Eltern aus Breslau, aus Riga, aus dem Sudentenland, aus sonst woher.
Gebaut wurde die Siedlung vom Verein „Neue Heimat“…
Genau. Die „Neue Heimat“ hing mit der SPD zusammen, und die Parkstadt war das erste große Wohnprojekt in München, die erste große Siedlung nach Kriegsende. München war ja bis zu 70 Prozent zerstört. Es herrschte eine wahnsinnige Wohnungsknappheit.
Der Bauplatz war frei, weil dort ursprünglich die „Führersiedlung“ entstehen sollte, inklusive Mausoleum für Hitler. War das damals bekannt?
Nein, das habe ich erst vor Kurzem erfahren. Vielleicht wussten es welche, aber damals hat kein Mensch darüber geredet. Die Parkstadt der „Neuen Heimat“ war so ein bisschen ein Vorzeigeobjekt, weil es für die 1950er-Jahre dort wahnsinnig modern war.
Was war dein liebster Ort als Kind?
Boah, schwer. Ich bekam ein kleines Fahrrad, und wir sind aus der Parkstadt raus auf den Donaudamm gefahren. Da war damals eine große Schäferwiese. Da habe ich mich wahnsinnig in ein kleines schwarzes Schaf verliebt und gedacht, das könnte ich doch auf dem Balkon halten (schmunzelt). Fand meine Mutter nicht so eine gute Idee.
Ein paar Jahre später haben wir dort ein altes Bauernhaus entdeckt und das zu unserem Geheimplatz gemacht. Wir sind dann eingedrungen durch den Keller, sind oben rauf, halsbrecherisch auf irgendwelchen Balken balancierend, und haben versucht, „Enid Blyton in der Parkstadt“ zu spielen.
Das waren Zeiten.
Das kann man echt sagen. Es war überall sehr viel mehr Raum, es war noch nicht so eng bebaut.
Es gab auch berühmte Menschen in der Parkstadt …
Hans Jochen Vogel, der spätere Oberbürgermeister, hat in der Beblostraße gewohnt. Mit seiner Tochter Sabine hab ich viel gespielt. Als er Bürgermeister wurde, hat er weiterhin da gewohnt.
Bürgermeister Vogel hat deiner Familie auch auf sehr spezielle Weise geholfen.
Damals wohnten meine Eltern und die Schwester meiner Mutter in der Parkstadt – und dann sollten auch meine Großeltern herziehen. Es war aber sehr schwierig, noch Wohnungen zu bekommen, das war schon 1960. Meine Tante Evi war couragiert, sie hat einfach beim Oberbürgermeister an der Wohnungstür geläutet.
Und dann?
Dann hat sie gesagt: „Wir hatten in unserer Familie einen sozialdemokratischen Abgeordneten, dem ging es ganz schlecht unter den Nazis. Und jetzt brauchen meine Eltern dringend eine Wohnung in der Parkstadt.“ Ich fand das damals irre mutig. Und es hat geklappt. Meine Großeltern durften mit der klitzekleinen Urgroßmutter in ein Hochhaus in der Buschingstraße ziehen.
Unter deinem Pseudonym Teresa Simon hast du den Roman Glückskinder geschrieben, der in Bogenhausen angesiedelt ist. Die Möhlstraße direkt beim Friedensengel spielt darin eine große Rolle. Wie bist du erstmals dorthin gekommen?
Ich war als Schülerin im Max-Josef-Stift, und da hat man sich mehr in Richtung Prinzregentenplatz orientiert. Mit meiner Freundin Daxi haben wir den Friedensengel als Lieblingsplatz erkoren. Und immer, wenn wir was zu besprechen hatten – und wir hatten „sehr“ viel zu besprechen –, sind wir mit den Fahrrädern zum Friedensengel gefahren, haben über die Stadt geschaut und philosophiert. Das hat uns irgendwie so einen anderen Blick auf die Dinge geschenkt. Es ist ein wahnsinnig besonderer Ort, der Friedensengel.
Und die Möhlstraße?
Ich habe als Studentin als Postbotin gejobbt. Da musste ich zwar früh aufstehen, war aber schnell fertig. Und einer meiner besten „Gänge“ war die Möhlstraße. Das dürfte 1974 gewesen sein. Ich hab die Möhlstraße damals empfunden, wie sie ja auch heute aussieht, also als eine ganz verschlafene, ruhige Bogenhauser Idylle, viele Konsulate, viele Zurückgezogene. Als ich mich später mit ihr beschäftigt habe und dieses starke jüdische Erbe kennengelernt habe, konnte ich das mit meinem ersten Eindruck kaum zusammenbekommen. Das merkt man ja kaum, wenn man da heute durchgeht.
Wann hast du erstmals von dieser jüdischen Geschichte gehört?
Das war schon am Ende meines Geschichtsstudiums, zu Beginn der 1980er-Jahre. Aber dass ich jemals einen Roman darüber schreiben würde, das hab ich nicht geahnt.
Was war denn nun diese besondere Geschichte der Möhlstraße?
Die Möhlstraße war nach dem Krieg einer der heißesten Schwarzmärkte in ganz Europa. Dort gab es nichts, was es nichts gab. Auf kleinstem Raum wurde alles angeboten. Die Leute haben es Klein-Jerusalem genannt. Diese Zusammenballung von Menschen und Aktivitäten, das finde ich schon ganz phänomenal. In einer Zeit, wo es nichts gab.
Haben deine Eltern dort auch eingekauft?
Mein Vater war mal dort. Meine Urgroßmutter stammt aus Weiden aus der Oberpfalz und hat dort ein ganz besonderes Brot gebacken, das weder schimmlig noch schnell trocken geworden ist. Dieses Brot hat die Familie durch den Ersten und den Zweiten Weltkrieg getragen. Und mein Vater hat es später in der Möhlstraße gegen Butter getauscht. Das war etwas ganz Besonderes, wer hatte denn 1945 Butter?
Nach deiner Geburt gab es keine Geschäfte mehr in der Möhlstraße, aber Bogenhausen blieb trotzdem jüdischer als andere Teile Münchens …
Das war auch in der Parkstadt sehr charakteristisch. In meiner Volksschulklasse waren vier jüdische Mädchen. Bei meinem Mann zum Beispiel, der in Laim aufgewachsen ist, war kein einziger jüdischer Mitschüler in der Klasse. Und bei uns waren vier jüdische Mädchen.
Wie war das?
Es war irgendwie ganz normal, damit aufzuwachsen. Man hat auch als Kind darüber geredet, zum Beispiel zu Weihnachten. Dann haben die gesagt, wir feiern kein Weihnachten. Was feiert ihr dann? Ja, Chanukka. Da hab ich gedacht, aha, das ist auch ein Lichterfest. Das verstehst du ja schon, auch mit acht oder neun. Das haben andere junge Menschen in München niemals zu hören bekommen, für mich war das ganz normal.
Du bist promovierte Historikerin, hast über 40 historische Romane geschrieben. Wie suchst du dir deine Themen aus?
Hach, das ist eine gute Frage. Irgendwie haben die mich immer gefunden. Manchmal war es ein Wort, manchmal eine Idee, die ich jahrelang in mir hatte. Ich hab mit der kretischen Mythologie angefangen, mich dann übers Alte Ägypten weiter ins Mittelalter gerobbt und bin jetzt im 20. Jahrhundert gelandet. Wobei ich meine Lieblingsepoche, das 18. Jahrhundert, übersprungen habe, was mir sehr leidtut.
Wie war das bei „Glückskinder“? Was war da der Ausgangspunkt?
Das waren die Erzählungen meiner Familie. Als ich ungefähr zwölf war, ist mir aufgefallen, dass der Krieg, von dem die immer am Kaffeetisch geredet haben, erst acht Jahre vor meiner Geburt zu Ende war. Da habe ich angefangen, mich für Geschichte zu interessieren. Vor allem für diese schwere Landung meiner mütterlichen Familie in München, als Heimatvertriebene in Baracken, in denen zuvor die Zwangsarbeiter untergebracht waren. Das hat mich irgendwie nie losgelassen. Und dann hat mich interessiert: Wie war der Start nach 1945 für andere? Für Münchner und für Nicht-Münchner. So kam die Idee mit den Glückskindern.
Wie bist du an das Thema herangegangen?
Zuerst bin ich auf deine sehr kenntnisreichen Arbeiten zur Möhlstraße gestoßen. Und dann habe ich weiter recherchiert. Sehr hilfreich für mich war, dass ich auch Zeitzeugen interviewt habe. Eine ganz große Hilfe war mein Freund Karl Sapper, der 1945 acht Jahre alt war. Er hat mir zum Beispiel diese schöne Geschichte mit dem Gänseschmalz „geschenkt“. Das war wahnsinnig viel wert am Schwarzmarkt, weil das eben auch Juden essen konnten – im Gegensatz zu Schweineschmalz.
Dein aktueller Roman spielt in Italien. Worauf können wir uns in Zukunft freuen?
Ich würde gerne mal zu diesem Begriff von Thomas Mann gehen: „München leuchtete.“ Um 1900, wo die Kunst so weit war, wo es arm und reich gab, wo es wahnsinnige Schnitte in der Gesellschaft gab, aber vor dem Ersten Weltkrieg doch auch ein gewisses Goldenes Zeitalter. Das ist so ein Projekt, was ich schon lange, lange, lange in meinem Herzen bewahre. Das würde mir noch sehr gefallen. Mal schauen …
Zurück nach Bogenhausen. Inzwischen lebst du in Schwabing. Wenn es dich doch mal auf die andere Isarseite zieht, was ist dort dein liebster Ort?
Immer noch der Friedensengel (lacht). Der ist und bleibt in meinem Herzen. An einem Sommerabend der Friedensengel und dann über die Stadt schauen.
Mehr zur Möhlstraße – Artikel zur Dauerausstellung „Maria Theresia 23“:
- Lilly Maier: „Die Möhlstraße – Zentrum jüdischen Lebens im Nachkriegsmünchen“ (24.10.2024)
- Karin Pohl: „Marga und Alex Hochhäuser: Jüdische Displaced Persons in der Möhlstraße“ (23.20.2024)
- Ronen Steinke: „Antisemitsmus – Wie ein Leserbrief voller Judenhass in die SZ kam“ (19.10.2024)